Die neue Sachlichkeit

Bild aus Winshluss' "Anarchismus. Libertäre Theorie und Praxis" (Jacoby & Stuart)

Nicht erst infolge der geteilten Reaktionen auf die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der derzeit grassierenden Pandemie ist von gesellschaftlichen Spaltungstendenzen die Rede. Ob Klimawandel, globale Migration oder das Geschlechterverhältnis, Verkehr & Mobilität, Wohnen oder Erwerbsarbeit; es scheint kaum einen Sachverhalt zu geben, der politisch regelungsbedürftig erscheint, ohne dass die darüber geführte Diskussion tiefgehende gesellschaftliche Konflikte offenbart (oder eben erst hervorbringt). Nüchterne und sachorientierte Stellungnahmen haben es momentan jedenfalls schwer, ausreichend Gehör zu finden.

Die Frage ist, wie es derzeit unter diesen Umständen um das zumindest dem Namen nach sachlichste aller Comicgenres bestellt ist: „Sachcomics“ sind ja keine neue Erfindung, sondern existieren schon seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Will Eisner, der spätere Ahnherr des „grafischen Erzählens“, hat in seinen frühen Jahren als Comiczeichner mit dem Verfassen von Sachcomics für das US-Militär seinen Lebensunterhalt bestritten. Im Bereich der Politik hat dann ab den 1960er Jahren der Mexikaner Rius dem Genre seinen ganz eigenen Stempel aufgedrückt, mit einem damals recht originellen Stil – einer Mischung aus recht einfach gehaltenen Zeichnungen und einmontierten Bild- und Textelementen. In mehr als einhundert Comics beschäftigte er sich aus einer dezidiert linken Haltung heraus insbesondere mit Grundfragen der politischen Theorie und internationalen Politik. Die durch Rius begründete Sachcomicreihe wurde später von anderen Autoren weltweit sehr erfolgreich fortgeführt, in deutscher Sprache sind sie in der Reihe „Infocomics“ bei Tibiapress erschienen. Aber einen so richtig vom Hocker zu hauen vermögen die meisten der Bände heute eher nicht mehr, die ganzen Potenziale des Comicmediums werden kaum abgerufen, irgendwie wirkt alles sehr bemüht und einfallslos.

Winshluss (Zeichner), Vironique Bergen (Autorin): „Anarchmus. Libertäre Theorie und Praxis“.
Jacoby & Stuart, Berlin 2021. 88 Seiten. 12 Euro

Hass auf den Staat

Dass David Vandermeulen, der Herausgeber der „Comicbibliothek des Wissens“ (orig. La petite Bédéthèque des Savoirs), bei der Auswahl der Autor*innen und Zeichner*innen der von ihm und Nathalie van Campenhoudt begründeten Sachcomicreihe diesbezüglich vieles besser gemacht hat, habe ich bereits an anderer Stelle gelobhudelt. Der in diesem Jahr bei Jacoby & Stuart erschienene Band „Anarchismus. Libertäre Theorie und Praxis“ nimmt sich da zunächst nicht aus und verbindet einmal mehr Fachexpertise zum Thema mit einem Experten des grafischen Erzählens: In thematischer Hinsicht zeichnet die promovierte Philosophin Veronique Bergen verantwortlich, der Comicautor und Filmemacher Winshluss (Vincent Paronnaud) übersetzt kongenial in die Sprache(n) des Comic.

Der Band befasst sich mit den verschiedenen Spielarten des Anarchismus, ihren theoretischen (Vor-)Denkern und den Erfolgen und Misserfolgen anarchistischer Bewegungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Herausgestellt wird dabei der entscheidende Einfluss, den die Anarchisten bei den großen revolutionären Erhebungen in den vergangenen zwei Jahrhunderten besaßen, sei es in der Pariser Kommune von 1871, der Mexikanischen Revolution ab 1910, der Russischen Revolution 1905/17 und im Spanischen Bürgerkrieg 1936-39. Das ist alles sehr interessant und informativ und von Winshluss mit anarchischem (Bild-)Witz grandios in Szene gesetzt. Problematisch ist jedoch, dass die historische Niederlage der anarchistischen Idee und ihr weitgehender Bedeutungsverlust einzig mit der gewaltsamen Unterdrückung durch die Herrschenden erklärt und die exzessive Gewaltanwendung anarchistischer Aktivisten dagegen kaum problematisiert wird. Dass sich das radikalisierte Freiheitsversprechen der Libertären heute dagegen eher in extrem rechten, entsolidarisierenden Spielarten der Politik und ihrer Ablehnung staatlicher Herrschaft auf sehr unangenehme Weise Bann bricht, wird gleich ganz ausgeblendet. So bleibt alles in allem ein eher ambivalenter Lektüreeindruck zurück.

Lea Loos: „Widerstand ist zwecklos – Nein!“.
Avant-Verlag, Berlin 2021. 154 Seiten. 16 Euro

Keine Gewalt!?

Der Zusammenhang von Gewalt und politischem Aktivismus ist wiederum das bestimmende Thema in „Widerstand ist zwecklos – Nein!“ von Lea Loos, einer Leipziger Illustratorin, Animationsfilmerin und Grundschullehrerin. Genau genommen geht es in dem Sachcomic um die Frage, auf welche Art und Weise Widerstandsbewegungen eher die Aussicht haben, ihre Ziele zu erreichen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen sind die (fiktiven) Riots in einem Altenburger Pflegeheim, die Loos in einer Art Exposition inszeniert. Die Bewohner des Heimes protestieren gegen den „miesen Saufraß“, der ihnen dort serviert wird, zunächst mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams, später dann jedoch auch deutlich militanter.

Die im folgenden diskutierte Frage lautet jedoch nicht, ob solche gewalttätigen Formen des Protests legitim sind (bzw. unter bestimmten Umständen sein können) oder nicht, sondern einzig ob sie effektiv bzw. zweckdienlich sind: „Ist es wahrscheinlicher durch gewaltsamen Widerstand das Ziel zu erreichen oder durch gewaltfreien Widerstand?“, formuliert entsprechend der Avatar der Comicautorin das Problem. Statt politischer Ethik steht also nüchterne Politics-Forschung auf der Tagesordnung, wobei „politics“ in der Politikwissenschaft für den prozessualen Teil der Politik steht (soll heißen: Formen der politischen Auseinandersetzung und der Durchsetzung von Interessen). Im Folgenden werden dann auch zahlreiche, zumeist US-amerikanische Koryphäen der Politikwissenschaft ins Feld geführt, die sich mal eher theoretisch, mal eher empirisch dem Thema gewidmet haben und zum Schluss kamen, dass der Verzicht auf Gewalt eine wesentlich erfolgversprechendere Proteststrategie darstellt, selbst – und das ist dann doch überraschend – in autoritär-diktatorischen Regimen. Herrscht also in der Beantwortung der Leitfrage bei den Expert*innen und ihren interessanten Begründungen große Einigkeit, poppt dann doch noch so etwas wie Zwist auf, wo es um die Frage der Organisiertheit bzw. Spontanität gewaltfreien Widerstands geht.

Die Idee der Comicautorin, ihr (gezeichnetes) WG-Gemeinschaftszimmer zum Seminarraum umzufunktionieren, in welchem Wissenschaftler*innen, Mitbewohner*innen sowie ihr imaginäres Alter Ego über die Funktionsweise politischer Macht und Methoden des gewaltfreien Widerstands referieren und diskutieren, begleitet von der visuellen Aufbereitung statistischen Materials, geht recht gut auf. Mit einer Prise Humor gewürzt wird der aktuelle Forschungsstand zu gewaltfreiem Protest und Widerstand knapp und verständlich auf den Punkt gebracht. Gut wäre es gewesen, hätte die Comicautorin zumindest einmal kurz für jene ihre Wohnzimmertür geöffnet, die auch die (ethische) Notwendigkeit von Gewaltanwendung – z. B. zum Sturz eines verbrecherischen Regimes – zu diskutieren bereit wären.

Liv Strömquist: „Im Spiegelsaal“.
Aus dem Schwedischen von Katharina Erben. Avant-Verlag, Berlin 2021. 168 Seiten. 20 Euro

What the Fuck(ability)!

Liv Strömquist, gelernte Politologin und Comicmacherin seit früher Kindheit, gilt mit ihren Sachcomics zu gesellschaftspolitischen Themen längst nicht mehr nur als Geheimtipp unter Comicliebhabern. Insbesondere ihr Buch „Der Ursprung der Welt“ (2014/2017), in welcher sie die Kulturgeschichte der Vulva unter den Bedingungen des Patriarchats in kritischer Absicht analysierte, avancierte einerseits zu einem bis heute andauernden Verkaufsschlager und sorgte andererseits für zahlreiche Kontroversen über Strömquists geschickt lancierte Provokationen.

Ihre neueste Veröffentlichung „Im Spiegelsaal“ ist eine gezeichnete Diskursanalyse über Schönheitsideale und -normen seit Beginn des Christentums, mit Schwerpunkt auf unser Schönheitsempfinden in der kapitalistischen Spätmoderne. In der gegenwärtig ausufernden Verfügbarkeit von Bildern (einschließlich der Bilder unserer selbst) und ihrer Bewertung spielen Schönheitsideale eine so bisher so noch nicht gekannte Rolle: Ob Beruf, Sexualität, Partnerschaft, Freundschaft etc. – fast alle Aspekte unseres privaten wie öffentlichen sozialen Lebens hängen (auch) mit der Beurteilung und Bewertung von äußerlichem Erscheinungsbild und Auftreten zusammen. Unter Rückgriff auf namhafte Gesellschafts- und Kulturtheoretiker*innen wie Rene Girard, Zygmund Baumann, Eva Illouz, Susan Sontag und Byung-Chul Han geht Liv Strömquist aus einer feministischen Perspektive diesem Phänomen nach. Dabei verliert sich die Comicautorin nicht in kulturpessimistischen Verfallsdiagnosen der Gegenwart, sondern beleuchtet auch die Möglichkeiten und Handlungsspielräume der spätmodernen (insbesondere weiblichen) Subjekte: Schönheit lässt sich individuell nutzbar machen, z. B. durch Monetarisierung des Begehrens der anderen (siehe das It-Girl-Phänomen), sie ist aber aufgrund ihrer ungleichen Verteilung, ihrer Flüchtigkeit und ihrer rigiden gesellschaftlichen Normierung, die übrigens in Bezug auf Mann und Frau immer schon sehr unterschiedlich ausgefallen ist, zumeist auch eine schwere Bürde. Der eigentliche Gegner, den Strömquist hier mit viel Sach- und Lachkompetenz herausfordert, ist daher nicht unser aller Begehren nach Schönheit, sondern das Patriarchat, das die diesbezüglichen Maßstäbe festgelegt hat.

Diese Kritik erschien zuerst am 31.12.2021 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Hier gibt es ein Interview mit Lea Loos, hier, hier und hier weitere Kritiken zu Strömquists „Im Spiegelsaal“.

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.

Seite aus Lea Loos‘ „Widerstand ist zwecklos – Nein!“ (Avant-Verlag)