Narben auf der Realität

Was wäre, wenn die Mehrheit darüber entscheidet, was als wahr und was als „Fake“ zu gelten hat? Die Frage stellen sich James Tynion IV. und Martin Simmonds in „The Department of Truth“.

Seit einiger Zeit kursiert eine Videobotschaft des Bundeskanzlers Olaf Scholz im Netz, in der ein Verbot der AfD angekündigt wird. Urheber des Videos war aber nicht der Kanzler selbst, sondern das aktivistische Künstlerkollektiv „Zentrum für politische Schönheit“, das offenbar per KI-generiertem Deepfake und einer eigens dafür eingerichteten Website die Einleitung eines Verbotsverfahrens für die rechtsextreme Partei vorantreiben möchte. Der Fake ist leicht als solcher zu erkennen, doch es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis derlei Manipulationen selbst von Experten nicht mehr als Fälschung identifiziert werden können und wir im wortwörtlichen Sinne besser unseren Augen nicht mehr trauen sollten.

In dieser Welt des Simulacrums, in der Original und Kopie, Realität und Fiktion endgültig ineinandergefallen sind, lebt Cole Turner, der (Anti-)Held aus der Independent-Comicserie „The Department of Truth“, bereits. Der FBI-Agent und Experte für rechtsextreme Onlinekommunikation gerät nach einem Flugzeugtrip mit Teilnehmern einer Flat-Earth-Convention in einen Strudel sich überschlagender Ereignisse und Erkenntnisse: Die Erde ist eine Scheibe, Lee Harvey Oswald lebt, die Mondlandung wurde von Stanley Kubrik filmisch inszeniert, Bigfoots und Reptiloiden haben sich auf ihre je eigene Weise im Schatten der menschlichen Zivilisation eingerichtet. Die Frage stellt sich, was von dem, das Turner bisher als real erschienen ist, überhaupt noch gesichert als wahr gelten kann.

Autor James Tynion IV. und Zeichner Martin Simmonds haben für die noch unabgeschlossene Serie bislang 22 comic books gestaltet, die in den Jahren 2020 bis 2022 beim Indiecomiclabel Image erschienen und nun auf vier Sammelbände verteilt in deutscher Übersetzung beim Splitter-Verlag erhältlich sind. Seit etwa einem Jahr hat das Projekt der beiden Comickünstler, die parallel an zahlreichen weiteren Serien arbeiten, eine Pause eingelegt, doch spricht angesichts seiner Botschaft und deren gesellschaftlicher Relevanz nichts dafür, dass das Gemeinschaftswerk unvollendet bleiben sollte: dass sich nämlich die Realität stets dahin neigt, wo der Glaube – egal woran – stark genug ist. Umso mehr Menschen an ein bestimmtes Ereignis oder die Existenz von etwas glauben, desto eher wird das auch der Fall (gewesen) sein; magisches Denken und radikale Demokratie vermischen sich hier also auf sehr ungute Weise.

Die Serie bringt sich in die oben ausgebreitete Verunsicherung über den Zustand unserer Realität ein. Cole Turner wird durch das titelgebende „Ministerium für Wahrheit“ vom FBI abgeworben und Teil einer Gruppe von Agenten, die unerbittlich alles und jeden aus dem Weg räumen, welche der weiteren Verbreitung der alternativen Fakten und Post-Wahrheiten dienen könnten. Selbst jene, die unfreiwillig in Kontakt mit sogenannten „Fiktionen“ (zu Materie geronnen Fantasien und Einbildungen) gekommen sind, gelten im Krieg Realität vs. Realität als hinzunehmende Kollateralschäden, zumindest solange diese glauben, was sie einst gesehen haben.

„The Department of Truth“ lässt sich angesichts seiner gespenstischen Aura und der zahlreich auftretenden Monster als politisierten Horrorthriller bezeichnen, doch er enthält auch alle Motive der klassischen Spionageliteratur: (1.) Dass die Erschütterung der Realität als ein gezielter Angriff auf die Ordnungsfunktion des Staates zu werten ist, der dann entsprechende Maßnahmen zu ergreifen hat, um die ins Schwanken geratene Ordnung wiederherzustellen. Hier ist es die Geheimloge „Black Hat“, welche die Verschwörungsnarrative in Umlauf bringt und dem Staat die Kontrolle über das, was als wahr zu gelten hat, entreißen will. (2.) Dass die Trennlinie zwischen Freund und Feind im latenten Kriegszustand im Verborgenen verläuft. Agent Cole Turner weiß zwar ungefähr, was die feindliche Seite vorhat, bekommt es aber zunächst nur mit flüchtigen Schatten zu tun, die sich nicht recht fassen lassen. Dazu gehört auch, dass nicht immer klar ist, wer auf wessen Seite steht. Dadurch ergibt sich schließlich (3.), dass der Jäger schnell selbst zum Gejagten werden kann. Selbstverständlich hat die Loge Turner bereits längst im Visier, als dieser noch gar nicht so recht weiß, wie ihm gerade geschieht.

Martin Simmonds Zeichnungen verleihen der Erzählung James Tynion IV. im Stile des magischen Realismus eine faszinierend schaurige Atmosphäre, in der sich collagenhaft Reales und (Alb-)Traumhaftes überlagern. Trotz der farbigen Gestaltung überwiegt ein düsterer Eindruck, auf die im Grunde genommen realistisch gezeichneten Panels scheint ein Schleier gelegt, der ihnen einen Hauch des Mysteriösen verleiht, aber auch die beschädigte Oberfläche der Wirklichkeit andeutet. So heißt es passend im Verlaufe einer Szene, in der ein paar Agenten Jagd auf einen Bigfoot machen, dass es unmöglich sei, von den „Fiktionen“ ein scharfes Foto zu schießen, weil die Manifestationen aus den Verschwörungserzählungen Geistern gleichen, die den Beobachtern zwar erscheinen, aber doch nicht ganz existieren. Simmonds verwaschene und bekleckste Zeichnungen entsprechen am ehesten diesen optischen Störungen, an anderer Stelle ist wiederum passend die Rede von „Narben auf der Realität“.

So ist „The Department of Truth“ ein Comic, der die Zumutungen der Post-Truth-Ära gekonnt zu einer spannenden Geschichte verarbeitet. Der in der (Post-)Moderne verbreitete „Zweifel an der Realität der Realität“, wie ihn der französische Soziologe Luc Boltanski als symptomatisch für Paranoia und Verschwörungsglauben ansieht, aber auch als besonderen Reiz von Kriminal- und Spionageliteratur ausmacht, trieft der grafischen Erzählung aus jeder Pore. Dabei werden durchaus interessante ethische Fragen verhandelt, wie z. B. der Fall einer Mutter, die ihren Sohn bei einem Amoklauf verloren hat, wobei im Netz zirkulierende Verschwörungstheorien den Zweifel nähren, dass der Junge tatsächlich gestorben sei. Für die Mutter wäre das nach der oben ausgebreiteten Logik – die Mehrheit entscheidet über die Wahrheit – das Ende ihres Leides (der Junge lebt), für das Department aus Gründen der Staatsräson ein Ding der Unmöglichkeit. Doch manchmal schleicht sich der Eindruck ein, dass dem Erzähler eine gesunde kritische Distanz zu seinem Thema fehlt, stellenweise gerät die Erzählung über (zu) lange Abschnitte zu einem Parforceritt durch die Geschichte der Verschwörungserzählungen und verliert sich irgendwo zwischen ägyptischen Göttern, Freimauern und finsteren Absichten der US-Regierung. Bleibt zu hoffen, dass im irgendwann erscheinenden Finale der Serie ein zufriedenstellender Fluchtpunkt gefunden wird.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 12.12.2023 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

James Tynion IV. (Autor), Martin Simmonds (Zeichner): The Department of Truth Band 1-4 • Aus dem Englischen von Katrin Aust • Splitter Verlag, Bielefeld 2022/2023 • 144/176/184/144 Seiten • Hardcover • 22/27/28/25 Euro

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.