„Rot“, Domee Shi und die Pixar-Strukturen

© The Walt Disney Company Germany GmbH

„Blüht der rote Mohn?“, fragt Mei Lees Mutter vorsichtig, als sie den Tumult im Badezimmer hört, und bei den meisten 13-jährigen Töchtern mit einem kleinen, roten Problem würde das wahrscheinlich zutreffen. Nicht so bei Mei Lee: Ihr ist über Nacht am ganzen Körper flauschiges rotes Fell gewachsen.

„Rot“ ist die Geschichte einer kanadischen Teenagerin mit chinesischen Wurzeln, die sich bei emotionalen Ausbrüchen unvermittelt in einen roten Panda verwandelt. Also kurz gesagt eine groß angelegte Parabel auf das Erwachen der weiblichen Sexualität mit allem was dazugehört: Gefühlswallungen, hormonelle Eruptionen, plötzliches Ralligsein, die erste Periode. Für einen Film aus dem erweiterten Hause Disney mit seiner strikten Ausrichtung an Familienfreundlichkeit also gar kein so kleiner Schritt.

Die Frau, die die alten Garden von Pixar zu dieser Geschichte überreden konnte, heißt Domee Shi — und abgedrehte Ideen sind so etwas wie ihre Kernkompetenz. Stichwort „Bao“: In dem oscarprämierten Kurzfilm tröstet eine ältere chinesische Frau ihre unerwiderte Mutterliebe mit einem zum Leben erwachten Teigtäschchen — und isst es auf dem Höhepunkt der Geschichte einfach auf. Domee Shi, Autorin und Regisseurin des Films, erzählt die Geschichte von ihrem Pitch noch heute: Wie sie genau diese Szene im letzten Moment wegließ, aus Angst, Pixar könnte ihre Idee zu verrückt finden. Zum Glück war damals der Regisseur Pete Docter („Soul“) im Raum, der aufstand und rief: „Das ist nicht die Version, die du mir erzählt hast!“ Am Ende entschied sich Pixar für die Variante mit der kleinen Schockszene. Und in ihrer Oscarrede rief Shi: „To all of the nerdy girls out there, who hide behind their sketch books: Don’t be afraid to tell your stories to the world! You’re gonna freak people out, but you’ll probably connect with them, too, and that’s an amazing feeling to have.“

Für Domee Shi hat sich das jedenfalls gelohnt. 1989 im chinesischen Chonqing geboren, lebte sie seit ihrem zweiten Lebensjahr in Toronto, studierte Animation und begann 2011 ein dreimonatiges Praktikum als Storyboarderin bei Pixar, das im Anschluss zu einem festen Job wurde. Unter anderem wirkte sie an „Alles steht Kopf“ und „Die Unglaublichen 2“ mit, in dessen Vorprogramm schließlich „Bao“ lief, ihre erste eigene Regiearbeit.

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Damit gehört sie zu den Köpfen, die bei Pixar einen Generationenwechsel anführen — und der war auch bitter nötig. Denn so sehr wir es auch feiern, dass mit Domee Shi endlich die erste Frau einen alleinigen Regie-Credit für eine Pixarproduktion erhält… im Jahr 2022 ist das reichlich spät. Schon 2013 sollte eigentlich Brenda Chapman für „Merida“ diese Ehre zukommen, doch sie wurde auf halber Strecke durch Mark Andrews ersetzt. Wegen „kreativer Differenzen“, wie es immer so schön vage heißt. In einem Stück für die „New York Times“ schrieb Chapman später darüber, wie sehr es ihr wehtat, aus dem Team eines Films genommen zu werden, der im Kern von der Beziehung zu ihrer eigenen Tochter inspiriert war: „Animation directors are not protected like live-action directors, who have the Directors Guild to go to battle for them. We are replaced on a regular basis — and that was a real issue for me.“

Doch damit war der Ärger um Pixar noch längst nicht beendet. Im Zuge der #MeToo-Bewegung kamen Vorwürfe gegen den Toy-Story-Regisseur John Lasseter ans Licht, der deswegen 2018 das Unternehmen verließ. Und das unausgewogene Verhältnis unter den Animatoren, Drehbuchautoren, Regisseuren der Animationsschmiede blieb vorerst bestehen. Langsamer Wandel vollzog sich zunächst nur auf der narrativen Ebene: Mit „Merida“ hielt die erste Prinzessin Einzug, die ihre alleinige Erfüllung nicht in der Ehe zu einem schönen Prinzen fand. Mit „Coco — Lebendiger als das Leben“ folgte 2017 ein Film, der seine Inspiration aus der mexikanischen Kultur schöpft, „Soul“ (2020) erzählt von einem Schwarzen Jazzmusiker und „Luca“ (2021) ist eine Geschichte darüber, wie fluide Identitäten sind.

Inzwischen bemüht sich Pixar darum, auch auf anderen Ebenen diverser zu werden. Hinter den Kulissen ermöglicht das Förderprogramm SparkShorts Nachwuchsanimatoren ihre eigenen Kurzfilme zu realisieren. Außerdem kam bei der Arbeit an „Rot“ erstmals eine neue Technologie zum Einsatz, die jeden einzelnen Filmframe auf seinen Grad an Inklusion hin analysieren kann. Ein echter game changer für die Kunst der Animation, bei der jedes einzelne Detail einer Welt buchstäblich aus dem Nichts erschaffen werden muss. Diese gesteigerte Sensibilität führt dazu, dass wir in „Rot“ Rollstuhlfahrer sehen — und Rollstuhlrampen im Bildhintergrund. Ein Mädchen in Mei Lees Klasse trägt eine Insulinpumpe.

Alle Probleme sind damit aber noch nicht gelöst. Für hochgezogene Augenbrauen sorgt etwa die Entscheidung, „Rot“ auf direktem Wege auf der Streamingplattform Disney+ zu versenken. Ähnlich wie schon bei „Soul“ und „Luca“ muss die Pandemie dafür als Erklärung herhalten. Unterdessen bekommt der für den Sommer 2022 angekündigte „Lightyear“ — eine erneute Rückkehr zum Toy-Story-Universum, dem ursprünglichen Pixar-Erfolgsrezept, gemacht von Angus MacLane, einem weißen Dude — nach aktuellem Stand durchaus einen Kinostart. Wieso? Traut Pixar seinen eigenen Stoffen nicht?

Es war um die Jahrtausendwende herum ein echtes Ereignis, wenn alle zwei Jahre (später erhöhte sich die Frequenz auf durchschnittlich einen Film im Jahr) eine neue Pixar-Produktion in die Kinos kam. Heute gilt ein Rhythmus von zwei Filmen pro Jahr als Vorgabe, und kaum jemand weiß noch aus dem Kopf, welcher Animationsfilm nun eigentlich von Pixar und welcher aus den Walt Disney Animation Studios stammt („Baymax“, „Die Eiskönigin“, „Encanto“… genau!). In einer Welt, in der die öffentliche Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer und zugleich der Anspruch immer größer wird, müssen selbst die Industriegrößen aufpassen, nicht hinten runterzufallen. Für uns ist der Zauber von Pixar noch lang nicht gebrochen. Aber wir werden ein genaues Auge darauf haben, wie der Konzern sein Potential in die Zukunft führt.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 28.03.2022 auf: kino-zeit.de

Katrin Doerksen, Jahrgang 1991, hat Filmwissenschaft nebst Ethnologie und Afrikastudien in Mainz und Berlin studiert. Neben redaktioneller Arbeit für Deutschlandfunk Kultur und Kino-Zeit.de schreibt sie über Comics, aber auch über Film, Fotografie und Kriminalliteratur. Texte erscheinen unter anderem im Perlentaucher, im Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie lebt in Berlin.