Anti-Psychiatrie trifft Science-Fiction

© Camera Obscura

Science-Fiction nicht als Feier der Technik, sondern als Einladung zum surrealen Traum. Auf dem Planeten Ygam halten sich die riesenhaften blauen Draags Menschen als possierliche Haustiere, an deren Mätzchen sie sich herablassend erfreuen. Einem der Menschen, dem Jungen Ter, gelingt die Flucht, nachdem er das immense Wissen der Draags angezapft hat. Wie einst Prometheus bringt er den versprengt im Unterholz lebenden, wilden Menschen die Waffe des Wissens und zettelt damit eine Revolte an.

1973, wenige Jahre nach dem thematisch ähnlich gelagerten Klassiker „Planet der Affen“, atmet René Lalouxs auf Stefan Wuls Roman „Oms en Série“ basierender Animationsfilm den Zeitgeist der Emanzipation: Es war das kurze Zeitfenster, als Science-Fiction zum erwachsenen Genre reifte und Bündnisse mit der Gegenkultur einging – bevor „Star Wars“ es wieder infantilisierte.

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Die humanistische Botschaft war Laloux eine Herzensangelegenheit: Der Filmemacher hatte keine klassische Künstlerbiografie, sondern kam über seine Arbeit in einer von Félix Guattaris psychiatriekritischen Schriften geprägten Klinik zum Film, wo er mit den Patienten in kreativen Workshops Legetrickfilme erstellte. So kam es zum Bündnis mit Roland Topor, dem anarchischen Schriftsteller und Karikaturisten, der in den Sechzigern mit dem chilenischen Filmemacher Alejandro Jodorowsky und dem spanischen Surrealisten Fernando Arrabal die Panik-Bewegung gründete.

Topors schier unerschöpflicher Fantasie verdankt „Der wilde Planet“ seine bis heute anhaltende Faszinationskraft. Inspiriert von Art Nouveau, tschechischen Bilderbüchern und den bizarren Bildwelten des Surrealismus, gestaltete er die Welt von Ygam als rätselhaftes Spektakel: Immer wieder schweift der Blick in die sonderbare Flora und Fauna des Planeten, bleibt er an den fantastischen Details der Welt der Draags hängen, die sich bei ihren Meditationsriten in psychedelische Farb- und Formenspiele auflösen.

Alan Goraguers atmosphärischer, fiebrig-jazziger Soundtrack sowie die zwischen klassischer Animation und dem naturgemäß statischer wirkenden Legeverfahren changierende Tricktechnik – umgesetzt in den Studios der tschechischen Trick-Legende Jibí Trnka – tun ihr Übriges, um die Welt von Ygam konsequent unserer Realität zu entrücken.

Die Jury der Filmfestspiele in Cannes prämierte dieses besondere Filmerlebnis seinerzeit mit einem Sonderpreis. Seitdem entwickelte sich „Der wilde Planet“ zum Kultfilm, hierzulande insbesondere durch einige Fernsehausstrahlungen in den siebziger und achtziger Jahren, die aus dem Film unter damaligen Fans eine flüchtige, schwer greifbare Kindheitserinnerung machten. Dank einer reichhaltig ausgestatteten Edition des ansonsten auf derbes Italo-Kino spezialisierten Sammlerlabels Camera Obscura lassen sich diese verschwommenen Erinnerungsbilder auf Grundlage einer auch farblich brillanten Blu-ray-Restaurierung endlich wieder auffrischen.

Diese Kritik erschien zuerst am 27.09.2018 in: Der Tagesspiegel

Der wilde Planet
La Planète sauvage
Frankreich, Tschechoslowakei 1973

R: René Laloux – D: Stefan Wul, Roland Topor, René Laloux – P: Anatole Dauman – M: Alain Goraguer – 72 Min. – Blu-ray: 26.11.2018 (Camera Obscura)

Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.