Die Leiden des Zöglings Bernhard

Schuhe über Schuhe, alle identisch und in Reih und Glied, stapeln sich an allen vier Wänden der Kammer. Bis ins Unendliche scheinen die Regale zu wachsen. Die Schuhkammer mit ihrem verdichteten Schweiß- und Ledergeruch dient dem 13-jährigen Internatszögling Thomas Bernhard als Musikübungszimmer und einziger Zufluchtsort. „Jeden Tag sehnte er sich danach, die erschöpfenden Erziehungsqualen im Internat mit dem Aufenthalt in der Schuhkammer zu unterbrechen, mit der Musik auf seiner Geige diese fürchterliche Schuhkammer seinen Selbstmordgedankenzwecken nützlich zu machen“, steht da geschrieben über fast eine ganze Comicseite, unter jedem Satzteil eine nur dezent variierte Zeichnung des Jungen in der engen und doch befreienden Schuhkammer.

Thomas Bernhard (Text), Lukas Kummer (Zeichnungen): „Die Ursache“ / „Der Keller“ / „Der Atem“.
Residenz Verlag, Wien 2018/2019/2021. Jeweils 112 Seiten. Jeweils 22 Euro

„Die Ursache“ ist der 1975 erschienene, erste Band der autobiografischen Schriften Thomas Bernhards. Es ist ein Zeugnis seiner Internatszeit in dem verhassten Salzburg, eine gewohnt schonungslose Abrechnung mit dem allgegenwärtigen Grauen, das sich auch nach dem Ende des Nationalsozialismus und der Kriegsschrecken kaum lichtete, sondern vielmehr eine erschreckende Kontinuität zeigte. Der 1988 in Tirol geborene Lukas Kummer hat den Text, im Original ohne einzigen Absatz, gekürzt und als Graphic Novel adaptiert, der dritte Band „Der Atem“ erscheint dieser Tage. Mit seiner geradlinigen, geradezu strengen grafischen Umsetzung trifft er nicht nur dem Ton, sondern fügt mit visuellen Mitteln eine neue, äußerst stimmige Ebene hinzu.

Der Alltag im Internat, der von den Züchtigungen und Erniedrigungen durch den Rektor Grünkranz geprägt ist, die rohe Routine, die trotz der Bombenangriffe krampfhaft aufrechterhalten wird, die innere Verzweiflung, all das fasst Kummer in eine glasklare, umso bedrückendere Bildsprache. Die Bilder geben den Worten Raum, folgen dem Rhythmus der Sprache. Der Text wird förmlich getragen von den Zeichnungen, schlängelt sich über Strecken von immer wieder aufgegriffenen Motiven.

Die Gleichförmigkeit der Bilder ist beklemmender Spiegel der Angst, der Verachtung und Widerwärtigkeit, die von einem System der Misshandlungen und des „Geistesmordes“ ausgingen. Die Wiederholung macht Details umso offenkundiger, etwa wenn in einer Stube Hitlers Porträt durch ein Kreuz ersetzt wird, der Volksempfänger durch die Bibel und draußen statt einer wehenden Hakenkreuzfahne ein Kirchturm zu sehen ist. In Bernhards Worten: „So waren wir im Internat (…) zuerst im Namen Adolf Hitlers zugrunde und tagtäglich zu Tode erzogen worden und dann nach dem Krieg im Namen von Jesus Christus (…).“

Dazwischen ziehen großformatige Bilder, die grafischen Mustern gleichen, den Betrachter in den Raum, lassen einen durch die Augen des Kindes sehen, wie Schuhe, die Betten des Schlafsaals, die Bomben am Himmel oder die Särge der Toten eine entgrenzte Dimension erreichen. Die Menschen bleiben leere, gesichtslose Schemen, die Brutalität zeigt sich in ihren Handlungen. Es waren die Erfahrungen dieser Zeit, die Bernhard als ursächlich für die Formung seiner Persönlichkeit ansah.

Einziger Lichtblick: Gebrochen wurde der junge Bernhard nicht, auch dank des Großvaters, der ihm half, sich zu immunisieren gegen jegliche Unterdrückung. Lukas Kummer verhilft diesem packenden Dokument zu einem würdigen Comeback.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.02.2019 auf dem Standard-Comicblog Pictotop.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Die Ursache“.

Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.

Seite aus Lukas Kummers „Die Ursache“ (Residenz Verlag)