Marc-Antoine Mathieu führt uns in die Gedankenwelt eines Wachkomapatienten, Julian Voloj und Erez Zadok zeichnen nach, wie übel dem Batman-Miturheber Bill Finger hinter den Verlagskulissen mitgespielt wurde, Liam Francis Walsh und Kat Leyh debütieren in deutscher Übersetzung mit originellen Jugendcomics, und die Teenage Mutant Ninja Turtles wurden bis auf den letzte Ronin dezimiert. Eindrucksvolle, liebenswerte, diskutable Phantastik-Comics der letzten Monate.
Marc-Antoine Mathieu: Deep Me
Der französische Comiczeichner Marc-Antoine Mathieu ist der Architekt und Erneuerer des Comics. Das gilt seit seinen 1990 begonnenen Erzählungen um die Figur Julius Corentin Acquefacques, Mathieus K, dem, wenn man so will, stets ein Element der Semiotik des Comics zum Verhängnis wird und ihn in ein kafkaeskes Szenario befördert. Acquefacques ruht schon seit einigen Jahren, aber das Spiel mit den Bausteinen des Comics ist weiterhin Mathieus Leidenschaft (weswegen sich seine stattdessen etwas plakativer auf Religions- bzw. Medienkritik setzenden Werke „Gott höchstselbst“ und „3 Sekunden“ auch nicht so recht ins Oeuvre fügen). In „Deep Me“ geht es um die Sprache. Es ist eine Erzählung in Dunkelheit, wir befinden uns im Kopf des Wachkomapatienten Adam und finden mit ihm heraus, was ihn in diese Lage versetzt hat. Er kann nichts sehen, nur hören, was um sein Bett herum gesprochen wird. Darum spielt sich der Großteil der Erzählung in schwarzen Panels mit Sprechblasen ab, deren Sprecher sich mithilfe der Fonts voneinander unterscheiden lassen. Das ist kein neues Erzählprinzip – Winsor McCay hat es in „Little Nemo in Slumberland“ bereits vorweggenommen (wie praktisch jede comicmediale erzählästhetische Idee), Uderzo und Goscinny haben es sehr lustig in „Asterix – Die große Überfahrt“ eingesetzt –, neu ist hingegen die epische Radikalität in Verbindung mit dem Zentralmotiv Angst: Angst vor der Verlust der Erinnerung und des Ichs, Angst vor der Unwissenheit, ob dieser Zustand ewig sein wird, Angst vor Schmerzen, weil das Ausmaß seines Bewusstseinszustands und Wahrnehmungsapparats medizinisch unerkannt bleiben, Angst vor der Einsamkeit, schließlich die Angst davor, dass er sich womöglich gar nicht in einem Krankenhaus befindet. Warum vernimmt Adam nach unzähligen Tagen das Knallen von Sektkorken? Mischt sich etwa Gelächter unter die Stimmen? Warum insistiert seine Freundin so unnachgiebig auf die Zugangsdaten zu seinem Bankkonto? Im Plottwist des letzten Drittels lenkt Mathieu die Story ins Gebiet der Science Fiction, was, so viel sei verraten, der Angst nichts an Intensität nimmt, im Gegenteil.
Marc-Antoine Mathieu: Deep Me • Reprodukt, Berlin 2023 • 120 Seiten • Hardcover • € 24,00
Julian Voloj, Erez Zadok: Bill Finger. Der wahre Schöpfer des Dunklen Ritters
Julian Voloj schrieb bereits die Comicbiografie „Joe Shuster – Der Vater der Superhelden“ über den titelgebenden Superman-Miterfinder. Nun folgt mit „Bill Finger – Der wahre Schöpfer des Dunklen Ritters“ der lange unterschlagene Urheber der lukrativsten Marke im DC-Programm. Bill Finger ist, das wissen wir heute, der Mit-Urheber von Batman; er entwickelte den Fledermaus-Look, praktisch alle relevanten Antagonisten, Konzepte und Hintergrundgeschichten und schrieb vom ersten Auftritt bis in die 1960er die wichtigsten Batman-Abenteuer. Aber im Gegensatz zu Zeichner Bob Kane, der sich als das strahlende Gesicht hinter dem Franchise über Jahrzehnte in Szene setzte und ein luxuriöses Leben führte (gleichwohl ihm fast 15 Jahre vom heimlich beschäftigten Ghost Artists Sheldon Moldoff zugespielt wurde), starb Finger 1974 verarmt und allein in seiner kleinen Wohnung in Manhattan.
Der Comic dokumentiert u. a. die Skrupellosigkeiten Kanes, um Fingers Autorenschaft zu bagatellisieren, und es ist den jahrelangen Bemühungen des Finger-Biografen Marc Nobleman zu verdanken, dass Finger seit 2016 in Batman-Publikationen, -Filmen und -Spielen neben Kane kreditiert wird. Fingers Enkelin Athena, von Nobleman ausfindig gemacht und unterstützt, wagte den Prozess gegen den Megakonzern Warner und gewann.
Volojs Comicbiografie zeichnet Noblemans akribische Recherchearbeit nach (was auch für Historiker sehr lehrreich ist) und verknüpft selbige in zwei weiteren Erzählsträngen mit Bill und Athena Fingers Leben. Ein Verbrechensbekämpfer als thematischer Gegenstand schreit förmlich nach Analogien, und so sind manche Sequenzen in Batman-ikonografischem Stil – etwa wenn sich Bob Kane im Pinguin-Look als alleiniger Batman-Schöpfer ausruft – wohl dazu da, Noblemans Gerechtigkeitssinn ästhetisch zu duplizieren. In Zusammenhang mit Bob Kanes Täuschung der Öffentlichkeit und manipulativen Selbstinszenierungen auf Fingers Kosten mildern sie jedoch die angebrachte Empörung. Das erinnert an die hektische Hulu-Dokumentation „Batman & Bill“ (2017), die den Fall Finger mit Nobleman im Mittelpunkt ähnlich aufrollt und Voloj viel Material lieferte. Darin gibt es zwar mehr Informationen, aber kein formales Vertrauen in die Rezipient*innen.
Julian Voloj, Erez Zadok: Bill Finger. Der wahre Schöpfer des Dunklen Ritters • Carlsen, Hamburg 2023 • 136 Seiten • Hardcover • € 24,00
Kevin Eastman, Peter Laird u. a.: Teenage Mutant Ninja Turtles – The Last Ronin
Seth Rogen bringt die Turtles als Animationsfilm in für heutige Sehgewohnheiten vermutlich bereits mutiger Ästhetik wieder in die Kinos und der Splitter Verlag die Comics in die Buchläden. Und man hat, buchstäblich, Großes vor. Der letzte Versuch, die Turtles auf dem deutschsprachigen Markt in Buchform zu lancieren, endete 2016 nach zehn (mit einer Ausnahme) 100seitigen SC-Ausgaben mit einem vorzeitigen Serienabbruch bei Panini. Splitter wird dieses Material wieder verfügbar machen, und noch weitaus mehr: Geplant ist ist die vollständige Übersetzung der US-amerikanischen, zurzeit 15 Bände umfassenden IDW Collection, die den gesamten 2011 gestarteten und weiterhin fortlaufenden IDW-Run enthält, samt aller Spin-offs, in chronologischer Reihenfolge und in Form 400 Seiten dicker Hardcover-Brocken. Diese Edition beginnt im Dezember und wird im dreimonatlichen Turnus fortgesetzt. Zum Vorglühen lädt aber nun schon „The Last Ronin“, eine parallel zur US-Veröffentlichung erscheinende, also ganz aktuelle und auf ins Turtles-Verse Uneingeweihte zugeschnittene Story, in der der letzte lebende Turtle in einer klapperschlangig postapokalyptischen Welt den Okami gibt, seine gemeuchelten Brüder zu rächen. Grimmig wie Millers erster „Dark Knight“, nur ohne satirische Hochstimmung. Statt der monotonen Begeisterungsskala, die der sich allein durch seine Prominenz fürs Vorwort legitimierende Regisseur Robert Rodriguez abspult, hätte man sich lieber ein paar comic-historische Überlegungen gewünscht, aber es gibt freilich Schlimmeres, als Freude in die Welt zu setzen.
Kevin Eastman, Peter Laird, Esau & Isac Escorza u. a: Teenage Mutant Ninja Turtles – The Last Ronin • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 224 Seiten • Hardcover • € 35,00
Moga Mobo #117: Im Osten nichts Neues
Die täglichen Katastrophenmeldungen infolge des Klimawandels, der Flirt des Kapitalismus mit autokratischen Regierungsmodellen, der scheinbar zementierte Abgrund zwischen Arm und Reich mit all den Privilegien und Extravaganzen, die dies letzteren ermöglicht, der globale Marsch durch die Institutionen vonseiten rechter Parteien und Schreihälse und nicht zuletzt Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, der von Putin im faschistischen Jargon und mit faschistischen Methoden vorangetrieben wird und all diese Entwicklungen nochmals beschleunigt, haben den gesellschaftspolitischen Krisenmodus zum Alltag werden lassen. Die Gegenwart hat die Schreckensbilder von der Zukunft, die uns die Science Fiction verlässlich lieferte und weiterhin liefert, in Teilen eingeholt, weshalb im Umkehrschluss mehr denn je eine der Aufgaben der kritischen Science Fiction darin bestehen wird, diese Gegenwart zu kommentieren, zu analysieren, zu evaluieren, sich an ihr abzuarbeiten, will sie sich nicht in Eskapismus und Franchise-Liebe selbst abschaffen. In diesem Sinne empfehle ich die 117. (!) Ausgabe des Berliner „Moga Mobo“-Magazins, in der 22 ukrainische Comiczeichner*innen Bilder für (nicht nur) den Ukrainekrieg finden und eine Gegenwart beschreiben, die vor wenigen Jahren noch als bedrückende Flaschenpost der Science Fiction gegolten hätten. Man findet das Heft gratis (!!) in vielen Comicshops oder kann es für einen geringen Unkostenbeitrag unter diesem Link bestellen.
Stephen King, Bernie Wrightson: Der Werwolf von Tarker Mills
Kein Comic, sondern ein illustrierter Kalenderroman von Stephen King, dafür mit Bernie Wrightson von einem der Besten und Penibelsten gezeichnet, die das Medium hervorgebracht hat. 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung bringt der Splitter Verlag Kings Kleinstadt-Werwolf-Story als großformatiges Hardcover-Buch erneut in den Handel. Die Liaison King/Wrightson nahm im „Creepshow“-Comic (von Splitter 2021 ebenfalls im bibliophilen Gewand wiederveröffentlicht) ihren Anfang. Beim „Werwolf“ war sie schon eine stabile Ehe. Und besser wurde Wrightsons Arbeit hierzulande noch nie präsentiert, den Taschenbuchausgaben aus den 80ern und 90ern sind die vergrößerten Reproduktionen der Neuausgabe deutlich überlegen. Und auch Kings süffisante Kritik an Kirchenmoral und Lynchjustiz hält der Gegenwart erschreckend souverän stand.
Stephen King, Bernie Wrightson: Der Werwolf von Tarker Mills • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 136 Seiten • Hardcover • € 25,00
Liam Francis Walsh: Red Scare
Und von den echten 80ern aus Kings Roman noch ein paar Jahrzehnte weiter zurück; ein historisches Genre-Tableau einer-, Gegenwartsdiagnose andererseits: Der New Yorker Cartoonist Liam Francis Walsh hat seine auf jugendliche Leser*innen zurechtgeschnittene Graphic Novel „Red Scare“ ebenfalls in einer US-amerikanischen Kleinstadt situiert, auf dem Höhepunkt der Kommunismus-Paranoia der McCarthy-Ära. Die artikuliert sich nicht mehr verklausuliert in Gestalt außerirdischer Invasoren, auch zu Apokalypse-Boten mutierte Fauna gibt’s keine. Das tiefe Misstrauen untereinander und die sehr manifeste Zukunftsangst, die das Zusammenleben prägen, genügen hier völlig für eine schauderhafte Stimmung. Die Bezüge zum heutigen Amerika (und letztlich allen Staaten, die in die Faschisierung abdriften) sind eindeutig. Das zeigt Hergé-Adept Walsh im fachkundigen Neo-ligne-claire-Stil. Irgendwann formiert sich in der latent brutalen Atmosphäre unter den Augen der Polizei ein Mob, der dem neuen Nachbarn ans Leben will. Und mittendrin: die an Kinderlähmung erkrankte junge Schülerin Peggy, die mithilfe eines geheimnisvollen Leuchtstabs aus dem Koffer eines dubiosen Fremden fliegen kann. Wie ein Superheld diese Fähigkeit aber lieber im Verborgenen hält. Den Spott im Schulalltag muss sie weiterhin ertragen. An sie haften sich wiederum gewissenlose Regierungsmitarbeiter, hinter dem Stab den Gamechanger im Kampf der Gesellschaftssysteme vermutend. Das ist der Phantastik-Anteil dieser postmodernen Parabel, die sich den Leiden und Ängsten der Außenseiter in rechten Zeiten verschrieben hat.
Liam Francis Walsh: Red Scare • Toonfish, Bielefeld 2023 • 240 Seiten • Hardcover • € 39,95
Neil Gaiman, Colleen Doran: Die Trollbrücke
Die nächste Ergänzungslieferung zur locker vom Splitter und Dantes Verlag zusammengetragenen „Neil Gaiman Library“: „Die Trollbrücke“ ist nach „Snow, Glas, Apples“ und „Ohne Furcht und Tadel“ die dritte Zusammenarbeit zwischen Gaiman und Colleen Doran und erneut ein visuelles Juwel. Wie schon „Ohne Furcht und Tadel“ ist auch „Die Trollbrücke“ eine Kurzgeschichtenadaption aus Gaimans Erzählsammlung „Die Messerkönigin“. Vom leichten Ton des Vorgängers ist hier nichts mehr zu spüren. Ein Junge trifft bei seinen Streifzügen durch Wald und Wiesen auf einen hungrigen Troll, dem er nur mithilfe des Versprechens entkommen kann, ihn in einigen Jahren mit mehr Lebenserfahrung abermals aufzusuchen. Das tut er auch, allerdings mit seiner ersten großen Liebe als Faustpfand.
Am Ende von „Ohne Furcht und Tadel“ haben beide Figuren gekriegt, was sie wollten. Das ist auch hier so. Aber niemand ist deswegen glücklicher. Ein schmerzhaft ehrliches Coming-of-Age-Märchen.
Neil Gaiman, Colleen Doran: Die Trollbrücke • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 64 Seiten • Hardcover • € 18,00
Dan Wetters, Dev Pramanik: Der Mann, der vom Himmel fiel
Ob in Walter Tevis‘ Roman (1963) oder Nicolas Roegs brillanter Verfilmung mit David Bowie (1976): Das Fremde, das Andere, das Nicht-Identische ist in beiden Werken verhängnisvoll, Vernunft trifft auf die Konkurrenz im Kapitalismus als höchsten Ausdruck menschlicher Gewalt und zieht den kürzeren. Ein Alien landet auf der Erde, weil es für seinen sterbenden Heimatplaneten Wasser benötigt, gründet dank seines überragenden Intellekts ein High-Tech-Milliardenunternehmen und verzweifelt an den Menschen, die ihm, nachdem es sich als Alien zu erkennen gibt, alles nehmen: die Würde, die körperliche Unversehrtheit, das Geld und damit auch die einzige Möglichkeit, irgendwann zu seinem Heimatplaneten zurückzukehren. So wird es nach jahrelangen quälenden Untersuchungen in eine Welt der Raubtiere verbannt, vor deren Brutalität nur noch die Träume ein Refugium bieten. Roegs Film ist anspielungsreich, führt bewusst ins Leere, ist assoziativ-philosophisch. „Man muss jederzeit gewärtigen, dass einem ein Film von Roeg um die Ohren fliegt“, schrieb mal Dominik Graf. Da kann Dev Pramaniks Comic nicht mithalten und strandet oft beim Pathos, wo er Verzweiflung und Einsamkeit evozieren will. Aber verwegene künstlerische Absichten können ja auch beim Scheitern einen eigenwilligen Reiz entfalten.
Dan Wetters, Dev Pramanik: Der Mann, der vom Himmel fiel • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 128 Seiten • Hardcover • € 25,00
Kat Leyh: Snapdragon
Ein neuer Titel in der Kindercomic-Sparte des Reprodukt Verlags. Die Chicagoer Zeichnerin Kat Leyh ist vor allem als Co-Autorin von „Lumberjanes“ und für „Thirsty Mermaids“ – einer Graphic Novel über trinkfeste Meerjungfrauen, die sich besoffen an Land in die Menschenwelt zaubern, aber die Rückwärtsvariante vergessen haben – bekannt, hierzulande ist sie eine Entdeckung. In „Snapdragon“ führt sie mit Versatzstücken des magischen Realismus durch eine sympathische Story um das junge Mädchen Snap, die herausfindet, dass die im Wald lebende alte Dame Jacks, vor der sie alle warnen, wohl nur eine vermeintliche Hexe ist – oder zumindest keine von der bösen Sorte. Daraus entwickelt sich ein herzliches, aber keineswegs blöd-harmonisches Plädoyer fürs Anderssein. In den Zeichnungen bleibt genug Raum für die Verschrobenheiten herrlich dysfunktionaler Familien, die nicht mit dem Zuckerwattehammer in die Disney-Form gekloppt werden. Da will man schon aus Prinzip beruhigt aufatmen.
Kat Leyh: Snapdragon • Reprodukt, Berlin 2023 • 240 Seiten • Hardcover • € 20,00
Horrorschocker Grusel Gigant #8
Das Gros der Überreste der Kiosk-Comic-Heftchen-Kultur überlebt nur noch mithilfe von Plastikschrott als Kaufanreiz. Und der hausbackene Ton und Aufbau der „Gespenster Geschichten“, immerhin eine der langlebigsten Comicreihen Deutschlands, wäre heute heillos antiquiert. Dass man trotzdem nicht achtlos am Zeitschriftenregal vorbeigehen sollte, dafür sorgt Levin Kurio, One-Man-Show hinter dem Verlag Weissblech Comics, mit der wunderbaren Comic-Reihe „Horrorschocker“, ganz ohne Plastik und Biedermeier-Sound. Davon erschienen bereits 69 Ausgaben (nebst einem gefühlten Dutzend weiterer Reihen und Serien, die in Summe von einer richtig vitalen Pulp-Kultur zeugen). Für Späteinsteiger werden sie von den „Horrorschocker Grusel Giganten“ flankiert, spottbilligen Sammelbänden, die jeweils fünf Hefte umfassen. Die aktuelle Nummer 8 enthält die Ausgaben 36 bis 40. Eine Entdeckungsreise: immer rau und verspielt, nie ganz ernst, aber keinesfalls der nur höhnenden Parodie zugeneigt. Da stünde das Herz fürs Genre im Weg, so viel Ernst muss sein.
Horrorschocker Grusel Gigant #8 • Weissblech Verlag, Stolberg 2023 • 164 Seiten • Softcover • € 14,90
Cozmic #7
Die von René Moreau (ebenfalls Hrsg. des „Exodus“-Magazins) und Comiczeichner Michael Vogt herausgegebene Comicanthologie „Cozmic“ ist bei Ausgabe 7 angelangt. Man entwickelt sich also langsam zur Institution, und das sollte man in diesen Zeiten nicht als Selbstverständlichkeit abnicken. Eine andere Institution, das Independent-Comicmagazin „Jazam“, wurde erst kürzlich eingestellt. Kurz darauf gab der Independent-Verlag Zwerchfell bekannt, dass man keine neuen Bücher mehr veröffentlichen wird. Die Traditionsverlage Reprodukt und Edition Moderne konnten das Schlimmste dank erfolgreicher Crowdfunding-Aktionen noch abwenden. Hirnkost dokumentiert auf seiner Facebook-Seite anhand der täglichen Bestelleingänge, wie prekär das Verlegen mittlerweile geworden ist. Derweil setzt ein Barsortiment seit Monaten zahlreichen kleinen und mittelständischen (nicht nur Comic-)Verlagen mit verschleppten Rechnungszahlungen und gewaltigen Remissionslieferungen, die mitunter die Monatsumsätze übertreffen, heftig zu – schleichende Folgen der rapide gestiegenen Energie-, Druck- und Papierpreise, die Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ausgelöst hat, und Perspektiven, die im Branchenjubel, dass der Comicmarkt im Jahr 2022 erneut Rekordergebnisse verzeichnet habe, schnell übersehen werden. Aber nicht nur in Krisenzeiten sind Initiativen wie das „Cozmic“-Magazin unbedingt zu unterstützen; es ist überhaupt das einzige Forum für hiesige Comickünstler*innen, SF-Kurzgeschichten in gedruckter Form unterzubringen – in einem edlen HC-Buch in DIN A4-Überformat. Hier steckt die Liebe auch im Detail. In der neuen Ausgabe sind diesmal Storys von Simone Lejeune, Lauren und Markus Tuppurainen, Frauke Berger, Sascha Dörp, Kaydee Artistry, Jan Hoffmann, Ingo Lohse und Maximilian Meier dabei.
René Moreau, Michael Vogt (Hg.): Cozmic #7 • Atlantis Verlag, Stolberg 2023 • 100 Seiten • Hardcover • € 22,90
Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Die Passage
Ihr mindestens visuelles Bravourstück haben Jeff Lemire und Andrea Sorrentino mit der mehrfach Eisner-prämierten Kleinstadt-Zeitreise-Horrorserie „Gideon Falls“ bereits abgeliefert (hierzulande in sechs Bänden beim Splitter Verlag erschienen). Aber im Horrorgebälk gibt es für beide anscheinend noch einiges zu restaurieren; das Spiel mit dem unheimlich Uneindeutigen und der verschachtelten Erzählweise wird fortgesetzt, diesmal in Gestalt des sogenannten „Bone Orchard Mythos“. Klingt pompös, meint aber zunächst erst mal nur eine Reihe motivisch und thematisch verknüpfter Mini-Serien aka Graphic Novels, die sowohl einzeln als auch im Verbund erzählerisch funktionieren sollen. „Die Passage“ ist der Auftakt zum besagten Mythos, eine allegorisch aufgeladene Kurzgeschichte mit „Twilight Zone“- und Lovecraft-Vibes um einen jungen Geologen, der zu einer kleinen Insel beordert wird, um einen rätselhaften Schacht im Felsmassiv zu untersuchen, ein Loch ohne Boden. Er wird im örtlichen Leuchtturm einquartiert, von einer alten Leuchtturmwärterin, der einzigen Inselbewohnerin, betreut und mit Informationen versorgt. Das klappt bei Tage recht reibungslos, aber in den Nächten häufen sich bizarre Ereignisse, die die Story in die Linie des zeitgenössischen Arthouse-Horror Marke Ari Aster und Robert Eggers versetzen.
Jeff Lemire, Andrea Sorrentino: Die Passage • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 96 Seiten • Hardcover • € 19,80
Jérôme Le Gris, Nicolas Siner: Lord Gravestone Band 1 – Der rote Kuss
So unübersehbar der Ansatz in Lemires und Sorrentinos „Passage“, das Horror-Genre als Quell abgründiger Bild-Raffinesse zu nutzen, so klassisch frankobelgisch kommt der Vampir-Reißer „Lord Gravestone“ vom französischen Künstlerduo Jérôme Le Gris und Nicolas Siner daher. Der erste Band der Trilogie implementiert das Traditionsbewusstsein ins Sujet: Zwischen Stokers „Dracula“ und Le Fanus „Carmilla“ changierend, geht es um eine typische Rachegeschichte zweier Getriebener, dem titelgebenden Vampirjäger Lord Gravestone und der Vampirin Camilla, die sich beim Dezimieren der Freunde und Liebsten ihres jeweiligen Gegners zum finalen Duell vorarbeiten. Das ist überhaupt nicht originell, aber die Zeichnungen und der kompakte Plot blicken mit glasigen Augen auf das Erbe der Gothic Novels und tauchen ganz vernarrt in den Vampir-Mythos ein, dass man diesem anachronistischen Trotz auch einige Sympathie abgewinnen kann. Woher allerdings die Manie rührt, bis heute auch nicht einen französischen Mainstream-Genre-Comic ohne zwei, drei Seiten Weichzeichner-Erotik in Altherren-Busenblitzer-Ästhetik aufs Publikum loszulassen, muss dringend untersucht werden. Wird das in Verlegerköpfen mental durchgewunken wie der Tod eines alten Nachbarn, den man immer flüchtig auf der Straße gegrüßt hat: nicht schön, aber das Leben ist eben eine Daumenschraube?
Jérôme Le Gris, Nicolas Siner: Lord Gravestone Band 1: Der rote Kuss • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 56 Seiten • Hardcover • € 16,00
Alexis Nesme: Fantastische Fahrten mit Micky Maus: Terror Island
Auch im frankobelgischen Sprachraum hat es sich längst durchgesetzt, große Marken, deren Kern man nicht antasten will, durch Nebenreihen, in denen sich externe Künstler*innen ein wenig freier am Gegenstand austoben dürfen, zu revitalisieren. Vortrefflich klappt das beispielsweise bei Spirou und Fantasio, Lucky Luke, Valerian und Veronique und den Schlümpfen. Manch altem Recken hingegen, etwa Rick Master und Bob Morane, ist einfach nicht mehr zu helfen. Mit 16 Bänden sehr umfangreich und qualitativ wechselhaft sind mittlerweile die Disney-Hommage-Bände des französischen Glénat-Verlags geraten, die in deutscher Übersetzung bei Egmont erscheinen. Das raffinierteste Szenario stammt von Lewis Trondheim, der uns in „Donald’s Happiest Adventures“ buchstäblich in einem fiktiven verschollen geglaubten uralten Disney-Heft blättern lässt: Besonders haarsträubenden dramaturgischen Engpässen im Plot entgeht er darin einfach dadurch, dass er manche Seiten als unauffindbar deklariert und die Story unvermittelt an anderer Stelle fortsetzt.
Trondheims zweiter Beitrag, die Gruselgeschichte „Horrifikland“, war eine Gemeinschaftsarbeit mit dem französischen Zeichner Alexis Nesme, in dem Micky Maus, Donald Duck und Goofy eine Detektei gründen und ihren ersten Fall auf nebelverhangenen Friedhöfen lösen müssen. Daran knüpft Nesme, diesmal im künstlerischen Alleingang, in seinem zweiten Hommage-Album „Terror Island“ an. Diesmal schickt er die drei auf eine geheimnisvolle Insel irgendwo zwischen der Karibik und den Kapverden, voller Fallen und gefährlicher Flora und Fauna, um den verschwundenen Gatten von Lady Peppermint zu finden. Der Tonfall ist dezent wie aus Zeiten früher Disney-Cartoons und der Weg gestreut mit Zitaten nicht nur aus Disneys Popkulturwelten: King Kong, Indiana Jones, Jules Verne, Ray Harryhausen, hier sollen nicht nur die Figuren forschen.
Alexis Nesme: Fantastische Fahrten mit Micky Maus: Terror Island • Egmont Comic Collection, Berlin 2023 • 56 Seiten • Hardcover • € 29,80
Diese Beiträge erschienen zuerst in der monatlichen Comic-Kolumne auf: DieZukunft.de
Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film, Literatur mit den Schwerpunkten Politik und Phantastik, ist Herausgeber der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag. Seit 2006 Beiträge u. a. in Konkret, Tagesspiegel, Potsdamer Neueste Nachrichten, ND, Taz, Jungle World, Titanic, DieZukunft.de, Das Viertel, Testcard, Der Schnitt, Pony Magazin, kino-zeit.de. Essays für zahlreiche Comic-Editionen und DVD-Mediabooks.