Mit Blick auf den Teppich von Bayeux, die Propagandacomics des Zweiten Weltkriegs, Joe Saccos Reportagen über den Nahen Osten oder aktuelle Cartoons über den russischen Angriffskrieg kann man behaupten, dass Comics und Kriege seit jeher eine enge Verbindung eingehen. Natürlich kann man so einen Zusammenhang bei jedem Motiv konstatieren: Auch Enten, Außerirdische oder Zombies sind in Comics sehr präsent, ohne dass man deshalb eine Verbindung identifizieren müsste, die sich von den Darstellungen in anderen Medien unterscheidet. Der Comic an sich, so hingegen Andreas Platthaus in einer Zuspitzung, sei ein Kind des Krieges, weil die Entstehungszeit der comics books und damit auch deren einfache Weltbilder so sehr von der Zwischenkriegszeit geprägt sei.
Neben den Karikaturen und Cartoons, die in der Presse der Weltkriegsjahre 1914-18 und 1939-45 veröffentlicht wurden (etwa gesammelt in „Cartoons of World War II“ oder „Dictators in Cartoons“, beide herausgegeben von Tony Husband, 2014 und 2015), sind dabei nur eine Facette unter vielen. Populärer und vor allem langlebiger waren etwa die Serien „Two-Fisted Tales“ (EC Comics 1950-55) oder diverse DC-Kriegs-Serien wie „Our Army at War“ (1952-77).
Von den Propaganda-Comics des Zweiten Weltkriegs, die etwa Alexander Braun und Henning Jansen analysiert haben, über die Repräsentation von Krieg und Heimkehr in der Erinnerungskultur bis hin zu fiktiven Kriegssettings in der Military-Science-Fiction lassen sich unzählige Repräsentationen bewaffneter Konflikte finden. Und auch in den vergangenen Monaten sind eine ganze Reihe von Kriegscomics erschienen, die aktueller sind, als wir es uns wünschen würden.
Mitmachen oder wegducken? – „Im Auge des Zyklons“
Die Geschichte um Robert Wells („Im Auge des Zyklons“, avant-Verlag, 2021) beginnt im Januar 1939, also noch einige Monate vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und der australischen Kriegserklärung gegenüber dem Deutschen Reich. Es dauert nur wenige Seiten und schon wird die Picknickidylle im Park von einer politischen Diskussion über Kapitalismus, Sozialismus und Faschismus getrübt. „Ich bin ein Pazifist“, sagt Wells, und was das bedeutet, wird sich erst noch zeigen, wenn im September der Krieg ausbricht und Wells an die Front geht.
Als sich die Situation weiter zuspitzt, nehmen die politischen Positionsbestimmungen immer mehr Raum ein: Alle werfen einander vor, wahlweise Kommunist, Pazifist, Anarchist, Faschist oder Kapitalist zu sein. Die Kneipenabende sind politisch, und Robert bewahrt in religiösen wie politischen Fragen eine eigenständige Meinung. Diese muss er etwa in Gesprächen mit seinem besten Freund Bluey immer wieder behaupten. Bluey ist Reporter bei „The Age“ und völlig desillusioniert von der Kriegspropaganda, die von seiner Zeitung verbreitet wird. Ihre Diskussionen über Pflicht, Wahrheit und Verantwortung prägen den insgesamt textlastigen Comic: „Was bringen dir Prinzipien, wenn dir jemand ne Knarre an den Kopf hält? Willst du die andere Wange hinhalten? Die machen dich platt. Manchmal muss man eben kämpfen.“ Die beiden streiten damit über die Chamberlain’sche Appeasement-Politik der 1930er Jahre – und man kommt derzeit nicht umhin, auch unbeabsichtigte Analogien zur Ukraine-Situation zu entdecken.
Schließlich muss Robert, wie schon sein Vater und sein Bruder, in den Krieg ziehen. Sind die meisten Passagen stark auf die Dialoge fokussiert, weil die Figuren ihre Gedanken zum Krieg austauschen, und im Seitenlayout individuell, werden die Szenen von Roberts militärischer Ausbildung in einem gleichförmigen 4×3-Panelraster präsentiert, in geradezu soldatischer Strenge, und zudem auffällig stumm: Die soziale Interaktion beschränkt sich auf lautstarkes Befehlen und stilles Gehorchen, und indem Zeichner Bruce Mutard alle Momente des militärischen Alltags in einem stummen wie stumpfen Stakkato aneinanderreiht, erscheint dieser als entsprechend trist. Dass die Ausbildung aber erfolgreich verläuft, wird an der Silhouette einer Pappfigur deutlich, die Robert zunächst verfehlt, schließlich aber mit einem Kopfschuss trifft.
Charakteristisch für Mutard sind überdies die häufigen Perspektivenwechsel, wenn er innerhalb einer Sequenz eine Szene aus gegenläufigen Blickwinkeln zeigt, als würde man die Figuren drehen und wenden, um ihnen irgendwie näher zu kommen, quasi als Reaktion auf die distanzierte Kühle, die von den monochromen Zeichnungen ausgeht. In „Im Auge des Zyklons“ (erstmals 2008 erschienen) geht es um Entscheidungen und Positionierungen, sowohl in der politischen Sozialisation als auch in den schwierigen Liebesbeziehungen. Antworten findet der Comic nicht. Wer würde es sich schon anmaßen, auf so schwierige Fragen einfache Antworten zu geben?
Die Wahrheit stirbt zuerst – „Strange Adventures“
Tom King und Mitch Gerads („Sheriff of Babylon“, „Mister Miracle“) sind ein Dream Team des Superheldengenres, weil sie sich gemeinsam gern auf Wege weit abseits ausgetretener Erzählpfade aufhalten. In „Strange Adventures“, dessen zweiter Band soeben erschienen ist (hier eine Besprechung des ersten Bandes), haben die beiden US-Amerikaner den Superhelden Adam Strange gegen ein aggressives Volk aus den Tiefen des wilden Weltraums antreten lassen, die Pykkten.
Vor langer Zeit kämpften diese gegen die Bevölkerung des Planeten Rann, ließen sich von Strange aber in ihre Schranken weisen und greifen nun die Erde an. Seither lässt er sich als strahlender Kriegsheld feiern und präsentiert seinen Fans voller Stolz seine neue Autobiographie. Titel: „Strange Adventures“. „Darf ich Ihre Ausgabe signieren?“, fragt der Strahlemann immer wieder. Wir wissen aber, dass in jedem Krieg zuallererst die Wahrheit dran glauben muss, und Mr. Terrific wird dafür sorgen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Der erste Band hat bereits den Keim des Zweifels gesät, und im zweiten Band erfährt die weiße Weste des Helden tiefdunkle Flecken. Nichts und niemandem kann man trauen, auch nicht denjenigen, die mit besten Absichten für das Gute streiten.
„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.“ Es ist schon ironisch, dass die Herkunft dieses Zitats im Dunkeln liegt bzw. dass es mehrere „Wahrheiten“ gibt, wer diese Aussage geprägt hat. Natürlich ist es aber für den Aussagegehalt unerheblich: Kriege sind eben auch Informationskriege, und wo könnte das anschaulicher werden als in den gegensätzlichen Medienstrategien im Ukraine-Russland-Krieg? Putins rigorose Kontrolle der Medienlandschaft und auf Distanz setzende Selbstinszenierung auf der einen, Selenskyjs auf Volksnähe abzielende Selfie-Kultur auf der anderen Seite.
„Strange Adventures“ relativiert aber keineswegs die Gräuel, sondern trennt die Selbst- und Fremdinszenierungen von der Wirklichkeit dahinter. Damit ist der Comic, dessen zwölf Hefte nun vollständig auch auf Deutsch verfügbar sind, eine offenkundig fiktionale Geschichte über einen fiktiven Krieg und dennoch unglaublich aktuell.
Wenig Erhellendes – „Nacht über Brest“
In „Nacht über Brest“ (bahoe books, 2021) landet im August 1938 ein spanisches U-Boot an der bretonischen Hafenstadt und bittet um technische Unterstützung. Da die Franzosen aber gemeinsam mit 26 anderen Staaten ein Nichtinterventionsabkommen in Bezug auf den Spanischen Bürgerkrieg unterzeichnet hatten, spielen die Entscheidungsträger erst einmal auf Zeit. Diese Zeit nutzen die französischen Faschisten, um gemeinsam mit den spanischen Anhängern Francos das Boot und deren Besatzung für sich zu gewinnen. Der Kapitän des U-Boots, José Luis Ferrando Talayero, lässt sich von der schönen Mingua dazu überreden, den spanischen Faschisten den Zugriff auf das U-Boot zu ermöglichen, aber diese Rechnung hat er ohne seine Mannschaft gemacht. Zugleich haben auch die spanischen Franco-Widersacher eine Spielfigur platziert: Ein Geheimagent unter dem Tarnnamen X-10 recherchiert die Aktivitäten der spanischen Faschisten und gibt seine Informationen weiter. Alle haben ihre Finger im Spiel…
An dieser Episode am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hätte man etwas über die gescheiterten Nichteinmischungsbestrebungen, über den Widerstreit politischer Ideologien oder die Landesgeschichte Spaniens lernen können. Man hätte die Motive und Sorgen der Beteiligten verstehen oder das militärische Ziel der Franco-Faschisten verstehen können, stattdessen aber wiederholen Cuvillier, Galic und Kris nur abgedroschene Agentenfilmklischees, ohne ein Interesse für die Situation als Ganzes oder die daran Beteiligten zu entwickeln, ganz anders als etwa Mutard in „Im Auge des Zyklons“.
Der Comic basiert auf dem Sachbuch „Nuit franquiste sur Brest“ (2013), dessen Autor Patrick Gourlay auch das Nachwort für den Comic schrieb, der 2016 unter dem Titel „Nuit noire sur Brest“ bei Futuropolis erschien. Leider vermittelt der Comic kaum den Eindruck, dass die Geschichte wirklich erzählenswert sei, zumal dieses U-Boot in der Rüstungsmasse Francos den Spanischen Bürgerkrieg mutmaßlich kaum verändert hätte. Die Liebe zum Detail, die man den Zeichnungen von Damien Cuvillier anmerkt, wie etwa bei der Gestaltung des soeben erst fertiggestellten Brester Bahnhofsgebäudes, fehlt dem Szenario leider völlig. Warum handeln die Beteiligten, wie sie es tun? Welche menschlichen, politischen, ideologischen Beweggründe leiten sie an? Man könnte zu dem Schluss kommen, dass man es bei dem Sachbuch hätte belassen sollen.
Grauen überall – Kurt Vonneguts „Schlachthof 5“
Ganz anders in diesem Fall. Der US-amerikanische Schriftsteller und Kriegsveteran Kurt Vonnegut veröffentlichte 1969 den postmodernen Roman „Slaughterhouse 5“ über die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Der aktuelle Comic „Schlachthaus 5 oder Der Kinderkreuzzug“ (Cross Cult, 2022) stammt von Ryan North und Albert Monteys und erschien zuerst 2020 im BOOM!-Imprint Archaia.
Die Hauptfigur, der phlegmatische Billy Pilgrim, wird von deutschen Soldaten gefangen genommen und in Dresden untergebracht. Die amerikanischen Kriegsgefangenen werden in einem Schlachthof untergebracht – Gebäude Nummer 5. Als sie eines Morgens ins Freie treten, sehen sie das ganze Unheil, das der Krieg über die Stadt gebracht hat. Zugleich wird mit dem Soldaten Edgar Derby ein ausgesprochen sympathischer US-Amerikaner erschossen, weil er eine Teekanne gestohlen habe. Vonnegut wiegt kein Unglück gegen ein anderes auf, sondern reiht in größter Lakonie ein Grauen an das andere: „So ist das“ lautet das sich ständig wiederholende Mantra, immer dann, wenn jemand stirbt – und das geschieht oft.
Wie im experimentierfreudigen Roman ist die Erzählweise ambitioniert: Außerirdische vom Planeten Trafalmadore lassen den Helden durch die Zeit reisen, sodass wir sein Nachkriegsleben als Optiker ebenso miterleben wie seine Kriegsjahre. Wie auf dem fremden Planeten erzählt wird, erfahren wir am eigenen Leib, weil Monteys eine Doppelseite mit unzusammenhängenden Panels gestaltet hat, die sich bestens als Seminarübung für McClouds Closure-Begriffe verwenden ließe. Indem North und Monteys das Erzählen an sich immer wieder zum Thema machen, verhindern sie, dass man als Leser*in in die Handlung „eintaucht“. Erzählungen sind eben keine Ereignisse.
In Vonnegut Augen, und mit ihm in der Perspektive von North und Monteys, liegt in der Groteske des Krieges auch das Potential zum Komischen, wobei das Lachen einem im Halse steckenbleibt, und das emotionale Auf und Ab, das die beiden Künstler den Leser*innen zumuten, verstärkt den Schrecken noch. Dem Comic gelingt eine respektvolle Adaption des Originals und zugleich eine bewundernswerte künstlerische Eigenständigkeit.
Im Überblick – „Krieg und Migration im Comic“
Comics über den Krieg sind schon in den Fokus größerer Abhandlungen geraten, vor allem in Form von Sammelbänden, die es sich erlauben können, ein wenig eklektisch zu verfahren, und das ist auch ein guter Anfang, um den gewaltigen Korpus überhaupt erst einmal zu erfassen. So haben Claudia Jungk und Thomas F. Schneider sich dem Thema in zwei Ausgaben des Osnabrücker Jahrbuchs „Krieg und Literatur“ gewidmet (2018 und 2019), und diverse andere haben sich an dem Thema abgearbeitet (Chapman et al.: „Comics and the World Wars“, 2015, Prorokova et al.: „Cultures of War in Graphic Novels“, 2018). Vor kurzem ist außerdem ein Sammelband in deutscher Sprache erschienen, der sich dem Thema aufs Neue stellt: „Krieg und Migration im Comic“ (Transcript, 2021).
Dieser Band umfasst elf Beiträge, die sich in unterschiedlicher Weise mit der Darstellung von Krieg und Migration im Comic befassen. Andreas Platthaus, Ressortchef Literatur und literarisches Leben der FAZ, führt in seinem lesenswerten und einführenden Aufsatz „Das Kriegskind Comic“ vor Augen, wie eng die Entstehungsgeschichte des Comics um die Jahrhundertwende 1900 mit der Einwanderungsgeschichte der USA zusammenhängt. Der Comic sei nämlich, so Platthaus, nicht nur ein Einwanderungs-, sondern auch ein Kriegskind, und dabei hat er vor allem die Erfolgsgeschichte des comic books im Blick, das nicht nur in den Zwischenkriegsjahren entstanden ist, sondern mit seinen zahllosen Superhelden, die gegen reale Superschurken wie Hitler kinnhakenverteilend in den Krieg zogen, auch ein dichotomes Weltbild etabliert hat, das ganz der Logik von Kriegen entspricht.
Dietrich Grünewald wiederum, langjähriger Erster Vorsitzender der Gesellschaft für Comicforschung, geht in seinem Beitrag „Der Traum vom besseren Leben“ auf verschiedene bekannte wie entlegenere Comics ein, allerdings eher sporadisch. Im Sinne eines einführenden Vortrags ist dieser Beitrag sicherlich hilfreich, im Rahmen der Buchpublikation wirkt er hingegen verzichtbar. Monika Schmitz-Emans, Professorin an der Ruhr-Universität Buchum, widmet sich in „Erzählende Dinge“ der Funktion von Gegenständen im Comic. Diese können besondere Bedeutung erlangen, wenn sie im Comic zu Symbolen erhoben werden, sie können aber im Krieg eine „verstärkte Signifikanz als Gebrauchsdinge“ besitzen. Ihre Analyse setzt sich mit „Tagebuch 14/18“ von Alexander Hogh und Jörg Mailliet (Tintentrinker, 2014), Barbara Yelins „Irmina“ (Reprodukt, 2014), „Der Fotograf“ von Emmanuel Guibert (Edition Moderne, 2003) und vor allem Shaun Tans „Ein neues Land“ (Carlsen, 2015) auseinander
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Darüber hinaus bieten die Beiträge einen Einblick in Comics von Joe Sacco, Birgit Weyhe sowie in einige Mangas. Bei den Beiträgen handelt es sich um Analysen einzelner Comics ohne jeglichen Anspruch auf Repräsentativität: Propagandacomics wie die Superheldencomics der Jahre des Zweiten Weltkriegs lässt der Band völlig vermissen, ebenso wie die Darstellungen fiktiver Kriege. Der Blickwinkel ist somit sehr eingeschränkt, zumal die Auswahl der Untersuchungsgegenstände eher etwas eklektisch anmutet. Es handelt sich um die Veröffentlichung von Vorträgen einer Ringvorlesung, die im Wintersemester 2017/18 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf stattfand. Vor diesem Hintergrund überrascht der etwas lose Zusammenhang der Beiträge natürlich nicht. Dass ein Sammelband Lücken lassen muss, ist selbstverständlich. Schade ist allerdings, dass diese im vorliegenden Fall so groß sind.
Hier gibt es einen weiteren aktuellen Beitrag zum Thema „Comics und Krieg“.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.