„Heine steht am Beginn der Moderne. Wer ihn liest, wird merken, wie gegenwärtig er ist“

Heinrich Heine ist zweifellos einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte. Wie kein anderer Schriftsteller zuvor setzte er sich für die Freiheitsrechte des Menschen ein. Aber nicht nur in diesem Punkt erweist sich sein literarisches Schaffen als zeitlos. Heine schrieb ebenso eindrücklich wie scharfsichtig über die Unwägbarkeiten der Liebe, die Suche nach der eigenen Identität und die Verständigung zwischen Kulturkreisen. Er reflektierte auch die Gefahren von Nationalismus und die Hoffnung auf ein grenzenloses, friedvolles Europa.

Wie kann man sich dem Leben und Werk dieses Autors nähern? Das Osnabrücker Künstler*innen-Paar Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer, das zusammen schon die viel beachtete Adaption von „Im Westen nichts Neues“ und die Comicreportage „Liebe deinen Nächsten“ über die Arbeit der Seenotrettungsorganisation SOS Méditerranée veröffentlicht hat, würdigt das Leben und das Wirken Heinrich Heines nun in einer Graphic Novel, die Zeichenkunst und literarischen Text vereint und Heines schriftstellerisches Erbe neuartig in Szene setzt. Eickmeyer und von Borstel verwandeln seine Wortkunst in eine Bilderwelt, die die vielfältigen Lebensstationen von seiner Kindheit im napoleonisch geprägten Düsseldorf bis zu seinem langen Siechtum in seiner Matratzengruft in Paris aufzeigt. „Heinrich Heine – Eine Lebensfahrt“ entstand in Zusammenarbeit mit dem Heinrich-Heine-Institut in Heines Heimatstadt Düsseldorf, wo noch bis zum 30. April eine Ausstellung mit den Originalen von Peter Eickmeyer zu sehen ist. Im Presse-Interview sprechen Gaby von Borstel und Eickmeyer über die Bedeutung Heines.

Liebe Gaby, lieber Peter, danke, dass ihr euch für unser Interview die Zeit nehmt. Mich würde zuerst interessieren, wie ihr auf den Comic kamt? Seid ihr mit dem Medium aufgewachsen? Wie kam es dazu, dass ihr den Comic als Erzählmedium für euch entdeckt habt?

Peter Eickmeyer: Für mich kann ich sagen, dass ich von klein auf mit Comics groß geworden bin. Das waren zunächst die „Jungen-Comics“ wie „Bessy“ oder „Silberpfeil“ und dann der große Wow-Effekt mit dem Start vom „ZACK“. Ein Qualitätssprung was die Storys und erst recht das Visuelle angeht. So kann man schon sagen, dass ich franko-belgisch geprägt bin – egal ob ligne claire („Tim und Struppi“), Funnys („Asterix“ und „Lucky Luke“) oder „realistisch“ („Blueberry“). Man entwickelt sich natürlich weiter. Und heute interessiert mich eigentlich so gut wie alles. Und mit dem Medium der Graphic Novel finden ja auch viele neue Erzählweisen und Optiken eine Plattform.

Gaby von Borstel: Klar sind wir mit Comics aufgewachsen. Es gab ja schon ein großes Angebot. Auch wenn die Comics noch als ziemlich despektierlich angesehen wurden. Die Anarchie Donald Ducks oder Gastons hat es mir angetan. Uns haben Comics viel Freude bereitet. Die Möglichkeiten dieses Mediums, die Kreativität ist ja geradezu unerschöpflich, wie sie sich ja auch in der Entwicklung des Comics und der Graphic Novel spiegelt.

Euer erstes großes gemeinsames Projekt war eine Adaption von Erich Remarques „Im Westen nichts Neues“, die 2014 im Splitter Verlag erschienen ist. Wie kam es damals zu diesem Projekt und warum habt ihr euch diesen beklemmenden Stoff für eine Umsetzung ausgesucht?

PE & GvB: Wir hatten schon länger nach einem geeigneten Stoff für ein gemeinsames Projekt gesucht. Nun wohnen wir in der Nähe von Osnabrück. Und wenn man durch Osnabrück geht, kommt man an Remarque nicht vorbei. Das Remarque-Hotel, der Remarque-Ring und natürlich das Erich Maria Remarque-Friedenszentrum. Da lag es dann nahe, uns mit dem berühmtesten Werk von Erich Maria Remarque zu befassen. Das war so 2011/12. Dr. Thomas Schneider, der Leiter des Friedenszentrums, war von Anfang an von der Idee begeistert und hat uns bei der Klärung der Nutzungsrechte sehr geholfen. Rechteinhaber des Nachlasses von Remarque ist die University of New York. Darum zog sich das ganze Prozedere ein Jahr hin. So kamen wir eigentlich mehr durch Zufall in den „Sog“ der Gedenkfeierlichkeiten zum Ersten Weltkrieg 2014. Was aber für unser Buch ein idealer Startzeitpunkt war – schließlich ist der Roman von Remarque ja der Antikriegsroman zu diesem Krieg. Wir hatten ein großes Presseecho und Ausstellungen von San Francisco bis Tscheboksary.

Soeben erschien eure grafische Annäherung an das Leben und Werk Heinrich Heines. Welchen Bezug hattet ihr zu dem Dichter und Satiriker, bevor ihr euch an die dieses Projekt gemacht habt? Was verbindet ihr mit „Harry“?

PE: Natürlich war mir der Dichter Heinrich Heine bekannt. Aber mehr als die „Loreley“ oder „Deutschland. Ein Wintermärchen“ war mir nicht geläufig. Mittlerweile halte ich Gaby für eine ausgesprochene Heine-Kennerin – was auch ein wenig auf mich abgefärbt hat.

GvB: Die „Loreley“ fand man ja eher uninteressant oder irgendwie komisch. Was ja auch eigentlich auf einem Missverständnis beruht. „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“ aus seinem Gedicht „Nachtgedanken“ gehört wohl zu den bekanntesten Zeilen. Ein Dichter, der seine Heimat verlassen musste. Aber ging es in dem Gedicht nicht um seine Mutter? Und schon ist man mittendrin, wie Heine zu verstehen ist. Ein Dichter, der sich – verschlüsselt und ironisch – um seine Heimat sorgt und nach ihr sehnt. Ein politischer Journalist, der sich für Freiheit und Gerechtigkeit einsetzt. Wieso verschlüsselt? Aufgrund der Zensur. Es war die Zeit des Bürgertums, das sich gegenüber den Herrschenden durchzusetzen begann. „Harry“ war Teil des Bürgertums, aber auch aufgrund seiner jüdischen Herkunft Außenseiter. Früh fand er sich sich in einer oppositionellen Rolle wieder, die er schon in jungen Jahren zu pflegen begann. Diese Rolle ist auch von Anfang an für Heine mit der Literatur verbunden. Zur Klärung: „Harry“ Heine stammt aus einer jüdischen Familie. Erst mit seiner protestantischen Taufe wird er zu Christian Johann Heinrich Heine.

Habt ihr Lieblingstexte von Heine? Was ist euch näher, seine Prosa oder seine Lyrik?

PE: Natürlich steht Heinrich Heine zunächst einmal für große Prosa und Lyrik. Aber wen wir besonders auf unserer „Fahrt“ durch das Leben Heines kennen und schätzen gelernt haben, ist der politische Heine. Der Heine, der immer klar Stellung zu gesellschaftlichen Problemen nahm, der stets den Herrschenden – aber auch dem Volk – misstraute. Der sich letztendlich immer als Dichter verstand und sich vor keinen politischen Karren spannen ließ. Was ihm Börne ja auch immer vorwarf.

GvB: Da kann ich mich nicht entscheiden. Beides ist von großer Faszination. Seine Lyrik beginnt mit seinem Buch der Lieder. Sie sind sozusagen sein Frühwerk, seine Lehrjahre. Da gibt es reichlich, geradezu ermüdend viele Blümelein und Äugelein, aber auch schon sehr hintersinnige Pointen. Er strampelt sich frei, wird eloquenter. Und – nicht zu unterschätzen – Heine bringt die Alltagssprache in die Poesie. Deswegen kann man ihn auch heute so gut lesen. Seine späteren Zeitgedichte sind getragen von der Idee der Freiheit und Emanzipation. Provokant auch in Hinsicht auf das sogenannte sittliche Empfinden. Zu der Zeit unterstellte man ihm gern Charakterlosigkeit und Frivolität. In seinem Spätwerk aus seiner so selbst genannten „Matratzengruft“ – Heine war schwer krank und bis zu seinem Tod 1856 über 8 Jahre bettlägerig – wurde Gerechtigkeit gegenüber dem Individuum zu einem zentralen Thema. Diese Gedicht sind absolut zeitlos und für mich die Vollendung seiner Kunst.

Sein durchschlagendes Prosawerk beginnt mit seiner Harzreise. Heine beginnt ein neues Genre zu entwickeln. Das kulturelle und politische Feuilleton. Im Kulturellen versteckt Heine seine politischen Ansichten. Heine schreibt für die Deutschen und später auch für die Franzosen. Auch hier bringt er es zur Meisterschaft. Seine Texte sind ein idealer Einstieg, die Welt seiner Zeit zu verstehen. Ganz nach Heines Motto: „Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“

Heine ist fast Synonym mit dem Vormärz und den jungen oppositionellen Textern wie Georg Büchner, Friedrich Hebbel oder Ludwig Börne. Welche Rolle spielte Heine innerhalb der revolutionären Bewegung zwischen 1815–1845?

GvB: Heine wurde von Metternich kurzerhand dem „Jungen Deutschland“ zugeordnet, er galt ihm als Kopf – als geistiger Vater – desselben. Das „Junge Deutschland“, ein loser Verbund oppositioneller Schriftsteller, kritisierte die Missstände der Zeit und trat für liberale und demokratische Werte ein. Im Jahr 1835 wurde es verboten. Das Verbot galt für erschienene Schriften, aber auch für alle zukünftigen Werke der im Verbot aufgeführten Autoren. Die Zensur hatte sich also von den Werken auf den Schriftsteller verlagert. Heine selbst fühlte sich dem „Jungen Deutschland“ eigentlich nicht zugehörig. Der Vormärz war radikaler, offener in der Kritik und forderte klar eine Änderung der Gesellschaftsordnung. Mit Börne verband ihn eine Art Hassliebe. Natürlich kann man Heine den Strömungen Junges Deutschland und Vormärz zuordnen, auch wenn er seinen eigenen Weg ging.

Legendär auch Heines Spottgedicht an die deutschen Zensoren aus den „Reisebildern“, das nur aus Leerstellen bestand. Heine stand zeitlebens im Fokus der deutschen Zensur und verbrachte seinen Lebensabend im Exil in Frankreich. Könnt ihr uns ein bisschen über die Verfolgung Heines zu seiner Lebzeit erzählen? Wie wirkte sich das auf sein Schreiben aus?

GvB: Es gab in Deutschland ein ausgeklügeltes Zensursystem, in Preußen war die Zensur besonders streng. Das führte unter anderem bei der Vorzensur zu den Zensurstrichen, die an der Stelle des beanstandeten Textes standen. Heine machte sich nun über die Zensur lustig, indem er einen Text schrieb, der nur aus den folgenden Worten bestand: „Die deutschen Zensoren“ und „Dummköpfe“ sowie aus sehr vielen Zensurstrichen. Die Zensurstriche wurden einige Zeit später dann auch verboten.

Heine sah keine Zukunft für sich in Deutschland. Seine Stellung als oppositioneller Schriftsteller, zudem die für ihn als Jude trotz protestantischer Taufe fehlenden Möglichkeiten, sich beruflich zu etablieren, führten 1831 zu dem Entschluss, nach Paris zu gehen. Da war er 34 Jahre alt. Paris galt damals als das kulturelle und freie Zentrum der europäischen Welt. Für Heine war es zunächst eine „freiwillige“ Flucht in die Freiheit. Einige Zeit später wurde aus diesem freiwilligen Exil jedoch ein erzwungenes. Heine konnte nicht mehr zurück nach Deutschland. Den Rest seines Lebens blieb er in Paris. Da er für die deutschen Leser schrieb und seine Werke in Deutschland veröffentlicht wurden, musste er weiter mit der Zensur umgehen. Er bracht es zur wahren Meisterschaft darin, unter Zensur zu schreiben. Seinen Ideenschmuggel betrieb er mit den Mitteln der Satire unter dem Damoklesschwert der Zensur.

Könnt ihr uns ein bisschen über eure Zusammenarbeit erzählen? Wie viel Einfluss hat Peter auf die Textebene? Und wie sehr kann Gaby auf die Bilder Einfluss nehmen?

GvB: Bild und Text gehen natürlich miteinander einher. Der Text bestimmt das Bild. Oder eben auch: Das Bild bestimmt den Text.

PE: Achtung! Satire! Bei uns ergänzen und potenzieren sie sich in ihrer Wirkung. Und am Ende jedes Projektes sind wir immer noch verheiratet.

Peter, ich würde gerne von dir erfahren, wie du zeichnest. Welche Techniken und Materialien verwendest du? Wie groß sind deine Originalzeichnungen? Für das neue Buch hast du dich für eine sehr pastellige, helle Kolorierung entschieden…

PE: Zunächst starte ich mit einer Fülle von Recherche-Skizzen. Bei „Im Westen nichts Neues“ sind die Bilder alle „händisch“ auf Karton entstanden. Es sind große (80 x 60 cm) Gouache-Tusche-Illustrationen, die in erdigen, dreckigen Farben Remarques Texte umsetzen sollen. Ich setze aber auch den Computer ein. So ist z. B. „Der zweite Mann“, die Geschichte der ersten Mondlandung, komplett am Computer koloriert. Bei „Heine“ sind es wieder die Gouache-Illustrationen. Da aber – wie du richtig sagst – in helleren Tönen.

Wie hat sich die Rezeption von Heines Werk in den letzten Jahren gewandelt? Was macht Heine als Autor und Denker heute noch so relevant?

GvB: Es hat lange Zeit gedauert, bis Heine in Deutschland anerkannt wurde. Er war zeitlebens und danach geradezu ein Seismograf der politischen Verhältnisse. Erst 1988 wurde zum Beispiel die Universität seiner Geburtsstadt Düsseldorf in „Heinrich-Heine-Universität“ umbenannt. Vorher konnte man sich nicht dazu durchringen. Interessant ist auch, wie sich die Rezeption Heines im damaligen West- und Ostdeutschland entwickelte. Erst in den Sechzigern und Siebzigern des letzten Jahrhunderts wurde Heine als politischer Schriftsteller und Dichter im damaligen Westen wiederentdeckt. Der Osten hatte ihn da schon lange als den ihren vereinnahmt. Heine steht am Beginn der Moderne. Wer ihn liest, wird merken, wie gegenwärtig er ist.

In Düsseldorf werden gerade im Heinrich-Heine-Institut die Arbeiten von Peter gezeigt. Könnt ihr uns zum Schluss ein bisschen über die Schau verraten?

PE: Da müssen wir ein ganz großes Dankeschön an das Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf machen. Wir hatten 2019 eine Ausstellungsbeteiligung mit Originalen aus „Im Westen nichts Neues“ im Rahmen der Ausstellung „Die Comic-Kunst des Erzählens“. So entstand der Kontakt und die Idee, eine Graphic Novel über das Leben von Heinrich Heine zu machen. Gemeinsames Ziel war es, bis zum Jahrestag des 225. Geburtstages 2022 das Projekt mit einer großen Sonderausstellung in Düsseldorf zu starten und Anfang 2023 das Buch zu veröffentlichen. Frau Dr. Sabine Brenner-Wilczek, Direktorin, und Jan-Birger von Holtum, stellvertretender Direktor, haben uns umfassend unterstützt. Wir konnten z. B. das komplette Archiv des Heine-Instituts nutzen.

In unserer Ausstellung zeigen wir über sechzig Originalillustrationen und auch Animationen einzelner Szenen. Dazu werden wir im Laufe der Ausstellung einige Workshops und Lesungen geben. Übrigens wurde die Ausstellung bereits bis in den August 2023 verlängert.

Habt ihr schon ein neues Projekt in der Mache?

PE & GvB: Aktuell erstellen wir gerade ein Comic-Buch für die Stadt Osnabrück zum 375. Jahrestag des Westfälischen Friedens. Zielgruppe sind die Viertklässler der Grundschulen, die beim jährlichen sogenannten „Steckenpferdreiten“ im Oktober an die Verkündung des Friedens erinnern. Unser großes langfristiges Projekt hat auch mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun. Wir arbeiten an der Umsetzung von Grimmelshausens „Abenteuerlichen Simplicissimus“ – dem ersten großen deutschen Prosaroman der Neuzeit.

Gaby von Borstel (Szenaristin), Peter Eickmeyer (Zeichner): Heinrich Heine – Eine Lebensfahrt • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 64 Seiten • Hardcover • 18,00 Euro