Das Überleben ein Traum

© Wild Bunch

„Der Junge und der Reiher“: Eine Kurzkritik zum neuen Animationsfilm von Hayao Miyazaki.

Ein Reiher und ein Film: Gestaltwandler beide. Wir sind mitten im Krieg, Bomben, Feuer und Tod, das Bild bebt und wankt, dann gelangt der junge Mahito mit dem Vater aufs Land, zur jungen Frau, die schwanger ist, sie steht an der Stelle der getöteten Mutter und alles stabilisiert sich, für den Moment. Dann wird es flüssig, geht in Träume hinab, in ein verwunschenes Turmgebäude hinein und hinunter, in eine Welt der seltsamen Wesen, die sich blähen und schweben, der Pelikane, die fressen und fressen, der Sittiche, die ziemlich faschistoid und blutrünstig sind. Es gibt Wasser und Feuer, ein Zergehen zu Massen, ein Bild, das aus dem anderen quillt wie die Eingeweide aus dem riesigen Fisch. Es gibt ein Tor, oder eine Tür, von der einen Welt in die andere, es gibt den großen, alt und müde gewordenen Weltenerhalter, in dem sich Miyazki nicht zuletzt selbst porträtiert.

Die Traumzusammenhänge sind lose, die narrative Fortbewegung ein Purzeln, Fallen, Schweben, Geraten, der aufgenommene Faden geht bald wieder verloren, es schneiden die neuen Einfälle, es schneiden der Krieg und der Tod als bilderwütige Atropos alles Stringente entzwei. Eine ganze Welt kracht ein, das Überleben ein Traum, der Krieg wird nicht aufgehört haben, die Tür in die Zukunft stößt abrupt an ein Schwarzbild.

Ein Film, der immerzu Atem holt und wie Paniktriebe Fantasien gebiert, ein Film, der dem Tod und dem Ende Letztes abringen will und groß ist vor allem darin, dass er sich bei aller Zerfahrenheit, in der Form dieser Zerfahrenheit, nicht davon abbringen lässt.

Diese Kurzkritik erschien zuerst im „Notizen“-Blog des Cargo-Magazins.

Der Junge und der Reiher
OT: Kimitachi wa dô ikiru ka
Japan 2023

R: Hayao Myazaki – B: Hayao Miyazaki – P: Toshio Suzuki – Sch: Rie Matsubara, Takeshi Seyama, Akane Shiraish – K: Atushi Okui – M: Joe Hisaishi – V: Wild Bunch – L: 124 Min. – Filmstart in Deutschland: 01.01.2024

Ekkehard Knörer, geboren 1971, in Würzburg, Austin (Texas) und Frankfurt (Oder) Deutsch, Englisch, Philosophie, Kulturwissenschaften studiert. Promoviert zur Theorie von Ingenium und Witz von Gracián bis Jean Paul. Von 1998 bis 2008 die Filmkritik-Website Jump Cut betrieben. Texte zu Film, Theater, Literatur für Perlentaucher, taz, Freitag, diverse andere Medien. Seit 2012 Redakteur, seit 2017 auch Mitherausgeber des Merkur. Ebenfalls Mitherausgeber des Filmmagazins Cargo.