Das Gefühl von Fremdheit

Der 5. Band der Reihe „Der Araber von morgen“ beginnt mit einem Bruch: Die Familie Sattouf ist endgültig nach Frankreich gezogen – und damit beginnt für Riad, der inzwischen 14 Jahre alt ist, ein neues Leben. Und das Buch beginnt mit einer Katastrophe, denn der Vater ist nach kurzer Zeit in Frankreich nach Syrien gegangen und hat den Bruder Fadi mitgenommen – ohne das mit der Familie abzusprechen.

Für die Mutter, Riad und seinen kleinen Bruder ist das eine Entführung. Allerdings darf die Polizei sich nicht einmischen, weil die Eltern nach wie vor verheiratet sind und der Vater dasselbe Sorgerecht für seinen Sohn hat wie die Mutter. Riad muss also gleichzeitig mit einer Familienkatastrophe und seiner Pubertät zurechtkommen, und dann zieht er auch noch in eine völlig neue Umgebung.

Der junge Riad Sattouf kommt nur schlecht mit diesen Herausforderungen klar. Das hat auch damit zu tun, dass sein Umfeld kein Verständnis für ihn hat. In der Schule hat er zwar ein paar Freunde, zugleich wird er aber auch gehänselt. Sein Name Sattouf wird verballhornt: „Saudoof – treudoof – Bauernhof“, ruft immer wieder ein Mitschüler.

Riad Sattouf: „Der Araber von morgen Bd. 5“.
Aus dem Französischen von Andreas Platthaus. Penguin Verlag, München 2021. 184 Seiten. 24 Euro

Seine Mutter ist vor allem mit sich selbst beschäftigt und versucht mit allen Mitteln, dass der Bruder wieder zurückkommt. Sie schreibt sogar der Frau von Präsident Mitterrand, die Hilfe des Auswärtigen Amts zusagt. Und als sie sich dort meldet, muss sie erst mal die fremdenfeindlichen Tiraden der Beamten über sich ergehen lassen.

An allen Ecken warten also Demütigungen für Riad und seine Familie, und zugleich sind die Erfahrungen so extrem, dass das für andere kaum nachvollziehbar ist. Als sich Riad zum Beispiel dem Mädchen offenbart, in das er verliebt ist und die eigentlich schwer in Ordnung ist – da hält diese die Entführung des Bruders durch den Vater für einen lustigen Scherz. Riad ist also komplett auf sich allein gestellt und mit seiner Andersartigkeit genauso ein Außenseiter, wie er das vorher schon in Syrien war.

Das Erstaunliche ist, dass Sattouf uns mit der Geschichte einiges zumutet – und dass die trotzdem mit einer gewissen Leichtigkeit daherkommt. Das hat zwei Gründe: Zum einen hat Sattouf das im Stil der Funny-Comics, ganz ähnlich wie zum Beispiel die Peanuts, gezeichnet. Da fliegen also schon mal die Schweißperlen. Dieser Zeichenstil jedenfalls vermittelt eine gewisse Leichtigkeit.

Und: Riad Sattouf erzählt aus der Sicht des pubertierenden Jungen. Auf diese Weise schafft er dann doch wieder eine Nähe, weil die pubertäre Selbstfindung eine sehr universelle Erfahrung ist: Es geht um die erste Liebe, darum, dass man seinen Musikgeschmack entdeckt, seine Talente. Bei Riad ist es das Zeichnen, das ihm schließlich Anerkennung auch von den Wortführern der Schule bringt. So intensiv ist mir das Gefühl von Fremdheit noch nicht nahegebracht worden.

Der Bruder Fadi wird nicht nach Frankreich zurückkehren. Aber der Vater wird Riad und seine Familie in Frankreich besuchen. Es wird viel Streit bei diesem Besuch geben, und der wird trotzdem ein Lichtblick sein. Denn Riad kann einen anderen Blick auf seinen Vater werfen. Bislang war er immer der starke, der entschieden hat und die Familie musste folgen. Und jetzt sieht Riad, wie alt und schwach er geworden ist.

Das Buch heißt „Der Araber von morgen“, weil der Vater an den Aufbruch in der arabischen Welt glaubte – er kam aus armen bäuerlichen Verhältnissen und konnte wegen der sozialistischen Bildungspolitik einen Abschluss an der Sorbonne machen. Diese Erfolgsgeschichte ist leider nicht weitergegangen. Die Politik in Syrien wurde immer repressiver und die Hoffnung, die den Vater am Anfang getragen hat, ist verflogen. Riad sieht, wie der Vater ein Produkt der Verhältnisse geworden ist. Und in seiner Schwäche verspricht er, dass er den Bruder Fadi nach Frankreich schickt – das ist der Cliffhanger für die nächste Folge.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03.06.2021 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Bild aus „Der Araber von morgen, Band 5“ (Penguin Verlag)