Der will nur fressen

Richard Corbens postapokalyptischer Klassiker „Mutantenwelt“ wurde als Gesamtausgabe neu aufgelegt.

Dimento ist ein Mutant. In einer postapokalyptischen Welt treibt ihn nur eine Sache um: sein Hunger. Denn Nahrung ist knapp und muss erst gefunden bzw. erlegt werden. Dabei ist man nicht sonderlich wählerisch. Auf einem seiner Streifzüge begegnet er einer jungen Frau, die ihn letztendlich gehörig anschmiert. Überhaupt: Da Dimento nicht gerade der Hellste ist, lässt er sich ein ums andere Mal von diversen degenerierten und ebenso mutierten Gestalten übertölpeln, vor allem wenn es um Essen geht. Doch er kann auch austeilen, Bei einer weiteren Begegnung mit der Frau macht er seinen Widersachen recht drastisch den Garaus. Schließlich führt ihn sein Weg in ein geheimes Labor, in dem mit Klonen experimentiert wird („Mutantenwelt“).

Jan Strnad (Autor), Richard Corben (Zeichner): „Mutantenwelt Gesamtausgabe“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Gerlinde Althoff. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 160 Seiten. 35 Euro

Jahre Später: Inzwischen hat Dimento eine Familie gegründet und mit Dimentia eine Tochter. Die ist nach dessen Tod gemeinsam mit ihrem zahmen Grizzly namens Ollie auf sich gestellt. Ihr Ziel ist die Insel. Dort lebt eine Gemeinde in einem befestigten Dorf unter der Führung von Max, den wir bereits aus der ersten Geschichte kennen. Hier gibt es nur ein Problem: Eine Mutantenarmee, die von dem schrecklichen Mudhead befohlen wird, will das Dorf stürmen und bereitet einen Angriff vor, der täglich starten kann. Während Max im Dorf den Mut verliert und sich dem drohenden Schicksal ergeben will, müssen sich Dimentia und ihr neuer Freund Herschel im Lager der Mutanten behaupten, denn die haben ausgerechnet Ollie als ihr Maskottchen auserkoren („Sohn der Mutantenwelt“).

„Mutantenwelt“ erschien in einer originalgetreu gesammelten und erweiterten Fassung als Graphic Novel im Jahr 1982 und der Nachfolger „Sohn der Mutantenwelt“ 1990 als fünfteilige Miniserie in Corbens eigenem Verlag Fantagor Press. Hierzulande machte sich v. a. der Volksverlag Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre um Veröffentlichungen Richard Corbens verdient. Dort erschien „Mutantenwelt“ auch 1982, ehe die Story bei Carlsen zehn Jahre später als Band 5 der Reihe „Die phantastische Welt des Richard Corben“, gefolgt von „Sohn der Mutantenwelt“ als Band 6 veröffentlicht wurde. Die aktuelle Splitter-Edition fasst nun beide Geschichten erstmals in einer Gesamtausgabe zusammen. Autor ist Jan Strnad, mit dem Corben gerne und oft zusammenarbeitete. Der mehrfach ausgezeichnete Richard Corben, zuletzt 2018 mit dem Grand Prix in Angoulême, starb letzten Dezember im Alter von 80 Jahren.

Seite aus „Mutantenwelt“ (Splitter Verlag)

„Mutantenwelt“ zeigt in der ersten Hälfte einen Dimento, der sich von Begegnung zu Begegnung hangelt und dabei jedes Mal den Kürzeren zieht. Er selbst wird dabei oft misshandelt und seine Gutmütigkeit regelmäßig ausgenutzt. Als besonders perfide erweist sich ein fanatischer Priester. Aber ehe sich die Episoden wiederholen, kommt das Labor ins Spiel, das der bisher gradlinigen Story einen kleinen Twist verleiht – und damit auch etwas Tiefe. Die Fortsetzung ist dagegen von Beginn an komplexer und stimmiger angelegt, mit einem schon beinahe ins Alberne überzeichneten Unhold und einem ansteigenden Spannungsbogen bis zu dem erwarteten Höhepunkt, bei dem auch die Handlungsstränge aller Figuren aufeinandertreffen. Wodurch der Plot zwar geschlossener, aber auch konventioneller und weniger roh wirkt.

Richard Corbens Zeichenstil ist einzigartig und vielleicht deshalb gar nicht so leicht zu beschreiben. Er schwebt irgendwo zwischen Underground, Realismus und Funny. Seine Figuren sind massiv überzeichnet, mit einem Hauch zum Grotesken. Corbens Frauen haben durchweg gigantische Oberweiten, die nur knapp verhüllt sind, was in Kombination mit Gewaltdarstellungen auch Grund für diverse Volksverlag-Indizierungen seiner Werke in Deutschland gewesen sein mag. Durch die differenzierte Farbgebung, die in „Sohn der Mutantenwelt“ seine Tochter Beth besorgte, erscheinen die Zeichnungen noch ein gutes Stück dynamischer und körperlicher. Der Band enthält neben den beiden Geschichten die Cover der Einzelhefte der „Sohn“-Reihe, eine Galerie, die zeigt, wie Corben und andere für seine Figuren als Vorlage posieren, sowie die beiden Vorworte von Strnad und Corben aus der 1982er-Ausgabe.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Mutantenwelt“ (Splitter Verlag)