Comicland Spanien – Leseempfehlungen

In diesem Jahr ist Spanien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Die von André Höchemer zu diesem Anlass herausgegebene Publikation „Comic mit Akzent“ liefert einen Überblick über das Comicland Spanien, kann hier gratis heruntergeladen werden und ist ein Lektüretipp für alle, die nicht vor Ort sein können. Wir haben ein Dossier mit neuen und älteren Werken spanischer Comickünstler*innen zusammengestellt.

Familienporträt und gezeichnete Geschichte Spaniens – „Der gebrochene Flügel“

Als seine Mutter als 80-jährige, gebrechliche Frau stirbt, da erfährt Antonio Altarriba zum ersten Mal, dass sie einen steifen Arm hatte. Schon immer. Denn ihr Vater wollte sie als Neugeborene mit einem Stein erschlagen und traf nur den Arm. Er war außer sich, weil seine geliebte Frau bei der Geburt gestorben war. So beginnt die Graphic Novel „Der gebrochene Flügel“ (Avant-Verlag, 2019). Antonio Altarriba erzählt darin die Geschichte seiner Mutter Petra, die ihren Makel immer verborgen hat, weil sie funktionieren und parieren musste, um zu überleben.

Antonio Altarriba: „Das Leben der Frauen in Spanien zu Beginn des Jahrhunderts war ungeheuer hart und völlig abhängig von Männern, und zwar bis in die 70er Jahre. Frauen hatten in Spanien weder das aktive noch das passive Wahlrecht und konnten nicht mal ein Bankkonto eröffnen. Sie waren vom Willen ihres Vaters abhängig und dann von ihrem Ehemann. Um diese Abhängigkeit darzustellen, habe ich jedes Kapitel, dass das Leben meiner Mutter erzählt, mit dem Porträt eines Mannes eingeleitet.“

Die Bilder zur Biografie hat der spanische Comickünstler Kim gezeichnet. Mit prägnanten Strichen zeichnet er den Menschen die bittere Armut ins Gesicht – und überzeichnet sie zugleich so, als wären sie den Milieustudien von Zille entsprungen. Diesen Stil hatte Kim schon für die Comic-Biografie über Altarribas Vater entwickelt. Einem Mann aus ärmsten Verhältnissen, der im spanischen Bürgerkrieg für soziale Gerechtigkeit und gegen Franco gekämpft hatte, später im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler. Altarribas Mutter kam in dieser Geschichte nur als prüde Ehefrau vor.

© Avant-Verlag

Altarriba: „Meine Mutter war eine außerordentlich fromme Frau, sehr katholisch, sie hat viel gebetet und ist jeden Tag zur Kirche gegangen. Und die Ehe meiner Eltern war wie ein Spiegel der beiden Spanien, die im Bürgerkrieg gegeneinander gekämpft hatten: das konservative, religiöse Spanien und ein revolutionäres, soziales und fortschrittliches Spanien. Solche Ehen waren damals verbreitet – auf persönlicher Ebene war die Koexistenz gegensätzlicher Ideen also möglich.“

Dabei birgt das Leben von Altarribas Mutter weit mehr historischen Sprengstoff als das des Vaters. Denn zur Franco-Ära war sie Haushälterin eines Generals, der unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Altarriba lässt ihn im Comic von Francos Heeresminister persönlich hinrichten.

Altarriba: „Wir haben nur wenig und sehr unzuverlässiges Wissen über die Franco-Diktatur. Zum Beispiel heißt es immer, dass das Franco-Lager sehr geschlossen gewesen sei, während die Republikaner ideologisch zerrissen waren. Aber offenbar gab es auch im Franco-Lager Machtkämpfe – und das ist bis heute ein dunkles Kapitel. Die Hypothese, die ich über den Tod des General aufgestellt habe, ist nicht bestätigt, die meisten Historiker halten sie aber für wahrscheinlich.“

Altarriba macht in „Der gebrochene Flügel“ klar, was die spanische Diktatur für den Einzelnen bedeutet hat. Das ist die große Stärke seines Comics. Das Frappierende daran: Niemand war sich seines Lebens sicher, auch nicht die Franco-Anhänger. Auch deshalb kann Antonio Altarriba nicht verstehen, dass sich manche Spanier den Geist der Franco-Zeit zurück wünschen.

Altarriba: „Wir haben in derselben Woche Europawahlen und Kommunalwahlen. Und in einigen Regionen wird über die Franco-Diktatur diskutiert, als sei das eine Alternative für Spanien. Deutsche können vermutlich auch nicht nachvollziehen, dass ein Faschist und Hitler-Freund wie Franco immer noch in einem prächtigen Mausoleum begraben liegt, das von Zwangsarbeitern erbaut wurde. Wir müssen diese Zeit aufarbeiten, auch um unsere Demokratie zu sichern. Wir sollten uns darauf einigen, dass unsere Demokratie auf freiheitlichen Werten beruht.“
ANDREA HEINZE

Ein Serienkiller in der Franco-Diktatur – „Contrapaso“

Madrid 1956: Der knorrige alte Falangist (also Sympathisant der anfänglichen faschistischen Ideen) Emilio Sanz arbeitet als Lokalreporter bei der Zeitung „La Capital“. Er ist zutiefst systemkritisch und weiß, dass die herrschende Franco-Diktatur vermeintliche Verbrecher hinrichtet, um den Eindruck der schönen neuen Welt nicht zu stören. In die passt es nämlich gar nicht, dass seit 1938 eine Serie von Frauenmorden die Hauptstadt erschüttert, die immer wieder unter den Teppich gekehrt werden.

Als die nächste Leiche aufgefunden wird, macht er sich mit dem Neuankömmling Léon Lenoir, der aus Frankreich in die Heimat zurückgekehrt ist, ans investigative Werk. Die Indizien lenken die Fährte in Richtung des Krankenhauses San Carlos und den dort angestellten Krankenschwestern und Ärzten. Die Ermittler stoßen auf ein Netz faschistischer Brutalitäten: Ärzte, die einst Menschenexperimente in Konzentrationslagern durchführten und nun Euthanasie-erprobte Behandlungsmethoden anwenden, Krankenschwestern, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Schließlich wird auch ein Arzt, der eine Geburtsklinik betreibt, in der auffällig viele Kinder angeblich tot geboren werden und verschwinden, ermordet aufgefunden.

© Splitter Verlag

In einer spektakulären Mischung aus Detektivgeschichte, Psychothriller und historischem Zeitbild schildert Teresa Valero in der auf zwei Bände angelegten Graphic Novel „Contrapaso“ (Splitter Verlag, 2021) das ganz düstere Kapitel, dem Spanien von 1936 bis 1975 unter der Knute des faschistischen Diktators Francisco Franco ausgesetzt war. Auf Schildern und Fenstern wird „Brot und Gesang“ propagiert, dafür bezahlt man mit Repression, Terror und Willkür, weshalb die Mordserie natürlich erst einmal totgeschwiegen und umgedeutet wird.

Das Handeln der Ärzte ist den Prämissen der sogenannten „Rassentheorien“ verpflichtet, die auch vor perfiden Geschäften nicht zurückschrecken: Tatsächlich lässt man in der Geburtsklinik Kinder von minderjährigen Müttern verschwinden, um sie reichen Familien zu verkaufen. Mitten in diese Gemengelage platzt der „hard boiled“-Journalist und im Grunde auch Detektiv Sanz, der versucht, seine moralische Enttäuschung mithilfe der Suche nach Wahrheit zu heilen. Sein ungleicher Sidekick Léon – ganz klassisch erwächst aus dem anfänglich ruppigen Umgang letztlich die Akzeptanz von Buddy Sanz – verkörpert das Leitmotiv des Bandes: Als Halbwaise, der in Spanien bei seinem Onkel, einem Armeeoffizier, aufwuchs, ist auch er eines der „Kinder der Anderen“, um die sich die Verschwörung maßgeblich rankt, deren Spur bis ins Gefängnis nach Malaga führt.

Packend, spannend, empörend und zeitgenössisch treffend fügt sich dieser erste Band zu einem Sittenbild einer vergessen geglaubten Welt, die aus heutiger Sicht irreal und zugleich ebenso bedrohlich scheint wie das faschistische Griechenland in „Z“ von Constantin Costa-Gavras. Bleibt zu hoffen, dass wir noch mehr von Teresa Valero zu sehen und lesen bekommen werden.
HOLGER BACHMANN

Dem Vergessen entreißen – „Rückkehr nach Eden“

Stets wiederkehrende Themen im Werk des spanischen Comicautors Paco Roca sind das Erinnern und viel mehr noch dessen negatorisches Pendant: das Vergessen. In seiner 2013 auf deutsch erschienen Graphic Novel „Kopf in den Wolken“ erkennt ein an schwerer Demenz erkrankter älterer Mann, dass ihm mit dem zunehmenden Verlust seiner Erinnerung nichts anderes übrig bleibt, als sich ganz ins Hier und Jetzt hineinzuwerfen und sich so gegen die schleichende Auflösung seiner personalen Identität aufzulehnen. Ein Comicroman, vorwiegend in braunen und orangenen Ockertönen gehalten, als existenzialistischer Kommentar zu den unangenehmen, meist kollektiv verdrängten Begleiterscheinungen des Alterungsprozesses. In „Die Heimatlosen“ (2015) widmete sich Roca den kaum erinnerten Helden des Zweiten Weltkrieges, nämlich den nach Frankreich exilierten ehemaligen Kämpfern des Spanischen Bürgerkrieges, die sich der Résistance anschlossen und 1944 in vorderster Front an der Befreiung der französischen Hauptstadt beteiligt waren. Ihre Hoffnung, nach Ende des Nationalsozialismus mithilfe der Alliierten auch das reaktionäre franquistische Regime zu stürzen, erfüllte sich freilich nicht. Man hatte sie schlicht vergessen.

„Rückkehr nach Eden“ (Reprodukt, 2021) setzt zeitlich an genau diesem Punkt, dem ersten Jahrzehnt nach Ende des Spanischen Bürgerkrieges, ein. Dreh- und Angelpunkt des Buches ist eine Fotografie, welche die Mutter des Autors als junge Frau zusammen mit weiteren Familienmitgliedern zeigt und vermutlich im Sommer des Jahres 1946 entstanden ist. Zeit ihres Lebens besaß dieses Foto eine besondere Bedeutung für die Frau, der zwischenzeitliche Verlust desselben erschien ihr als absolute Katastrophe. Angestoßen durch die Frage, warum ihr diese Fotografie so viel bedeutete, rekonstruiert Paco Roca den Kontext deren Entstehung und entwirft auf diese Weise ein einfühlendes Portrait einer im Zerfall begriffenen Kernfamilie vor dem Hintergrund einer von Armut und kollektiver Trauer, aber auch von Hoffnung und Überlebenswillen gekennzeichneten Nachkriegsgesellschaft.

© Reprodukt

Im Gegensatz zu den bisherigen Werken Rocas handelt es sich bei „Rückkehr nach Eden“ weniger um eine Erzählung, dazu fehlt hier schlicht die Ereignishaftigkeit, zumindest in einem streng erzähltheoretischen Sinne. Viel zu sehr fügen sich die Personen in das ihnen auferlegte Schicksal eines Lebens in Entbehrung und Diktatur, sie suchen und finden ihren Platz in der Gesellschaft des franquistischen Nachkriegsspaniens und richten sich dort in einem privatistischem Biedermeier ein. Statt Narration wählt der Comicautor vielmehr einen eher deskriptiven Darstellungsstil, mit dem Historiographie im Sinne einer „Mikrogeschichte“ vom Leben „außergewöhnlich gewöhnlicher Menschen“ (Carlo Ginzburg) geschrieben wird.

Konkret geht es dabei vor allem um die Kindheit und Jugend der Mutter Paco Rocas, Antonia, die wiederum ein sehr inniges Verhältnis zu ihrer Mutter Carmen hat. Diese erweist sich als sehr gläubige Katholikin, die die Härten des irdischen Lebens in der Gewissheit auf ein jenseitiges Seelenheil geradezu stoisch erträgt. Der Vater Vicente ist ein egoistischer und gewalttätiger Taugenichts, der zwar einst auf Seiten der linksgerichteten Republikaner gegen Franco kämpfte, über dessen dahingehenden Motive man allerdings im Unklaren bleibt. Als Helden, selbst als einen tragischen, weil (kriegs-)traumatisierten, mag man ihn ganz sicher nicht bezeichnen. Während manche ihrer Geschwister der rigiden moralischen Enge, die sowohl die in sukzessiver Auflösung befindliche Familie als auch die spanische Nachkriegsgesellschaft als Ganze kennzeichnet, zu entfliehen versuchen, arrangiert sich Antonia dagegen ganz und gar mit ihrem Schicksal, was sie umso mehr mit ihrer Mutter zusammenschweißt.

Wenn oben von fehlender Ereignishaftigkeit die Rede war, so lässt sich das allenfalls von der diegetischen Seite des Comics sagen. Denn in ästhetischer Hinsicht ist er ein Ereignis durch und durch. Paco Roca, stilistisch ein Vertreter der (Neo-)Ligne Claire mit Vorliebe für Sepiatöne, nutzt das ganze Repertoire der Bildsprache des Comic, um einerseits sehr feinfühlig die Gesellschaft des frühen franquistischen Spaniens zu porträtieren (dabei an Mario Camus‘ großartigen Film „Der Bienenkorb“ erinnernd). Andererseits geht es um universelle Themen wie Selbstbestimmung und Schicksal, Leben und Tod, und insbesondere um die Frage, an was und wen auf welche Weise erinnert werden wird. Das Thema des Erinnerns (und Vergessens) wird sehr raffiniert z. B. über intratextuelle Verweise oder dem Spiel mit comicspezifischen Möglichkeiten des Auf-, Ein- und Ausschließens in bzw. aus dem Bildraum verhandelt (siehe Abbildungen). Gerade vor dem Hintergrund der stark umkämpften Erinnerungskultur im heutigen Spanien haben solche ästhetischen „Spielereien“ einen durchaus ernsten, politischen Anspruch.
MARIO ZEHE

Hochzeit des Franquismus – „Der Winter des Zeichners“ und „Die Kunst zu fliegen“

Dieser Text erschien zuerst am 10.11.2012 in der taz.

Spanische Comics sind auf dem deutschen Markt kaum präsent. Das war nicht immer so: Etwas ältere Leser, die schon in den Achtzigern dabei waren, erinnern sich gern an das Chaoten-Duo „Clever & Smart“, an Antonio Hernandez Palacios’ Ritter-Serie „El Cid“ oder an die todschick gezeichneten, retrofuturistischen „Rocco Vargas“-Abenteuer von Daniel Torres. Danach ist der Faden ziemlich gerissen. Umso schöner daher, dass im Herbst 2012 gleich zwei ästhetisch wie zeitgeschichtlich relevante Graphic Novels iberischer Provenienz erschienen sind.

„Der Winter des Zeichners“ (Reprodukt, 2012) beginnt im Barcelona des Frühjahrs 1957. Der dort ansässige Verlag Bruguera dominiert mit seinen Publikationen die spanische Comic-Szene. Über eine Million Mal verkaufen sich jede Woche die Publikationen des strikt hierarchisch geführten Familienunternehmens. Alle wichtigen Zeichner arbeiten hier, und alle werden sie mit Knebelverträgen ausgebeutet. Sechs der besten begehren schließlich auf. Um die Rechte an ihren Werken nicht länger abtreten zu müssen und sich endlich an ein erwachsenes Publikum richten zu können, gründen sie Tio Vivo, ihr eigenes Magazin. Aber schon nach einem Jahr müssen sie aufgeben, weil sie der übermächtigen Konkurrenz von Bruguera nicht gewachsen sind.

So ist das alles damals tatsächlich passiert, und zugegeben: Es klingt auf Anhieb nicht besonders spannend. Aber „Der Winter des Zeichners“ ist keineswegs nur etwas für Leser mit ausgeprägtem comicgeschichtlichem Interesse. Am sehr speziellen Einzelfall gelingt es Paco Roca, die erstickende Atmosphäre, die während der Hochzeit des Franquismus allgemein herrschte, zu schildern.

© Reprodukt

Die Brüder Bruguera und ihr Programmleiter Rafael Gonzalez praktizieren einen Paternalismus, der auch vor emotionaler Erpressung der Angestellten nicht zurückschreckt: Alle haben gefälligst eine große, glückliche Familie zu sein! Dennoch gibt es keine klaren Fronten zwischen Gut und Böse. Jeder lebt hier letztlich in Angst, sowohl vor politischer Repression als auch vor dem Sturz in die Armut. Gerade der bissige Gonzalez ist im Grunde eine tragische Figur: Als Journalist hat er einst gegen Franco gekämpft; nach der Rückkehr aus dem französischen Exil muss er sich unauffällig verhalten und all seine Schriftstellerträume begraben.

Paco Roca erzählt nicht chronologisch, sondern kontrastiert geschickt Szenen, die den Ausbruch der Zeichner schildern, mit deren ernüchterter Rückkehr zu Bruguera. In der Gestaltung der Seiten ist das Vorbild filmischer Verfahren spürbar. Durch die Verwendung von Split-Panels verleiht Roca Statischem eine Dynamik, während er umgekehrt lange Gesprächsszenen gern in mehreren detailreichen Panels aus demselben Blickwinkel zeigt – sozusagen mit „statischer Kamera“.

Während „Der Winter des Zeichners“ in satten, jahreszeitlichen Farben gehalten ist, gibt es in „Die Kunst zu fliegen“(Avant-Verlag, 2012) nur ein sprödes, mit Grautönen versehenes Schwarzweiß. Die Graphic Novel beruht auf den ausführlichen autobiografischen Aufzeichnungen, die dem 1952 geborenen Schriftsteller Antonio Altarriba, von seinem Vater, der ebenfalls Antonio hieß, hinterlassen wurden. Anfang und Ende des erschütternden Bandes bildet der Selbstmord von Antonio Senior, der sich als 91-Jähriger im Jahr 2001, von schweren Depressionen geplagt, aus einem Fenster im vierten Stock seines von ihm gehassten Altenheims stürzte.

Zwischen diesen Eckmarken liegt die Schilderung eines durch äußere Umstände verpfuschten Lebens. Als Sohn eines brutalen Bauern in der tiefen Provinz geboren, kennt der junge Antonio nur ein Ziel: die Stadt Saragossa. Mit Mühe und Not hält er sich hier über Wasser, als der Bürgerkrieg ausbricht. Von den Idealen des Anarchismus entflammt, desertiert Antonio und schließt sich den republikanischen Truppen an. Bei deren Niederlage flieht er nach Frankreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er nach Spanien zurück, verstrickt sich widerwillig in eine bürgerliche Existenz und dubiose Geschäfte, bis er als alter Mann einsam, arm und verbittert dasteht.

Antonios Leidenschaft für das Autofahren und seine Fantasien vom Fliegen sind die Leitmotive der Graphic Novel. Die unbegrenzte Mobilität, die Flucht ins Blaue stehen für den unerfüllbaren Traum von einer besseren Welt ohne Klassenschranken, ohne Faschismus und autoritären Katholizismus, ohne eklige Doppelmoral. Die Zeichnungen von Kim, einem Veteranen der spanischen Underground-Comics, stellen sich ganz in den Dienst des Erzählten. Sie sind mitunter nicht frei von handwerklichen Schwächen – dies gilt vor allem für die hölzern wirkenden Sexszenen –, zeugen immer wieder aber auch von einem Blick für das sprechende Detail und von der Fähigkeit, pointiert-lakonisch Krieg und Elend darzustellen.

„Die Politik erfasste den Alltag, der Alltag wurde für uns Geschichte, und die Geschichte erschwerte das Leben“, heißt es an einer Stelle in „Die Kunst zu fliegen“. Was dieser schlichte Satz bedeuten kann – das machen Altarriba und Kim uns immer noch unbeschwerten Nachgeborenen in ebenso bedrückender wie künstlerisch überzeugender Weise deutlich.
CHRISTOPH HAAS

Thriller über spanische Finanzkrise – „Leichte Beute“

Ein altes Paar liegt tot im Ehebett. Der Mann mit Schlips und Kragen, seine rechte Hand leicht verkrampft. Die Kostümjacke der Frau ist bis oben zugeknöpft. Beide halten einander die Hand. Die ernsten Mienen hat Migelanxo Prado den beiden mit feinen schwarzen Linien ins Gesicht gezeichnet. So beginnt der Krimi „Leichte Beute“. „Eines Morgens – wir haben uns gerade Frühstück gemacht, das Radio lief – da hörte ich die Nachricht, dass ein altes Paar Selbstmord begangen hat – und der Grund dafür seien finanzielle Probleme gewesen.“

Als Miguelanxo Prado diese Nachricht hörte, hatte er gerade eine ernste Demenz-Geschichte abgeschlossen. Als Nächstes wollte er einen Krimi machen, ursprünglich als hübsche Genreübung gedacht, in der sich die Kommissare behakeln und das einzige unübersichtliche die vertrackten Wendungen der Ermittlungen sein sollten. „Als ich die Geschichte im Radio gehört habe, wurde mir zum ersten Mal klar, welche Ausmaße die Finanzkrise hat. Und dann dachte ich – ok, das ist eine gute Geschichte für einen Krimi. Allerdings war es dann plötzlich überhaupt kein Vergnügen mehr, diesen Krimi zu schreiben.“

© Carlsen

Bislang waren die Bücher von Prado sehr farbenfroh – auch bei ernsten Themen. „Leichte Beute“ dagegen hat er in Schwarz-Weiß gezeichnet – mit sehr vielen düsteren Grautönen. Die Kommissarin und ihr Assistent behakeln sich zwar noch, doch dabei wirken sie zu deprimiert, um unterhaltsam zu sein – zu müde und zu überfordert. „Ich habe immer wieder die Zeichnungen verändert – vor allem wenn Inspektor Tabares zu attraktiv wurde. Das war das erste Mal in meiner Karriere, dass ich das Gefühl hatte, ich muss mich selbst kontrollieren, damit die Zeichnungen nicht spektakulär werden. Denn die Leser sollten sich auf die Geschichte konzentrieren.“

Die Geschichte: Mehrere Bankangestellte unterschiedlicher Unternehmen werden ermordet. Später soll sich herausstellen, dass die Ermordeten exakt die Hierarchie eines Bankhauses abbilden. Ist da ein Serientäter am Werk? Die Spuren führen immer wieder in ein Altenheim – zu einer Reihe reizender Rentner, die allesamt ihre Ersparnisse bei Bankgeschäften verloren haben.

Die Hintergründe der Geschichte waren schnell recherchiert, meint Miguelanxo Prado. Die Zeitungen waren voll von Analysen zur spanischen Finanzkrise. Und auch unter Prados Freunden und unter seinen Familiemitgliedern hatten viele ihr Geld verloren. Alles hatte damit angefangen, dass Banken mehr Geld für eigene Anlagegeschäfte locker machen wollten. „Und dann haben sie beschlossen, das auf eine sehr einfache Weise, Geld zu machen – nämlich mit dem Geld von alten Leuten zu wirtschaften – also die typischen, sehr konservativen Anlagen der Eltern, die ihr Geld einfach auf einem Bankkonto haben. Es gab sehr viele Telefongespräche, in denen den Menschen vorgeschlagen wurde, das Geld zu sehr viel besseren Bedingungen anzulegen. Und die Frage war immer: Ist das sicher? Und die Antwort war ‚Ja‘.“

Miguelanxo Prado überträgt die Bankenkrise auf individuelle Schicksale. Er schildert die Geschichte des Bankangestellten, der seinen Job verliert, weil er die Kunden über die Risiken solcher Anlagen informiert. Er erzählt von Rentnern, die ihre Ersparnisse verlieren. Und von Gewinnern, die viel Geld mit der Krise verdienen und die die Verantwortung den Anlegern zuschieben. Es sei doch schließlich normal, dass man in Verträgen das Kleingedruckte liest.

Miguelanxo Prado beobachtet in vielen Teilen der Gesellschaft immer weniger Solidarität – auch im Unabhängigkeitsbestreben des reichen Katalonien. „Es sind dieselben Reden wie von Trump: America first, Catalonia first, Norditalien first, Nord Europa first. Und dann werden die Dinge problematisch. Es ist menschlich, dass man in schwierigen Situationen erst mal an die eigene Familie oder Gruppe denkt und nicht teilen will. Das ist, wie wenn Reiche keine Steuern zahlen wollen. Natürlich zahlt niemand gern Steuern. Die einzige Lösung, die ich sehe ist: Zurück zur Realität kommen. Aber es braucht eine ethische Übereinkunft, dass die, die mehr haben auch mehr geben. Nur so kann es eine ausgewogene Gesellschaft geben.“

Miguelanxo Prado schildert in seinen Büchern große Themen immer wieder aus der Perspektive von Schwachen – und von Alten. Denn die würden sonst kaum wahrgenommen, meint er. Über die große Jugendarbeitslosigkeit in Spanien werde auf der ganzen Welt berichtet, Altersarmut falle dagegen unter den Tisch. Mit „Leichte Beute“ nimmt Prado die Alten in den Blick und lässt sie nicht nur Opfer sein, sondern auch Täter. Schließlich ist es ein Krimi. „Einige meiner Redakteure haben sich einen Witz daraus gemacht und mir immer wieder Nachrichtenartikel geschickt und gesagt: Miguel, du musst das Buch schnell fertig machen – sonst wird es von der Realität überholt.
ANDREA HEINZE