Es ist offensichtlich, dass die Avengers derzeit Konjunktur haben. Die vier Verfilmungen, die zwischen 2012 und 2019 erschienen, sind allesamt unter den Top 12 der kommerziell erfolgreichsten Filme aller Zeiten zu finden. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht auch keine Überraschung, dass bei Taschen ein voluminöser Prachtband mit den ersten Comics der Superheldengruppe erschienen ist.
Superhelden sind die reinste Manifestation des „Höher, schneller, weiter“-Überbietungsprinzips der Moderne. Sie fliegen höher, laufen schneller, springen weiter, als irgendjemand es sich jemals hätte vorstellen können. Superman, The Flash oder Hulk sind eben nicht für halbe Sachen bekannt. Als jemand auf die Idee kam, dass man die ins Unermessliche übersteigerten Superkräfte nur noch durch plumpe Addition weiter in die Höhe treiben könne, wurden die Superheldenteams geboren. Aus dem Komparativ „Höher, schneller, weiter“ wurde der Superlativ der Superhelden: Höherer. Schneller. Weiterer.
Das erste Team-up geht zurück in die Anfangsjahre der Superhelden. Im Winter 1940 wurde in „All-Star-Comics“ #3 mit der Justice Society of America das erste Superheldenteam gegründet, ein Verbund von The Flash, Green Lantern, Hawkman und weiteren DC-Helden. Das Team blieb bis 1951 bestehen und wurde 1960 in leicht veränderter Form und mit neuem Namen wiederbelebt: Die Justice League of America wurde eine Erfolgsgeschichte, die Marvel dazu bewog, das Prinzip rasch zu kopieren. Ab November 1961 stellten Stan Lee und Jack Kirby die Comicwelt mit den Fantastic Four auf den Kopf, im September 1963 folgten die X-Men und zugleich erschienen die Avengers auf der Bildfläche der Comichefte. Dieser Kontext ist natürlich allen zeitgenössischen Leser*innen der ersten Avengers-Story bewusst gewesen, und so gehen Stan Lee und Jack Kirby auch offensiv damit um, indem sie gleich in #1 die Konkurrenz ins Spiel bringen: „We’ve gotta contact someone with equal powers … like the Fantastic Four!“ Die werden aber nur einen kurzen Auftritt in diesem Heft haben, im Zentrum stehen die Helden, die sich am Ende des Heftes einen eigenen Namen geben werden: die Avengers. Ersonnen von Stan Lee und Jack Kirby, bestanden sie ursprünglich aus Iron Man, Thor, Ant Man, Wasp und Hulk. Letzterer verließ die Gruppe bald wieder, um kurz darauf wieder eine eigene Serie zu bekommen, und in #4 stieß Captain America hinzu.
Der bei Taschen publizierte Band „The Avengers – Earth’s mightiest Super-Heroes Vol. 1: 1963-1965“ im Format großxriesig umfasst die ersten zwanzig Avengers-Hefte, die zwischen September 1963 und September 1965 erschienen sind. Den Comics ist eine fast 40-seitige Einführung von Comic-Legende Kurt Busiek („Astro City“, „Avengers“) vorangestellt, in der der Comic-Veteran mit großer Offenheit seine Erinnerungen mit den Leser*innen teilt: „I can’t always guarantee whether I what I know is historical truth or industry legend, whether it’s the complete story or just a piece of the iceberg.“ Das ist in der Tat auch schwierig angesichts der Legendenbildung um Stan Lee, und Busieks Einführung kommt leichtfüßig ohne Fußnoten aus, ist allerdings dafür auch ausgesprochen gut lesbar. Wer es akademischer mag, ist mit Charles Hatfields „Hand of Fire – The Comics Art of Jack Kirby“ (University Press of Mississippi, 2012) besser bedient.
Busiek schildert die Entstehungsgeschichte der Avengers als eine auf Jack Kirby zugeschnittene Zusammenstellung von dessen Figuren, damit er weiterhin sein normales Marvel-Pensum bewältigen könne. Das Vorwort ist außerdem reich und großformatig illustriert, sodass etwa die getuschten, noch nicht kolorierten Seiten die Zeichenkunst Kirbys sehr anschaulich machen. Der Kontrast zwischen den modernen Reproduktionen der Originale und den kolorierten Druckseiten der 1960er zeigt auch, wie die mäßige Druckqualität das Artwork beeinträchtigt hat.
Neben den Comics selbst sind auch die Werbeseiten und ab #5 die Briefe der Leser*innen abgedruckt, und diese geben einen sehr tiefen Einblick in die Begeisterung der Leser*innen, die immer wieder Hulks Schicksal diskutieren. So schreibt John Angell aus Winston-Salem: „I like Captain America and like him being in the Avengers, but it’s not fair to the Hulk.“ Fair ist es vielleicht nicht, dass Hulk kein dauerhaftes Mitglied der Avengers wurde, aber diese Freiheit in der Gruppenzusammensetzung macht die Serie auch sehr lebendig.
Der Band steht in der Verlagstradition der großformatigen Comic-Reproduktionen in Originalsprache, darunter die mit Eisner Awards prämierten Bücher über Winsor McCays „Little Nemo“ (2014, Eisner Award 2015), George Herrimans „Krazy Kat“ (2020, Eisner Award 2020), „The History of EC Comics“ (2020) und „Amazing Spider-Man“ (2021, Eisner Award for Best Publication Design 2022). Demnächst werden außerdem die ersten Storys der „Fantastic Four“ bei Taschen erscheinen.
Dass Taschen sich in der Formatierung der Publikationen den Überbietungsdrang der Superhelden zunutze macht, entspricht natürlich nicht der historischen Druckpraxis der Originalcomichefte, hat deren Credo allerdings verinnerlicht bzw. veräußerlicht, denn die Bände sind gewaltig in ihren Dimensionen, oder anders: Dickerer. Größerer. Schwererer. Diesen Band zu lesen, ist so irritierend wie Rotwein aus einem Bierhumpen zu trinken. Für Erwachsene mag es barbarisch klingen, aber wer als Kind einmal die gewöhnliche Apfelsaftschorle aus einem elterlichen Sektglas trinken durfte, wird sich vielleicht daran erinnern, dass die Form einen erheblichen Erlebnisunterschied macht. „The Avengers“ Vol. 1. 1963–1965 ist kein Pflichtkauf für Besitzer*innen der Masterworks-Ausgabe, aber was scheren Fans sich um Pflichtkäufe? Der Band ist auf jeden Fall außergewöhnlich. Außergewöhnlicher als viele andere. Außergewöhnlicherer.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.