Macht und Erbschaft

Dieser Text erschien zuerst am 01.03.2018 beim Deutschlandfunk.

Als Josef Stalin in der Nacht zum 1. März im Jahr 1953 einen Schlaganfall hat, kommt ihm keine medizinische Hilfe zuteil. Denn in der Nacht werden zwar nahezu alle Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei an sein Bett treten, aber die Entscheidung, was zu tun sei schließlich vertagen. Weil sie Stalins Wut fürchten, sollte der nicht mit der Entscheidung einverstanden sein.

Fabien Nury und Thierry Robin beschreiben in ihrem Comic „The Death of Stalin“ die letzten Stunden des Diktators so absurd, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Einer der Gründe, warum der gleichnamige Film zum Comic in Russland nicht gezeigt werden darf. Tamina Kutscher: „Die offizielle Begründung durch den Kulturminister Medinski war, dass der Film die sowjetische Vergangenheit verspotten würde – und zwar die Vergangenheit des Landes, das den Faschismus besiegt hat.“

Tamina Kutscher ist Chefredakteurin der Plattform dekoder.org – die die unabhängige Presse in Russland beobachtet, ins Deutsche übersetzt und dafür mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet wurde. Als schwarze Komödie kommt der Film mit einem deutlich krachigeren Humor daher als die Comicvorlage. Dem großen Stalin soll aber gar nicht mit Humor begegnet werden – so die Haltung im offiziellen Russland.

Tamina Kutscher: „Das ist das, was die Kritiker auch bemängelten, dass zumindest das Lachen über Stalin verboten ist. Das sagt ja dieser Beschluss, dass man über Stalin nicht lachen darf. Und das Lachen über Stalin bedeutet eben die Macht als solche zu verspotten. Und eine richtige Aufarbeitung der Stalinzeit gibt es deswegen auch nicht.“

Sequenz aus „The Death of Stalin“ (Splitter Verlag)

Was die Stalinzeit bedeutet haben muss, hat der Autor Fabien Nury klar herausgearbeitet: Wohnungen werden abgehört, Menschen unter Druck gesetzt und verhaftet, wenn sie nicht so parieren, wie der Mächtigste das wünscht – manche verschwinden. Nach Stalins Tod ist allerdings nicht ganz klar, wer der Mächtigste ist – deshalb liefern sich die Mitglieder des ZKs der Kommunistischen Partei ein knallhartes Intrigenspiel, bei dem Lawrenti Pawlowitsch Beria, Wjatscheslaw Molotow und Nikita Chruschtschow entscheidende Rollen spielen: „Ist unser Volk so blind? Ist unsere Partei so mächtig? Werden unsere Kinder je die Wahrheit erfahren? Werden sie glauben, dass die braven Genossen, die heute über mich zu Gericht sitzen, frei von Schuld sind? Oh ja. Das glauben sie.“

Das ist das Resümee, das der größte Intrigant Beria zieht, als er gestürzt und verhaftet wird. Beria war Minister für Inneres und Chef des Geheimdienstes und verstand sich bestens auf stalinistische Säuberungsaktionen und Propaganda – das wird im Comic immer wieder deutlich. Thierry Robin hat dafür Bilder gezeichnet, die ganz in den erdigen Farbtönen des sozialistischen Realismus gehalten sind. Nur die Verbrechervisagen der Protagonisten und die luxuriöse Ausstattung der Interieurs passen nicht so recht zum sowjetischen Realismus. Robin macht damit den Kontrast zwischen Propaganda und Realität auch auf der visuellen Ebene deutlich.

Ein Kontrast, der im heutigen Russland offenbar nicht wahrgenommen wird. Stalin gilt dort in Umfragen als die herausragendste Person der Geschichte, noch vor Puschkin und Putin erzählt Tamina Kutscher. Sie glaubt: „Dass Stalin so bestimmte Bedürfnisse befriedigt, zum Beispiel so ein antielitäres Bedürfnis, also auch wenn es ein Mythos ist, aber die Vorstellung, dass sich Stalin für die Armen und die Schwachen einsetzen würde, während man zum Beispiel von der politischen Elite enttäuscht ist. Also die Stalin-Verehrung kann zum Beispiel auch ein Missfallen mit der politischen Elite ausdrücken.“

Der Comic „The Death of Stalin“ ist nicht historisch korrekt. Im Nachwort des Historikers und Stalin-Biografen Jean-Jacques Marie kann man nachlesen, welche dramaturgischen Kniffe Nury und Robin sich ausgedacht haben, um die historische Wirklichkeit plastischer zu machen. Das gelingt auch deshalb so gut, weil die beiden diese Zeit bei allem Humor sehr ernst nehmen.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Fabien Nury (Szenarist), Thierry Robin (Zeichner): „The Death of Stalin“. Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2018. 144 Seiten. 29,80 Euro