„Historisch gibt es eine Beziehung zwischen dem Medium Comic und gesellschaftlichen Minderheiten“

2021 wird in Deutschland ein außerordentliches Ereignis gefeiert: 1700 Jahre jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland. Im Jahre 321 wurde zum ersten Mal eine jüdische Gemeinde auf deutschem Boden verbrieft, in der römischen Stadt Colonia Claudia Ara Agrippinensium, heute besser als Köln bekannt. Aus diesem Anlass wird das ganze Jahr über in Veranstaltungen, Ausstellungen, Festakten und Publikationen die mannigfältige und reichhaltige jüdische Kultur in der Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands gefeiert und an die unzähligen Zäsuren, Ausgrenzungen, Vertreibungen und die unfassbare Tragödie der Shoah gemahnt.

Aus diesem Grund hat der Mainzer Ventil-Verlag, unterstützt von der Wissenschaftsstadt Darmstadt und dem Kulturfond der Stadt Frankfurt, eine Anthologie veröffentlicht, die in Kurzcomics und Textbeiträgen die Vielfalt des jüdischen Lebens und Erfahrungen in wunderbaren Comic-Miniaturen einfängt: „Nächstes Jahr in – Comics und Episoden des jüdischen Lebens“ enthält Beiträge von Simon Schwartz, Barbara Yelin, Hannah Brinkmann, Tobi Dahmen und vielen weiteren Comickünstler*innen. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit den Herausgebern Jonas Engelmann und Jakob Hoffmann mit freundlicher Genehmigung des Ventil Verlags.

Meike Heinigk / Antje Herden / Jonas Engelmann / Jakob Hoffmann (Hg.): „Nächstes Jahr in“.
Ventil Verlag, Mainz 2021. 168 Seiten. 25 Euro

In diesem Jahr finden anlässlich des Jubiläums „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zahlreiche Veranstaltungen statt, eine Comicpublikation zu diesem Thema ist mir allerdings sonst keine begegnet. Wie ist es zu diesem Projekt gekommen?

Jakob: Die Stadt Darmstadt hat beschlossen, zum Jubiläumsjahr verschiedene Projekte zu realisieren. Dafür wurde auch die Centralstation, als eminent wichtiges und gut vernetztes kulturelles Zentrum gefragt. Ich hatte in den letzten Jahren erste Comiclesungen in der Centralstation gemacht. Als dann die Idee entstand, einen Comicband zum Thema „Jüdisches Leben in Deutschland“ zu machen, wurde ich gefragt, ob ich das mitverantwortlich umsetzen will. Zur gleichen Zeit erschien bei Ventil der Comicband „Sie wollen uns erzählen“ über die Band Tocotronic. Das hat uns formal überzeugt und wir haben den Ventil Verlag gefragt, ob er eine Comicanthologie zum besagten Thema machen möchte. So hat sich nach einigen Gesprächen eine Redaktion gefunden, bestehend aus den jetzigen Herausgeber*innen.

Was hat es mit dem Titel „Nächstes Jahr in“ auf sich?

Jonas: Zunächst: Er fällt aus der Reihe und fällt auf. Wir haben in der Redaktion lange über mögliche Titel diskutiert, aber viele als zu klischeebeladen oder abgenutzt verworfen. Irgendwann stand dann dieses „Nächstes Jahr in“ im Raum, wo eine gewisse Offenheit mitschwingt, denn der Ort kann ja überall sein, in Darmstadt, New York oder sonst wo. Oder eben in Jerusalem, was ursprünglich gemeint war. Mit dem Satz „Nächstes Jahr in Jerusalem“ endet die jährliche Haggada-Lesung beim Sederabend. Und wer jetzt auf dem Schlauch steht: Zu diesem Zweck sind im Buch umfangreiche redaktionelle Infotexte enthalten, die Kontexte und Traditionen erklären, unter anderem eben auch Haggada und Seder.

Jakob: Der Comic von Simon Schwartz endet mit dem traditionellen Seder-Wunsch. Die Offenheit des Ortes, die Jonas anspricht, verweist auch auf eine gewisse Sehnsucht und Ortlosigkeit, die sich durch die meisten Geschichten zieht.

Seite aus „Nächstes Jahr in“ (Ventil Verlag)

Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie ein Who-is-Who der deutschen Comic- und Illustratorenszene. Wie ist die Auswahl der Zeichner*innen zustande gekommen?

Jakob: Das hat natürlich Spaß gemacht. Wir haben geschaut, wer zu dieser Thematik schon gearbeitet hat, wer vielleicht einen regionalen Bezug hat oder von dem/der wir uns vorstellen konnten, dass das vom Interesse und vom Stil her passt. Wir hatten Glück, dass so viele unserer Wunschkandidat*innen gleich zugesagt haben. Die Zeichner*innen, die abgesagt haben, waren keineswegs desinteressiert, hatten aber keine Zeit. Und das Zeitfenster war knapp. Thematisch gesetzt war unser Wunsch, einen Comic zu einem Gedicht von Mascha Kaleko im Buch zu haben. Wir wussten auch früh, dass wir die Buchvorstellung vor dem Kaleko-Konzert von Dota Kehr in der Centralstation machen wollten.

Der Fokus der Geschichten liegt auf Hessen, was ist der Grund für diese Perspektive?

Jonas: Die gesamte deutsch-jüdische Geschichte abzubilden wäre etwas vermessen gewesen und auch kaum auf 170 Seiten möglich gewesen. Den Blick auf eine Region zu beschränken bietet die Möglichkeit, die dort angesiedelten Geschichten aus mehreren Jahrhunderten gewissenmaßen repräsentativ für das deutsche Judentum zu erzählen und zu zeigen, wie vielfältig selbst in einem so kleinen Gebiet wie Hessen das Judentum sich zeigt.

Jakob: Natürlich haben sich unsere Auftraggeber*innen gefreut, dass Darmstadt und Hessen eine gewisse Rolle spielen in einigen der Geschichten. Zugleich ließ man uns hier aber vollkommen freie Hand, wir mussten keine Quoten erfüllen. An Themen, auch dann nicht bearbeiteten, gab es keinen Mangel.

Seite aus „Nächstes Jahr in“ (Ventil Verlag)

Welche Aspekte jüdischer Geschichte bildet ihr in der Anthologie ab?

Jonas: Wir haben versucht, in zweierlei Hinsicht eine möglichst breite Darstellung jüdischer Geschichte in Deutschland in das Buch zu bringen: Zum einen sollte gezeigt werden, dass das Judentum schon lange Zeit ein wichtiger Teil der deutschen Gesellschaft ist, wenn auch stets ausgegrenzt und bedroht. Deshalb ist der erste Comic in der Anthologie, der Beitrag von Simon Schwartz, im 15. Jahrhundert angesiedelt. Und zum zweiten wollen wir zeigen, dass das Judentum nicht nur aus Religion und der Verfolgung während des Nationalsozialismus besteht, sondern unzählige Facetten hat. Man findet also im Buch jüdische Räuber, Jazzproduzenten und Widerstandskämpferinnen. Wobei natürlich dennoch religiöse Aspekte in den Geschichten ebenso eine Rolle spielen wie die Shoah, wie Verfolgung und Exil.

Jakob: Die Schwerpunkte ergeben sich zum Teil erst jetzt, wenn man alle Comics nebeneinander sieht. Ausgangspunkt waren immer einzelne Juden und Jüdinnen oder eben Orte, wie zum Beispiel der jüdische Friedhof oder die Berufsfachschule.

Gibt es eine besondere Beziehung zwischen jüdischer Kultur und Comics?

Jonas: Zunächst gibt es historisch durchaus eine Beziehung zwischen dem Medium Comic und gesellschaftlichen Minderheiten: Als er Ende des 19. Jahrhunderts als Zeitungscomic in New York entstanden ist, haben die Protagonisten die Sprache von Migrant*innen gesprochen: das Yellow Kid hatte einen irischen, die Katzenjammer Kids von Rudolph Dirks einen deutschen und Harry Hershfields Abie the Agent einen jiddischen Akzent. In New York wurden zu dieser Zeit siebzig Sprachen gesprochen und daher waren es gerade Zeichnungen kombiniert mit einfacher Sprache, die über die ethnischen Grenzen hinaus verbindend gewirkt haben und eine gemeinsame Identität schufen – man war nicht mehr Teil einer Minderheit, sondern Teil einer Minderheit unter verschiedenen Minderheiten, die gemeinsam lachen konnten.

Jakob: Superman wurde von jüdischen Künstlern erfunden. Joe Shusters und Jerry Siegels Superheld erblickte 1932 das Licht der Comicwelt und reflektiert durchaus den Kampf gegen das Böse (durchaus explizit auch den Nationalsozialismus) durch einen Helden, der eigentlich nirgends dazu gehört. Art Spiegelmans „Maus“ kann man zweifelsfrei zu den wichtigsten Comics der Geschichte zählen. Ganz aktuell gestaltet die israelische Zeichnerin Rutu Modan den Nahostkonflikt in ihrer Graphic Novel Tunnel als scharfe Satire.

Was waren die für euch überraschendsten Geschichten, die die Zeichner*innen ausgegraben haben?

Jakob: Von Glikl bas Judah Leib hatte ich noch nichts gehört – eine beeindruckende Frau. Ludwig Meidner kannte ich nur oberflächlich und bin fasziniert, wie Büke Schwarz seine ästhetischen Programme in dem Comic künstlerisch verarbeitet hat. Die alltäglichen Geschichten von Miriam Werner und Antje Herden zeigen, wie nahe und unmittelbar jüdische Geschichte und Gegenwart sind.

Jonas: Ich persönlich fand die Geschichte von Abraham Picard beeindruckend, die Tine Fetz umgesetzt hat. Picard war ein berüchtigter Räuberhauptmann um die Jahrhundertwende vom 17. ins 18. Jahrhundert, dem sich sogar Schinderhannes untergeordnet hat, der aber gleichzeitig auf seinen Raubzügen auf die Einhaltung jüdischer religiöser Traditionen geachtet hat. Er ist in einem Marburger Gefängnis gestorben und wurde vergessen. Ein Schicksal, das viele jüdische Biografien teilen, die abgewichen sind von dem, was die Mehrheitsgesellschaft in Juden sehen wollte.

Seite aus „Nächstes Jahr in“ (Ventil Verlag)