Wolfsrudel und Kriegsbilder

Das wahre Leben der Wölfe, Bilder einer Psychose, Queer History, der Ukraine-Krieg: Bemerkenswerte Sachcomics und Comicreportagen der vergangenen Monate.

Verschlungene Wege

Der ungarische Volksaufstand im Jahr 1956 war jenes Ereignis, das die Familie des Künstlers Vinz Schwarzbauer auseinandergerissen hat. Seine Großmutter und deren Schwester, die mit ihren Familien in Györ lebten, entschlossen sich wie zigtausende andere zur Flucht nach Österreich. Schwarzbauers Großmutter blieb, die Schwester ging nach Kanada und baute sich dort ein neues Leben am Lake Ontario auf. Als Schwarzbauer, 1987 in Graz geboren, erst als Erwachsener von diesem Teil der Familie erfährt, macht er sich auf die Suche nach den verbliebenen Verwandten. Die Reise nach Kanada und die Lebensberichte der Familienmitglieder, die er dort trifft, hat Schwarzbauer in seinem Comicdebüt „Mäander“ verarbeitet.

Entstanden sind tiefenscharfe Porträts von Menschen, die sich in einer neuen Kultur einfinden, straucheln und ihre mäandernden Wege finden. Die Frage nach Assimilierung und Ausgrenzung stellt sich insbesondere im Fall von Steven, einem der Kinder der Großtante: Er hat eine Frau aus den First Nations geheiratet, was viele Fragen nach der Geschichte der systematischen Unterdrückung der Indigenen in Kanada aufwirft.

In wunderschön feingliedrigen, detaillierten Schwarz-Weiß-Zeichnungen nimmt Schwarzbauer die Perspektiven seiner Hauptfiguren ein, mit einem aufmerksamen Blick, aber dennoch zurückhaltend. Die Textpassagen aus den Interviews stellt er meist separat auf die den Zeichnungen gegenüberliegenden Seiten und lässt damit viel Spielraum für die ausdrucksstarken Bilder. „Mäander“ reiht sich schön ein in eine Reihe von kürzlich erschienenen Graphic Novels, die Kanada im Blick haben: etwa das vielfach ausgezeichnete „Ducks“ über die Arbeit in den Ölsanden von Kate Beaton oder Joe Saccos „Wir gehören dem Land“, eine Oral-History-Reportage über die First Nations.

Vinz Schwarzbauer: Mäander • Edition Moderne, Zürich 2023 • 312 Seiten • 29,00 Euro

Der Wolfsflüsterer

Kaum war mal etwas Ruhe, taucht er schon wieder in den Schlagzeilen auf – zuletzt, als ein Wolf sich ins Stadtgebiet von Bludenz verirrte. Er wurde umgehend zum Abschuss freigegeben. Fix ist: Wölfe lassen die Emotionen hochgehen. Zu stark ist ihr Bild mit einer Kulturgeschichte des beißenden und reißenden Bösewichts verbunden. Aber wie leben Wölfe tatsächlich? Das führt auf beeindruckende Weise der polnische Sachcomic „Wölfe. Wahre Geschichten“ vor. In Polen sind Wölfe gesetzlich geschützt, die Öffentlichkeit ist zu einem überwiegenden Teil der Meinung, dass die Menschen lernen müssen, mit ihnen auszukommen.

Der bunte, in Naturfarben gehaltene Band begleitet über mehrere Jahre den ausgewiesenen Wolfsforscher Michał Figura, mit dem man Kapitel für Kapitel in die Welt sieben verschiedener Wölfe und eines Rudels eintaucht. Gemeinsam mit den Forschern verfolgen wir Spuren im Schnee, suchen Kotproben und beobachten aus Verstecken ihr Verhalten. Dabei werden die Gefahren deutlich, denen die Wölfe durch den Menschen ausgesetzt sind, von Schlingfallen, die Wilderer aufstellen, bis hin zu Landstraßen, die ihren Lebensraum stören.

Liebevoll, aber ohne Verniedlichungen, voller Details und wissenschaftlich exakt veranschaulichen die bekannten Comicautoren Aleksandra Mizielinska und Daniel Mizielinski allerlei Hintergrundwissen, etwa warum Wölfe heulen, wie sie jagen, fressen und vieles mehr. Darüber hinaus gibt das Buch Einblick in die Methoden der Wolfsforschung, zeigt mit vielen grafischen Elementen, wie GPS-Sender und Fotofallen funktionieren. Alles zusammen ergibt ein ansteckendes, optisches Abenteuer für Kinder wie für Erwachsene.

Michal Figura, Aleksandra Mizielinska, Daniel Mizielinski: Wölfe. Wahre Gschichten • Moritz Verlag, Frankfurt a.M. 2023 • 268 Seiten • 32,00 Euro

Trip in die Welt des Wahns

Was sich im Kopf abspielt, wenn man in eine Psychose schlittert, ist an die Außenwelt nur schwer vermittelbar. Die Comiczeichnerin Regina Hofer hat es selbst erlebt und ihre Wahrnehmungen und Empfindungen aufgezeichnet. Das Buch „F22.0“, benannt nach der internationalen Krankheitsklassifizierung ICD-10 F22.0, die eine wahnhafte Störung bezeichnet, bietet einen berührenden und zum Teil verstörenden Einblick in eine surreale Bilderwelt. Diese aus dem Innersten entstandene Perspektive zeigt eine parallele Realität, die sich um ein Wahnsystem und die dahinterliegenden Ängste aufbaut.

Auf tiefschwarzen Hintergrund tummeln sich fratzenhafte Figuren, Flashbacks zu vergangenen Traumata und paranoide Verschwörungstheorien, die im Auge der Zeichnerin komplett plausibel erscheinen. Durchschnitten wird der psychotische Trip immer wieder durch Passagen, welche die Außensicht veranschaulichen, die Hofers Partner Leopold Maurer einnimmt. Mit ihm hat sie übrigens schon die Nazi-Geschichte von Maurers Großvater in dem Buch „Insekten“ aufgearbeitet. Seine Sicht zeigt, wie er immer weniger zu Hofer durchdringen kann und wie verzweifelnd die Hilflosigkeit gegenüber der psychischen Krankheit sein kann. Letztlich schafft es Hofer in der Psychiatrie. Heute hat sie die Krankheit im Griff. Ohne das Aufzeichnen der Bilder im Kopf hätte sie es kaum geschafft herauszukommen, sagt sie. Und ohne das Buch gäbe es kein so mutiges und eindrückliches Dokument über die Welt des Wahns.

Regina Hofer, Leopold Maurer: F22.0 • Luftschacht, Wien 2023 • 304 Seiten • 28,00 Euro

Queere Zeitreise

Schon als kleines Mädchen spürt Kate Charlesworth, dass sie so gar nicht in das heteronormative Bild der 1950er-Jahre passt. Aber erst während des Kunststudiums in Manchester findet sie schließlich Anschluss an die lesbische Szene, die zu der Zeit noch in einer klandestinen Parallelwelt stattfindet. Ihr Buch „United Queerdom“, in dem die britische Cartoonistin und Comicautorin auf sieben Jahrzehnte zurückblickt, ist aber weit mehr als eine „Graphic Memoir“. Dicht verschränkt mit ihrer eigenen Lebensgeschichte zeigt sie die Entwicklung der LGBTIQ-Community samt aller Widerstände, Diskriminierungen und Durchbrüche.

Wer jetzt eine trockene Geschichtsstunde erwartet, liegt komplett daneben. Kaum eine Seite gleicht der anderen in dieser spritzigen Dokumentation eines harten Kampfes um Rechte und persönliche Entfaltung. Die Erzählung strotzt nur so vor historischem und popkulturellem Wissen, scharfem Humor und entwaffnender Offenheit. Gespickt mit Collagen im Stil von Riot-Grrrl-Zines dekliniert Charlesworth die Entwicklung einer queeren Bewegung durch, von den Anfängen einer Subkultur über die holprigen 70er- und 80er-Jahre bis heute.

Sie kehrt offene und versteckte lesbische Ikonen hervor und macht zahllose Personen sichtbar, die sie selbst beeinflusst haben oder zu Berühmtheiten geworden sind (neben Alan Turing, dessen Bio-Comic „Der Fall Alan Turing“ übrigens neu aufgelegt wird, kommen Dusty Springfield, David Bowie oder Billie Jean King und sogar Conchita Wurst vor!). Nebenbei zeigt Charlesworth, wie es ist, als lesbische Frau aufzuwachsen und zu leben. Ein rundum gelungenes, längst überfälliges Queer-History-Exempel.

Kate Charlesworth: United Queerdom • Carlsen, Hamburg 2023 • 320 Seiten • 32,00 Euro

Tage des Grauens

Nach bald zwei Jahren, die seit dem Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine vergangen sind, verbreitet sich unweigerlich eine Müdigkeit gegenüber dem täglichen (Nachrichten-)Bombardement und der scheinbar ausweglosen Lage. Da lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten, um die Ereignisse zu rekapitulieren und eine andere Perspektive als die der Newskonsumentin einzunehmen. Der renommierte italienische Comickünstler Igort bringt uns in seinem Reportageband „Berichte aus der Ukraine: Tagebuch einer Invasion“ zurück zu den Geschehnisse der ersten Kriegsmonate.

Anhand der täglichen Berichte seiner Freunde und Verwandten, die er per Telefon und Skype bekommt, dokumentiert er den Wahnsinn, das Grauen, das Groteske und den ganz praktischen Alltag in den besetzten Städten des Ostens. Er selbst hat mehrere Jahre in der Ukraine, dem Heimatland seiner Ehefrau, verbracht und bereits 2012 im ersten Band namens „Berichte aus der Ukraine“ die geschichtlichen Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine nachgezeichnet.

In seinem neuen Buch führt er hautnah die Sinnlosigkeit des Krieges vor, auch aus der Sicht von Fremden, die an ihn verwiesen wurden, und ihm von Gewalt, Verschleppung, Flucht und Hunger berichten. Dabei nimmt er nicht nur die ukrainische Perspektive ein, sondern lässt auch junge russische Soldaten zu Wort kommen. Dazwischen rollt Igort immer wieder die Vorgeschichte des langen Konflikts auf, webt Exkurse über die Rolle des Westens und der wirtschaftlichen Verflechtungen ein und informiert über die Entstehung der Wagner-Söldner, die nationalistische Bandera-Bewegung und die Ideologie von Alexander Dugin, dem faschistoiden Philosophen im Dienste Putins. Ein erschütterndes, aber beeindruckendes, weil so lebensnahes Dokument abseits der üblichen, unpersönlichen Nachrichtenflut.

Igort: Berichte aus der Ukraine. Tagebuch einer Invasion • Reprodukt, Berlin 2023 • 180 Seiten • 26,00 Euro

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03.02.2023 in: Der Standard – Comicblog Pictotop.

Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.