Nordic Walking mit Ameisen

Alan Moores „Kino des Fegefeuers“ („Cinema Purgatorio“) hat ein paar interessante Experimente hervorgebracht. Letztes Jahr ist „A More Perfect Union“ von Max Brooks, Michael DiPascale und Gabriel Andrade erschienen und überrascht auf ganzer Linie.

„Cinema Purgatorio“ ist eine Comic-Anthologie, die von 2016 bis 2019 unter der Herausgeberschaft Alan Moores bei Avatar Press erschien. Zunächst wurde sie als Crowdfunding-Projekt auf Kickstarter initiiert, von 1.621 Unterstützer*innen mit 110.333 US Dollar gefördert. Die Idee, ursprünglich von Alan Moore und Kevin O`Neill, geht auf die Zielsetzung zurück, eine Horror-Anthologie in Schwarzweiß zu betreuen: „In a world of used ideas spun out into unending single-premise sagas and told in full cyber-enhanced Technicolor, unapologetically we offer up ‚Cinema Purgatorio‘, a black and white horror anthology which reaches for something both new and startling beyond the endlessly recycled characters and concepts of the 60s and the 70s“, so bewarb Moore das Projekt in der Kickstarter-Ankündigung.

Seit 2020 werden die in der Anthologie versammelten Geschichten bei Dantes veröffentlicht, allerdings nicht in der originalen Zusammenstellung, sondern in fünf abgeschlossenen Bänden: „The Vast“ von Christos Gage und Gabriel Andrade, „Modded“ von Kieron Gillen, Ignacio Calero und Nahuel Lopez, „Code Pru“ von Garth Ennis und Raulo Cáceres, „Cinema Purgatorio“ von Alan Moore und Kevin O’Neill und eben „A More Perfect Union“ von Max Brooks, Michael DiPascale und Gabriel Andrade.

Die deutschen Hardcoverausgaben von Dantes sind im Vergleich zum Original marginal verkleinert und weichen im Falle von „A More Perfect Union“ in der Seitenanordnung von der Kickstarter-Avatar-Ausgabe ab, also rechts statt links beginnend. Die ganze Serie ist, knapp gesagt, atemberaubend und saukomisch. „A More Perfect Union“ ist so unglaublich überraschend, weil alle Qualitäten der anderen Storys hier fehlen. Komplett.

Bild aus „A More Perfect Union“ (Dantes Verlag)

Die Handlung spielt in den Vereinigten Staaten von Amerika in den 1860er Jahren. Während in unserer Realität der amerikanische Bürgerkrieg zwischen dem Norden und Süden stattfand, tauscht Autor Max Brooks die menschlichen Gegner kurzerhand gegen Riesenameisen aus, und fertig ist „A More Perfect Union“. Mehr ist nicht zu erzählen, weil auf den 188 Seiten nicht viel mehr geschieht als das.

Anknüpfend an Horrorfilme der 1950er Jahre, in denen Spinnen („Tarantula“ 1955), Krabben („Attack of the Crab Monsters“ 1957) oder Spitzmäuse („The Killer Shrews“ 1959) die Menschheit bedrohen, lässt Max Brooks seine Ameisen zu Riesenkillern mutieren, was nur einfallsreich nennt, wer „Formicula“ (1954) nicht kennt, wo die Mega-Ameisen ein Nebenprodukt militärischer Atomtests sind. Max Brooks, Autor des Zombie-Romans „World War Z“ (2006, verfilmt 2013) und Sohn des Schauspielers Mel Brooks, hat sein Bestseller-Erfolgsrezept nur geringfügig modifiziert: Statt gegen Zombies geht es nun also gegen Riesenameisen. Schulter an Schulter mit Soldaten anderer Hautfarbe und Hand in Hand mit weiblichen Streitkräften. Gemeinsame Gegner mobilisieren ungewohnte Solidarität.

Brooks lässt sich anfangs sehr viel Zeit und ergänzt seine alternate history um Fakten aus den Schulbüchern: Wir lesen in kurzen Erläuterungen etwas über General Custer, die Schlacht von Gettysburg, die Funktionsweise von Musketen. Das Problem ist aber, dass die Story in den 18 Ausgaben, die „Cinema Purgatorio“ erleben durfte, völlig planlos auf der Stelle trampelt: Natürlich hätte daraus eine Allegorie auf die Differenzen zwischen Gesellschaftsgruppen werden können, aber über ein paar Andeutungen kommt Brooks nicht hinaus. Selbst nach mehr als hundert Seiten entwickelt die Story keine spannenden Figuren, keine interessanten Konflikte (außer dem Ameisenarmageddon) und keine witzigen Dialoge.

Bild aus „A More Perfect Union“ (Dantes Verlag)

Nach der siebten Ausgabe, also dem siebten Kapitel der vorliegenden Veröffentlichung, stieg der Zeichner Michael DiPascale aus. Auf Facebook schrieb er am 1. September 2016: „Today I uploaded my final work for Avatar Press. At this time I have severed all ties with the publisher.“ Und auf Nachfrage eines Fans führt er an anderer Stelle aus: „I had enough of how that company does business, treats it’s artists and the content they publish.“ Auf eine persönliche Nachfrage per E-Mail antwortet DiPascale: „I had no creative input, all artists at Avatar were ‚work for hire‘. I was tired, with the content, the deadlines and the overall grind of doing painted covers and painted pages. I wasn’t going to get a higher rate unless I left, so I left.“

Nachdem eine Zusammenarbeit mit German Ponce nach einigen Probeseiten scheiterte, stieg Gabriel Andrade („The Vast“) ein und übernahm die visuelle Gestaltung nun in strengem Schwarzweiß anstelle von DiPascales Graustufenstil. Aber Andrade macht es nicht besser: Die Monster sind nicht monströs, die Handlung bleibt so dynamisch wie eine erschöpfte Nordic-Walking-Truppe im Nieselregen. Und mit dem Vergleich tut man den Walker*innen eher Unrecht als dem Comic…

Zu erwähnen sind die Kommentare, die alle „Cinema-Purgatorio“-Bände bereichern. Max Brooks hat jedem Kapitel eine Reihe von Anmerkungen angeschlossen: „Weil in meiner ‚alternativen Geschichte‘ von den wirklichen Begebenheiten abweichende Ereignissen geschildert werden und real existiert habende Personen vorkommen, halte ich es für angebracht, ein paar Auskünfte darüber zu geben, was tatsächlich vorgefallen ist und wer die historischen Persönlichkeiten nun eigentlich genau waren.“ Insofern das meiste sich aus den entsprechenden Wikipedia-Artikeln zusammenklauben ließe, ist das kein besonders großer Mehrwert. Wesentlich unterhaltsamer sind da schon die Endnoten des deutschen Verlegers Josua Dantes, die Kapitel für Kapitel ergänzen. Darin erfahren wir etwas über die im Text genannten Lieder, Orte, Personen oder schwer zu übertragenden Stichwörter. Diese Abschweifungen sind durchaus spannend, wenngleich ein Hinweis auf die Webseite der US-amerikanischen Comic-Fans Alexx Kay und Joe Linton freundlich gewesen wäre, deren Anmerkungen zu „A More Perfect Union“ in manchem Punkt noch darüber hinausgehen. Zum Glück ist kürzlich der Abschlussband erhältlich, die titelgebende Story von Alan Moore und Kevin O’Neill.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Max Brooks (Autor), Michael DiPascale, Gabriel Andrade (Zeichner): „A More Perfect Union“. Aus dem Englischen von Jens R. Nielsen. Dantes Verlag, Mannheim 2021. 188 Seiten. 25 Euro