Fata Morgana in der Alltagswüste

© Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag

Von der in diesem Bereich kaum aufgearbeiteten nationalsozialistischen Vergangenheit einmal abgesehen, sind es vor allem drei Kobolde, die über zwanzig Jahre die Leserinnen und Leser der Deutschen Demokratischen Republik monatlich im Heft „Mosaik“ unterhielten und auf den Namen Dig, Dag und Digedag hörten. Als 1975 der Vertrag zwischen dem Urheber der Figuren Hannes Hegen, mit bürgerlichen Namen Johannes Hegenbarth, und dem Verlag Neues Leben endete, verschwanden die drei kleinen Helden in einer Fata Morgana, einem Traumbild. Der letzte Satz lautet lapidar: „Die Digedags waren daheim.“

Diese fein formulierte Poetik des Comics hinterließ bei den damaligen Fans einen Schock, der durch die Fortsetzung mit den drei Abrafaxen kaum je überwunden wurde. Und so geisterten viele, sehr unterschiedliche Gerüchte über die Gründe für das abrupte Ende der Ära Hegen herum – wie überhaupt über die Drangsalierung des Comic-Heftes durch staatliche Stellen, Chefredakteure, die in der Partei waren, und Pädagogen, die „in grundsätzlichen Erziehungsfragen keinen Spaß verstehen“, eine der vielen Formeln für die Forderung nach einem Verbot des „Mosaik“. Mit seinem Buch „Die geheime Geschichte der Digedags“ beendet Mark Lehmstedt alle Gerüchte.

Mark Lehmstedt: „Die geheime Geschichte der Digedags. Die Publikations- und Zensurgeschichte des Mosaik von Hannes Hegen 1955-1975“.
Lehmstedt Verlag, Leipzig 2011. 430 Seiten. 24,90 Euro (nur noch antiquarisch erhältlich)

Die Ergebnisse einer 20-jährigen Recherche

Entstanden in einer zwanzigjährigen Archiv- und Recherchetätigkeit darf der Kulturhistoriker Lehmstedt beanspruchen, für die Publikationsgeschichte des „Mosaik“ das für lange Zeit verbindliche Standardwerk vorgelegt zu haben. Materialreich, mit ausführlichen Quellenzitaten und auf der Basis zahlreicher Interviews puzzelt Lehmstedt die Geschichte des beliebtesten DDR-Comics zusammen. In seiner Einteilung der Phasen des Magazins bleibt er dem bekannten Wissen treu: Die holprige Gründungsphase 1955-57, die Zeit, in der „Mosaik“ immer wieder auf dem Prüfstand kam, weil es den Zeitgenossen und Kadern der Partei nicht pädagogisch wertvoll genug erschien (1958-1963), bis zur dritten und längsten Phase von 1964 bis 1975, in der die beiden „großen humoristischen Bildromane“ mit Ritter Runkel und der Amerika-Serie erschienen – zu einem Zeitpunkt, als noch niemand von der Graphic Novel sprach.

Hannes Hegen vermochte es nicht nur, für sich exzellente Bedingungen auszuhandeln, als der dem Verlag Neues Leben den Vorschlag für eine Bilderzeitschrift unterbreitete, er konnte auch erwirken, dass das Heft von einem Kollektiv mit über zwölf Mitarbeitern produziert wurde, das dadurch in seiner grafischen Qualität den Vergleich mit dem großen Vorbild der Studios Hergé nicht zu scheuen brauchte. Wer sich „Fix und Foxi“ und den ganzen Rest der westdeutschen Produktion von 1955 bis 1975 anschaut, wird schnell erkennen, wie überlegen die DDR-Produktion war. Damit einher ging ein kommerzieller Erfolg, der Hegen und seine Leute immer wieder vor möglicher Zensur, Veränderung des Heft-Konzeptes oder gar dessen Einstellung schützte.

Dabei listet Lehmstedt nicht nur die Gehälter der Zeichnerinnen und Zeichner auf – und erwähnt Hegens meist zehnmal so hohes Einkommen –, sondern benennt auch die exorbitanten, dreißig Mal höheren Gewinne, die das Mosaik erzielte. Seit das Heft beim FDJ-Verlag Junge Welt erschien, finanzierte es die weniger erfolgreichen, propagandistischen Hefte. Wenn nichts anderes, argumentierten diese Zahlen überzeugend für Hegens Klamauk.

Der Comic hält den Spiegel vor

Lehmstedts Buch liest sich wie eine Geschichte der DDR im Spiegel der Comics, denn die Auseinandersetzungen über das „Mosaik“ waren immer auch Zeichen einer gesamtgesellschaft­lichen Situation. Lehmstedt versteht es, diese komplexen Zusammenhänge elegant zu erzählen und dabei die einzelnen, für die Geschicke des Heftes so wichtigen Akteure insbesondere innerhalb der FDJ (Freie Deutsche Jugend), in deren Verlag Junge Welt das Heft von 1960 an erschien und die weniger erfolgreichen Heftserien finanzierte. Die einzelnen Vorgänge und redaktionellen Diskussionen werden anhand der Protokolle einzelner Sitzungen berichtet, sodass ein plastisches Bild entsteht, unter welchen Umständen die Digedags produziert wurden, wenngleich der Detailreichtum der Schilderung wie manche Wiederholung gelegentlich die Lektüre ermüden.

Anderseits kann Lehmstedts Akribie auch als aufklärerische Arbeit gegen die fortgesetzte Mythisierung dieser Comics gesehen werden. „Die geheime Geschichte der Digedags“ ist in dieser Hinsicht ein exzellentes Nachschlagewerk für die jeweiligen Vorgänge, bei denen nur das im Dunkeln bleibt, was nicht protokolliert wurde oder keiner der Beteiligten erinnert.

Dieses Verfahren wird besonders in Bezug auf das Ende der Serie unter Hannes Hegen bedeutsam. Lehmstedt weist nach, dass es nicht übertriebene Forderungen vonseiten des Verlags waren, die seine künstlerische Leitung beendeten, sondern vor allem die Renitenz des Zeichners, der nach 20 Jahren nur noch alle zwei Monate ein Heft herstellen wollte. Das war finanziell, aber auch vom Publikum her dem Verlag nicht vorstellbar. Hegen hatte bei vielen Verhandlungen zuvor die Erfahrung gemacht, dass er und seine Figuren gebraucht würden – doch 1975 hatte sich das Blatt gewandelt. Das Kollektiv wusste nach zehn Jahren sehr stabiler Zusammenarbeit, wie Comic-Hefte zu produzieren wären, und so konnte sich der Verlag von Hegen trennen.

Kobold-Humanismus gegen Parteimachenschaften

Hegen kämpfte noch mehrere Jahre um sein Urheberrecht, weil er in den neuen Figuren Abrax, Brabax und Califax verständlicherweise ein Plagiat seiner drei Digedags erkannte, eine Auffassung, der sich das Gericht nicht anschloss. Hegens Behauptung, das Kollektiv der Zeichner, Texter und Koloristen hätte nur seine Anweisungen ausgeführt, denunziert Lehmann angemessen, allerdings ohne zu erklären, warum die Abrafaxe niemals die Qualität und erzählerische Dichte der Digedags erreicht haben, geschweige denn einen Mythos gebildet hätten.

Sicherlich liegen die Gründe außerhalb von Lehmstedts Gegenstand, der die ästhetischen Entscheidungen wie den Inhalt der Erzählungen kaum diskutiert, die für die Beantwortung solcher Fragen aber unerlässlich wäre. Gleiches gilt für die formalen Wechsel im Heft von Sprechblasen zu Texten unter den Bildern und zurück zu Sprechblasen, mit denen indirekt auf die Schmutz- und Schunddebatten reagiert wurde. Immerhin lässt sich der Erzählung des Kulturhistorikers entnehmen, dass sich der Humanismus der Kobolde, ihre unbedingte Parteilichkeit für alle Kleinen, die Armen und Unterdrückten, und ihre Gewitztheit, wie sie die beiden großen Bildromane durchdringt, als Antwort lesen lässt auf die Auseinandersetzungen mit dem Parteiapparat. Das Mosaik-Kollektiv mit Hegen als künstlerischem Leiter präzisiert in den schwierigen Jahren um den Berliner Mauerbau die Poetik ihrer Figuren. So konnten sie im Zeitgeschehen zeitlos werden, unsterblich im Kosmos der Comics, daheim in der Fata Morgana, die jeder Comic in der Wüste unseres Alltags bildet.

Diese Kritik erschien zuerst am 14.12.2011 auf: CulturMag

Ole Frahm, 1967 geboren, ist Mitbegründer der Arbeitsstelle für Graphische Literatur (ArGL) an der Universität Hamburg, Mitglied der Künstlergruppe LIGNA und des Freien Senderkombinats (FSK) Hamburg und lehrt in Hamburg, Lüneburg und Kiel. Er hat zahlreiche Aufsätze und Rezensionen zum Comic veröffentlicht und mit einer Arbeit über Art Spiegelmans „Maus“ promoviert.