Fleischwolf der Hochkultur – Nicolas Mahler

© Luchterhand

Das Werk des österreichischen Zeichners Nicolas Mahler (Baujahr 1969) ist ebenso umfangreich wie vielbeachtet. Mehrmals hat er den Max-und-Moritz-Preis erhalten, außerdem den Deutschen Karikaturen- und den ICOM-Preis. Gerade ist der Band „Nachtgestalten“ von Mahler und Jaroslav Rudiš („Alois Nebel“) bei Luchterhand erschienen. Christian A. Bachmann und Sunghwa Kim haben 2019 zusammen mit der Redaktion des Online-Journals Closure von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eine Aufsatzsammlung über sein Werk veröffentlicht – gerade rechtzeitig zu Mahlers 50. Geburtstag.

Mahler hat seine ersten Comics Ende der 80er Jahre publiziert und erlangte größere Aufmerksamkeit mit „Flaschko. Der Mann in der Heizdecke“ (1999). Hier zeichnete sich schon ab, was später zu seinem Markenzeichen werden sollte: skurrile Titel wie „Kunsttheorie versus Frau Goldgruber“ (2003) oder „Frank Kafkas Nonstop Lachmaschine“ (2014). Die Kombination von Anspruch und Unterhaltung ist schon im Titel programmatisch.

Jaroslav Rudiš, Nicolas Mahler: „Nachtgestalten“.
Luchterhand, München 2021. 144 Seiten. 18 Euro

Mahlers reduzierten, seinen sparsamen, seinen minimalistischen Strich haben Journalisten immer wieder und wieder hervorgehoben – und wer die Zeichnungen sieht, wird verstehen, was die Verfasser meinen. An dieser Beobachtung stört sich Herausgeber Christian A. Bachmann, denn Mahler lasse „nicht bloß etwas weg, er verdichtet“ und konzentriere die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Wesentliche: Man kapiert Mahler schnell. Besser verstehen kann man ihn nach der Lektüre der Essays, die Bachmann und Kim zu Mahlers Geburtstag gesammelt und online frei verfügbar gemacht haben.

Das Projekt ging aus einem Workshop an der Ruhr-Universität Bochum im Februar 2018 hervor. Während die Koreanerin Sunghwa Kim bei den Flügen für dieses Projekt ordentlich Flugmeilen gesammelt hat, wurde Herausgeber Christian A. Bachmann vor andere Probleme gestellt: „Die Mahler-Bücher füllen jetzt in etwa ein Regalbrett – aber ich gebe sie nicht mehr her.“

Angela Guttner, eine der Autorinnen des Bandes, hat Nicolas Mahler im Rahmen des 18. Erlangener Comicsalons 2018 getroffen, um mit ihm unter dem sympathischen Titel „Es geht eh immer um die Wurst“ über E- und U-Kultur („So richtig beschäftigen tut mich das Ganze eigentlich nicht“), über Comic-Förderinstrumente („Das ist ein schwieriges Thema“) und über die Frage, ob seine Comics ‚Literaturcomics‘ seien („Wie man das nun nennt, ist mir eigentlich egal“), zu sprechen. Er wolle sich dem Original nicht unterordnen und so sind mit seinen Literaturadaptionen eben auch sehr freie Kunstwerke entstanden: „Ich nenn das Verwurstung. Man presst alles Mögliche so in einen Wurstdarm hinein und hofft, dass es schmeckt.“ Und Mahler bleibt in der Metzgermetaphorik, wenn er über seine Comics spricht: „‚Flaschko‘ Band 3, das war so eine finanziell bedingte Wurst, die ich habʼ rauspressen sollen.“

Wie hält Mahler es eigentlich mit der Literatur? Immerhin handelt es sich bei mehreren seiner Bände um Literaturadaptionen: „Der Mann ohne Eigenschaften“ (2013) beruht auf dem Roman von Robert Musil, „Alte Meister“ (2011) auf Thomas Bernhard, „Alice in Sussex“ (2013) auf Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ und zugleich H. C. Artmanns „Frankenstein in Sussex“. Mahler hat also eine Vorliebe für österreichische Autoren. Und für dicke Schinken – dass er auch Marcel Prousts 5.000-Seiten-Wälzer „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auf 174 Seiten gekürzt (pardon: verdichtet) hat, macht Mahler zum Fleischwolf der Hochkultur.

Seite aus „Nachtgestalten“ (Luchterhand)

Mehrere seiner Bücher hat Mahler als Gedichtsammlungen bezeichnet: „dachbodenfund“ (2015) oder „in der isolierzelle“ (2017). Monika Schmitz-Emans hat sich nun Mahlers Verhältnis zu dem österreichischen Lyriker Ernst Jandl, den manche als Autor von ottos mops kennen mögen, angesehen. Sie spürt einer verborgenen Nachbarschaft beider Künstler nach: Sie teilen den Wiener Humor, ein Faible für das Überschreiten von Gattungsgrenzen und die Liebe zu Reduktion und Pointierung. So stellt sie das Dialektgedicht Mahlers „belauschtes Gedicht Im Supermarkt am 12. Mai 2004“ (Zielpunkt) aus „Längen und Kürzen“ (2009) neben Gedichte Jandls und beobachtet bei beiden den „Dialekt als poetische Ressource“.

BELAUSCHTES GEDICHT IM
SUPERMARKT AM 12. MAI 2004
(ZIELPUNKT)
i hätta liaba
a blonde
kassierin
so fongt des
scho amoi
o

Robin-M. Aust stellt solche Texte, in denen Mahler Alltäglich-Vorgefundenes zum Kunstwerk stilisiert, in einen Zusammenhang mit Marcel Duchamps Konzept vom readymade. Duchamp hatte 1917 ein auf den Kopf gestelltes Pissoir zur Fontäne erklärt, Mahler hat in „Spam“ (2009) ein Best-of der Intimzone seines E-Mail-Postfachs zusammengestellt:

„Iʼd be scared too if my
dick was that small.“

Die beiden Herausgeber/innen, Christian A. Bachmann und Sunghwa Kim, sowie die Autor*innen dieser Closure-Ausgabe haben Nicolas Mahler ein schönes Geburtstagsgeschenk gemacht. Mahler hat sich bei Facebook dafür bedankt, und lässt außerdem seine Follower darüber abstimmen, welcher der Aufsätze den „bachmannpreis“ gewinnen solle.

Für „Nachtgestalten“ hat Mahler sich mit dem tschechischen Autor Jaroslav Rudiš zusammengetan, der neben diversen Romanen (zuletzt „Winterbergs letzte Reise“, 2019) auch den Comic „Alois Nebel“ (mit Jaromir 99) geschrieben hat. Aus einer Kneipenlaune heraus, so berichten beide im Interview, ist dieser Band entstanden. „Nachtgestalten“ ist vordergründig eine nächtliche Kneipengeschichte zweier Freunde, die ihr Inneres preisgeben, tatsächlich aber ein Dialog über Ethik, Geschichte und die Absurdität des Menschlichen. Heute Abend, am 15. März, bietet das Literaturhaus Stuttgart eine Online-Veranstaltung zur Premiere an, moderiert von Andreas Platthaus.

Dieser Text erschien erstmals (mit geringen Änderungen) in der Comixene #133 (2019).

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Nachtgestalten“.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.