Über den Tod der russischen Menschenrechtsaktivistin Anna Politkowskaja hat der italienische Comiczeichner Igort bereits ein Werk veröffentlicht – und über die Ukraine nach deren Selbständigkeit. Seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine hat er sich wieder mit dem Land beschäftigt: „Bericht aus der Ukraine. Tagebuch einer Invasion“ ist der Comic der Stunde.
Die Nachrichtenbilder vom Krieg in der Ukraine verdichtet Igort in seinem Kriegstagebuch auf so berührende Weise, dass sie im Gedächtnis bleiben. Das gelingt auch, weil er zeigt, was der Krieg mit den Menschen macht. Wie sie Schlange stehen im Supermarkt – und wie der Ladenbesitzer sie abweist, als sie an der Reihe sind. Es gebe nicht einmal mehr Salz, sagt er im Comic. Die Alten hätten erzählt, dass es im Krieg kein Salz gab und das Essen nicht schmeckte. Jetzt wollten sie wenigstens Salz.
Krieg und Krisen haben sich tief in das Gedächtnis der Ukrainer*innen eingegraben. Das wird schon auf den ersten Seiten deutlich. Igort zeichnet diese Erfahrung immer wieder in die aktuellen Geschehnisse ein. Den Holodomor etwa – eine Hungersnot, die in den 1930er Jahren von der Sowjetführung verschuldet wurde und der bis zu 7 Millionen Ukrainer zum Opfer fielen.
Die Ukrainer, die vom Krieg überrascht werden, sind Freunde und Bekannte, mit denen Igort täglich telefoniert, wie er im Comic schreibt. Mit feinen, präzisen Linien zeichnet Igort diese Menschen und füllt deren Umrisse mit durchscheinenden Aquarellfarben. Zum Beispiel Maksim, der eigentlich in Belgien lebt und in die Ukraine gereist ist, weil seine Mutter fünf Tage zuvor an Covid gestorben ist. Nun kommt er nicht mehr zurück nach Belgien, weil junge ukrainische Männer bleiben müssen, um ihr Land zu verteidigen.
Neben den persönlichen Erlebnissen webt Igort immer wieder Recherchen ein. Über die Verwicklung der Söldnergruppe Wagner im Tschetschenien-Krieg. Über den rechtsradikalen Hintergrund des Asow-Regiments. Auch über die Not der russischen Soldaten, die nur Nahrung für drei Tage im Gepäck haben und dann deutlich länger bleiben. Und Igort rekonstruiert, wie die westlichen Regierungen der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 tatenlos zusahen, weil das opportun erschien.
Es ist diese Kombination aus Weltpolitik und persönlichen Beobachtungen, die dem Comic Wucht verleihen. Und die Kombination aus Zerstörung und fein gezeichneten Bildern. Wie fragile, abstrakte Strukturen wirken die zerstörten Hochhäuser nach der Bombardierung. Geradezu friedlich sieht der Tote mit seinem Fahrrad auf der Straße aus – neben ihm liegt ein Hund, als wolle der darüber wachen, dass ihm nichts Übles geschieht. Die Bilder sind nach der Rückeroberung von Butscha entstanden.
Es ist ein Kriegstagebuch, das Igort mit seinem aktuellen Comic vorlegt. Für jeden Tag des Angriffs von Russland beschreibt er, wie russische Truppen in die Ukraine einmarschieren – über Charkiw, Kramatorsk, Mariupol –, wie sie erobern und zurückgeworfen werden. Als es um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht, die russische Soldaten in Butscha verübt haben, zeichnet Igort das Grauen nicht auf, sondern fasst es nur noch in Worte: „Ein Schauspiel von Grausamkeit und Folter. Abgetrennte Gliedmaßen, herausgeschnittene Zungen, das Gemetzel eines Krieges, in dem die Opfer das einzige Menschliche sind.“
Dazu sieht man die wehenden Gardinen eines zerstörten Hauses im Regen. Die Ukraine ist durch diesen Krieg zu einem Land der Unbehausten geworden. Nichts scheint mehr sicher. Mit seinem „Tagebuch einer Invasion“ verdichtet Igort die persönlichen Erlebnisse von Menschen in der Ukraine und seine Recherchen auf eine Weise, dass es mitunter poetisch wirkt – und gerade so fassbar macht, wie unmenschlich Krieg ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 05.04.2023 auf: kulturradio rbb
Igort: Berichte aus der Ukraine. Tagebuch einer Invasion • Aus dem Italienischen von Myriam Alfano • Reprodukt, Berlin 2023 • 168 Seiten • Softcover • 26,00 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.