„Wer ist schuld?“

In ihrer neuen Graphic Novel „Das Gutachten“ lässt Jennifer Daniel die späten 1970er auferstehen. Aber nicht als das Disco- und Flower-Power-Klischee, das gemeinhin in der Popkultur bedient wird, sondern die spießige BRD-Variante mit all ihren Widersprüchlichkeiten zwischen Aufbruch und Mief, zwischen Revolte und Regress. Im Bonn von 1977, das Hauptstadt und Provinz zugleich ist, im Umfeld des Kanzlerfests von Helmut und Loki Schmidt, inszeniert die in Bonn aufgewachsene Jennifer Daniel ein authentisches Krimidrama, das von Schuld und Sühne erzählt: Im Sommer 1977 ereignet sich auf einer Landstraße kurz hinter Bonn ein Autounfall. Die junge RAF-Sympathisantin Miriam Becker stirbt in ihrem Wagen und vom Unfallverursacher fehlt jede Spur. Herr Martin, ein kleiner Angestellter der Rechtsmedizin, hat ganz persönliche Gründe in diesem Fall genauer hinzuschauen. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit Jennifer Daniel mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlags.

Liebe Jennifer, vielen Dank erst mal, dass du dir die Zeit nimmst, um mit uns über dein neues Buch „Das Gutachten“ zu sprechen. Du arbeitest seit Jahren als Grafik- und Webdesignerin und Illustratorin für verschiedene Magazine und Agenturen. Welchen Stellenwert nimmt der Comic in deinem Schaffen ein?

Den Comic habe ich erst richtig während meines Studiums als Kommunikationsdesignerin für mich entdeckt. Natürlich habe ich auch als Kind die „Lustigen Taschenbücher“ gelesen, aber erst als ich „Maus” von Art Spiegelmann entdeckt habe und dann die Arbeiten von Martin tom Dieck oder Anke Feuchtenberger, wurde meine Liebe für das Medium Comic richtig entfacht. Ich schätze an meiner Arbeit, dass ich allein mit Stift und Papier eine ganze Welt erfinden kann und dabei nicht wie bei einem Film ein ganzes Team an Spezialisten benötige, um meine Ideen zu verwirklichen. Im Comic und ebenso bei meiner Arbeit als Illustratorin fasziniert und motiviert mich am meisten die Geschichte, die ich mit meinen Bildern erzählen kann.

2013 hast du dein Comicdebüt „Earth Unplugged“ im Berliner Jaja Verlag veröffentlicht. Kannst du uns ein bisschen über das Projekt erzählen?

„Earth unplugged” entstand damals als Abschlussarbeit zu meinem Studium. Zu dieser Zeit war ich sehr fasziniert von Endzeit-Science-Fiction und Aussteigerliteratur, etwa „Die Wand“ von Marlene Haushofer oder „Walden” von Henry David Thoreau. Ich stellte mir damals die Frage, wie sähe unsere Welt ohne Strom aus? Und versuchte, statt durch typische Katastrophendarstellungen die Frage mit leisen Bildern zu beantworten. So entstanden zwei Erzählebenen. Die junge Frau, die durch einen Total-Black-Out ihre bisher fremde Nachbarin kennenlernt, und die Heldin, die mit ihrem Raumschiff abstürzt und zurück zur Natur findet.

Auch fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung mag ich diese Arbeit sehr. Einerseits, weil ich das Thema nach wie vor spannend finde, aber auch, weil sich mir durch die Veröffentlichung ein neuer kreativer Weg eröffnet hat. Sich in Form des Comics auszudrücken und dabei frei und künstlerisch zu arbeiten, schätze ich seither sehr. Dafür bin ich Annette Köhn vom Jaja Verlag sehr dankbar.

Bild aus „Das Gutachten“ (Carlsen)

Dein neues Buch „Das Gutachten“ ist in Bonn 1977 angesiedelt, um die Tage und Wochen des Kanzlerfests von Helmut und Loki Schmidt herum. Im Nachwort schreibst du, dass dein Großvater und eine Sammlung von Fotos aus den 1970ern die Inspiration für die Erzählung waren. Kannst du uns etwas über die Anfänge des Projekts erzählen?

Im Grunde hat sich mir diese Geschichte aufgedrängt. 2017 habe ich an einem Comic-Workshop bei Birgit Weyhe teilgenommen, zu dem wir zwei Bilder mitbringen sollten. Darunter war ein Foto von meinem Großvater. Auf dem Schnappschuss, der auf der Rückseite mit Bonn 1977 datiert wurde, sitzt er er mit weißem Kittel neben einem adretten Mann in braunem Sportsakko. Sie sitzen in einem holzgetäfelten Büro der Bonner Rechtsmedizin. Zwischen Bakelit-Telefon und Aschenbecher liegen feinsäuberlich Akten und Fotoabzüge auf den braunen Büromöbeln. Im Workshop kam mir die Idee, dass dieser Ort der perfekte Schauplatz für einen Krimi ist. Dabei war es mir wichtig, nicht nur einen spannenden Plot zu schreiben, sondern auch möglichst authentisch und fühlbar die Stimmung der späten Siebziger in Bonn wiederzugeben. Hierzu habe ich viele der Orte, die mein Großvater fotografiert hat, sowie persönliche Familienerinnerungen in meine Graphic Novel einfließen lassen und mit historischen Ereignissen verbunden.

Dein Protagonist, Herr Martin, ist ein typischer Vertreter der kriegsgeschädigten Generation, die aus Schuld oder Trauma über die Zeit des Zweiten Weltkriegs schwiegen und alles in sich hineinfraßen. In beklemmenden Traumpassagen zeigst du, wie der Krieg Martin in seinen Erinnerungen heimsucht. Was war dir wichtig in der Darstellung von Herrn Martin und seinen Dämonen?

Bei der Entwicklung von meinem Protagonisten Herrn Martin habe ich viel über meinen eigenen Großvater nachgedacht und versucht, mich in seine Situation hineinzuversetzen. Wäre ich an seiner Stelle ebenfalls zum Täter geworden? Hätte ich den Mut gehabt, mich den Befehlen zu widersetzen? Wie würde sich diese Schuld und Scham anfühlen? Herr Martin wird in immer wiederkehrenden Albträumen von seinen Dämonen auf den Grund des Meeres gezogen. Das Bild des Ertrinkenden habe ich gewählt, weil es nicht nur beklemmend, sondern auch still ist und für mich für das Schweigen dieser Generation steht. Unter Wasser kann man bekanntlich nicht um Hilfe rufen. Und während Herr Martin nachts glaubt zu ertrinken, muss er sich tagsüber betrinken, um seine Dämonen in Schach zu halten. Auch hier steht Herr Martin für eine ganze Generation, die, statt über ihre Schuld zu sprechen, diese im Alkohol zu ertränken versuchte.

Sequenz aus „Das Gutachten“ (Carlsen)

Du wurdest auch in Bonn geboren, wenige Jahre vor der Wende, und bist dort aufgewachsen. Was verbindest du mit der Stadt? Welche (vergangenen?) Aspekte und Charakteristika der Stadt wolltest du in „Das Gutachten“ einfangen?

Wenn ich an Bonn denke, denke ich an „alte Bundesrepublik“ und meine Oma. Denn während ich in einem Vorort aufwuchs und mit neunzehn Jahren wegzog, lebte meine Oma ihr Leben lang in dem eher kleinen und verschlafenen Bonn. In den 1930ern geboren, erlebte sie, wie das vom Krieg zerstörte Bonn zu einer Bundeshauptstadt heranwuchs und Sinnbild für das deutsche Wirtschaftswunder wurde. Es ist nicht nur meine persönliche Verbindung, die mich an der Stadt fasziniert, sondern auch die Tatsache, dass in Bonn fast 40 Jahre das politische Herz der BRD schlug. Und obwohl diese Stadt einmal und so lange so wichtig war, gibt es verhältnismäßig wenig Geschichten, in denen Bonn eine Rolle spielt. Wenn ich in meiner Graphic Novel Bonn zeige, dann ist es das alte Bonn: die Konrad-Adenauer-Allee, an der alle wichtigen Regierungsgebäude angesiedelt waren, die Universität, die Villen der gutbürgerlichen und die Mietwohnungen der Arbeiterklasse.

1977 war einer der Höhepunkt der RAF-Panik, der sogenannte „Deutsche Herbst“. In dem Jahr wurde der Präsident des Bundesverbandes der Arbeitgeber, Hanns Martin Schleyer, in Köln entführt Was hat dich an diesem Aspekt der deutschen Zeitgeschichte interessiert?

Es ist der Generationenkonflikt, der mich hier am stärksten beschäftigt hat. Denn vor den gewaltsamen Anschlägen hatte die RAF die gleichen Ziele wie die Studentenbewegung der 60er Jahre. Sie kritisierten die Elterngeneration für ihre Taten während des Zweiten Weltkriegs, protestierten gegen den Kapitalismus und stellten die Existenz des bürgerlichen Staats in Frage. Meine Geschichte spielt nur wenige Monate, bevor der Terror der RAF seinen Höhepunkt erreicht, in einer Phase, die sich mit Ruhe vor dem Sturm beschreiben lässt. Die Studentin Miriam Becker sympathisiert, wie viele ihrer Kommilitonen zur damaligen Zeit, mit der RAF-Bewegung der ersten Generation, ist aber keine aktive Unterstützerin. Genauso wie der kriegsversehrte Herr Martin die Elterngeneration repräsentiert, steht Miriam Becker für die junge Generation, die sich gegen alte Machtstrukturen auflehnt.

Bild aus „Das Gutachten“ (Carlsen)

Wir haben ja über deinen Großvater gesprochen, der ein bisschen Pate stand für die Figur des Herrn Martin. „Das Gutachten“ ist aber natürlich kein Zeitdokument, sondern ein fiktiver Krimi. Welche Vorbilder hattest du noch für den Herrn Martin, was den Krimiaspekt deiner Erzählung anbelangt? Gab es geschichtliche Romane und Filme oder andere Comics, an denen du dich orientiert hast?

Das interessante an einem Krimi ist, dass die Leser*innen von Anfang an wissen: Wir suchen einen Täter. Denn in meiner Geschichte geht es auf mehreren Ebenen um die Frage: „Wer ist schuld?“. Sei es bei der Suche nach Miriam Beckers Mörder oder den Kriegsverbrechen, die Herr Martin in Form von Albträume immer wieder heimsuchen. Herr Martin ist kein typischer Ermittler, sondern ein ambitionierter Amateur. Das ermöglichte mir Ermittlungsmethoden zu erzählen, die unkonventionell sein dürfen. Ähnlich wie bei Agatha Christies „Miss Marpel“ läuft bei Herrn Martin nicht alles nach Vorschrift. Ansonsten habe ich mich viel mit der Gestaltung und Buchillustration der 60er und 70er Jahre beschäftigt. Denn ich wollte, dass meine Graphic Novel die Leser*innen bereits auf den ersten Blick in diese Zeit hineinzieht.

Könntest du uns zum Schluss ein bisschen über deinen grafischen Stil erzählen? Du hast einen sehr eigenen Strich, der an Magazinillustration erinnert, mit stilisierten Figuren und kaum Konturen. Arbeitest du digital oder analog? Worauf achtest du bei deiner Farbwahl?

Mein Stil ist eher untypisch für den Comic, denn er kommt fast ohne Outline aus und ist grafisch illustrativ. Ich arbeite viel mit Komposition und Farbe und meine Bilder sind vielmehr klar in ihrer Aussage, als dass sie die Wirklichkeit abbildeten. Das hat zum einen damit zu tun, dass ich als Illustratorin viel für Magazine zeichne. Und zum anderen habe ich mich immer mehr für die Comics interessiert, die nicht mit der klassischen schwarzen Outline (Ligne Claire) gezeichnet wurden. Die Farben spielen bei mir immer eine große Rolle. Bei „Das Gutachten“ war es mir wichtig, über die Farbpalette die Ästhetik der Zeit und damit das Gefühl der späten Siebziger zu transportieren. Ich hatte mir dafür eine feste Farbpalette zusammengestellt und je nach Szene kommen manche Farben stärker zum Einsatz.

Meine Graphic Novel ist am Computer entstanden. Und obwohl es eine digitale Arbeit ist, lasse ich die Leser*innen glauben, dass es sich hierbei um einen Mix aus Aquarell- und Gouachezeichnungen handle. Tatsächlich gab es zu Beginn die Idee, die 200 Seiten analog mit Pinsel und Papier zu zeichnen, aber das digitale Arbeiten bringt einige Vorzüge mit sich. Vor allem bin ich am Computer schneller.

Jennifer Daniel: „Das Gutachten“. Carlsen, Hamburg 2022. 208 Seiten. 25 Euro