Direkt aus dem Halbschlaf an den Zeichentisch taumeln

„Der Frischkäse ist im 1. Stock“ – hinter dem ungewöhnlichen Titel verbirgt sich ein noch ungewöhnlicheres Comictraumtagebuch. Die renommierte Hamburger Künstlerin und Illustratorin Jul Gordon hat fast zwei Jahre lang, zwischen 2021-2023, jeden Morgen ihre Träume nicht nur aufgezeichnet und niedergeschrieben, sondern als Comicgeschichten nacherzählt. Das Ergebnis ist lustig, weird, sehr persönlich, aber auch oft universell und nicht logisch bzw. immer traum-logisch. Und weil Jul Gordons Traumtagebuch auf dem Höhepunkt der COVID-Pandemie und inmitten allerlei anderer internationaler Krisen entstanden ist, ist auch die globale Weltlage immer wieder Thema der mal mehr, mal weniger wirren Träume. Im Presse-Interview spricht die Künstlerin über die Hintergründe ihres Comics.

Liebe Jul, vielen Dank, dass du dir die Zeit für unser Gespräch nimmst. Ich würde gerne eingangs ein bisschen über dich erfahren. Wie bist du zum Comiczeichnen gekommen? War der Comic etwas, das dich in deiner zeichnerischen Leidenschaft schon immer begleitet hat? Oder kam das Interesse erst im Studium auf?

Für mich war Zeichnen meistens mit Erzählen verbunden, also Zeichnungen kombiniert mit Sprache als Kommunikationsmittel. Comics und Zeichnen gehörte für mich immer zusammen. Ich mochte es als Kind gerne, über das Zeichnen zu kommunizieren und z. B. irgendwelche Charaktere zu erfinden, und ich mag es immer noch. Als Teenager war ich sehr beeindruckt von den Comics von Julie Doucet. Mit Doucets Alter Ego in ihren Traumcomics konnte ich als Identifikationsfigur etwas anfangen, und ich glaube, das hat den Wunsch in mir geweckt, auch zu dieser Welt zu gehören, in der solche Comics produziert und gelesen werden. Mein Bruder hatte mir einen Band von Doucets „Dirty Plotte“ aus den USA mitgebracht. In Lüneburg, wo ich aufgewachsen bin, hätte ich diese Zines sicher nicht gefunden. Dass ich dann an der HAW gelandet bin, wo Anke Feuchtenberger unterrichtet und wo ich meine Neigung zum Erzählen in ihren Kursen, aber auch in den Kursen von ATAK, der während meines Studiums dort Dozent war, ausbauen konnte, war ein großes Glück.

Was meinen Wunsch, Zeichnerin zu sein, auch inspiriert hat, waren z. B. die Comics von Fil, die ich als Teenager und jetzt immer noch sehr lustig finde, die Zeichnungen von Quentin Blake für die Bücher von Roald Dahl oder auch die Arbeiten der schwedischen Zeichnerin Joanna Rubin Dranger, die mir meine schwedische Schüler*innenaustauschpartnerin in der 11. Klasse gezeigt hat.

Bild aus „Der Frischkäse steht im 1. Stock“ (Edition Moderne)

Du hast über die Jahre mit kleineren Verlagen, in Deutschland und Frankreich, gearbeitet, deine Arbeiten aber immer auch selbst verlegt. Jetzt erscheint dein neues Buch im Schweizer Verlag Edition Moderne. Wie und wonach entscheidest du, welche Veröffentlichungsform du für welches Projekt wählst? Und wie ist das für dich als (Selbst-)Verlegerin, wenn man kreative Prozesse an einen Verlag abtritt? Kannst du da gut loslassen?

Was ich an selbst verlegten Zines mag, ist, dass ich viel ausprobieren kann. Es gibt fast gar kein finanzielles Risiko (auch keine finanziellen Chancen) und keinen Zeitdruck. Dass ich auch alle Gestaltungsentscheidungen bei einem Zine selbst treffen muss, ist eigentlich eher ein Nebeneffekt, den ich in Kauf nehme. Bezüglich Produktion und Design gebe ich gerne Entscheidungen ab.

Mein Buch „Der Park“ ist zuerst bei dem kleinen französischen Verlag Éditions Na erschienen. Das ist ein Verlag, der von Zeichner*innen – Lisa Lugrin und Clément Xavier – betrieben wird. Wir hatten uns wwährend des Studiums beim Comicfestival Bil Bol Bul in Bologna kennengelernt, und sie haben mich einige Jahre später gefragt, ob ich ein Buch bei ihnen herausbringen möchte. Ich kannte andere Publikationen von Éditions Na und wusste, dass ich ihnen hinsichtlich der Produktion vertrauen kann. Die Übersetzungen des Buches ins Deutsche, Englische und Italienische habe ich jeweils mit kleinen Verlagen gemacht, mit denen ich bereits eine Verbindung hatte und/oder bei denen das Verlagsprogramm gut mit meiner Arbeit zusammenpasst. Raighne Hogan von 2d Cloud habe ich 2018 auf dem Millionaires Club in Leipzig kennengelernt, daraus hat sich ergeben, dass „Der Park“ in englischer Übersetzung dort erscheint. Ich habe die Buchgestaltung dem Verlag überlassen und bin froh über das Ergebnis, das ganz anders ist, als wenn ich es allein gemacht hätte.

Mit Edition Moderne war es super; Claudio Barandun hat die Buchgestaltung übernommen und hat dem Buch mit seinem Design etwas hinzugefügt, was ich so nie gekonnt hätte. Das empfinde ich als Bereicherung. Mit Johanna von Colorama kam die Zusammenarbeit zustande, nachdem sie mich 2017 zu einer Clubhouse-Woche eingeladen hatte. Bei dem Buch „Are you awake?“, das sie 2022 herausgebracht hat, hat sie mir vertraut und mich, was die Geschichte betrifft, machen lassen, was ich will. Die Buchgestaltung und Produktion hat sie übernommen. Ich kann also gut loslassen bzw. sehe den Vorteil von Synergien bei der Buchgestaltung.

Gibt es Motive und Themen, die du in deinen Arbeiten, ob Comic oder freie Kunst, verfolgst und die deine verschiedenen Projekte verbinden?

Ich würde bei dem was ich mache, „Comics“ und „freie Kunst“ nicht trennen. Ich bin Comiczeichnerin und gehe mit manchen Arbeiten in eine Richtung, die den Comicbegriff erweitert und teils auch im Kontext der freien Kunst funktioniert. (Gibt es „den Comicbegriff“?) Aber ich mache keine freie Kunst, die nichts mit meinen Comics zu tun hat. Beispielsweise habe ich für das Projekt „Are you awake?“ zusammen mit Luka Lenzin eine Ausstellung konzipiert, die wir als eine Art begehbaren Comic gedacht haben. Ähnlich ist es mit der Rauminstalltation „Der Frischkäse ist im 1. Stock“, in der viele Zeichnungen aus dem Buch zu sehen sind. Beide Arbeiten wurden auch in Kunstinstitutionen gezeigt; ein Teil der Installation „Are you awake?“ war in der Kunsthalle Göppingen in einer Comicausstellung zu sehen, die Rauminstallation „Der Frischkäse ist im 1. Stock“ wurde im Kunsthaus Hamburg gezeigt. Ich finde es herausfordernd und interessant, mir zu überlegen, wie ich Comics in solchen Räumen präsentieren kann. Motive, die immer wieder auftauchen, sei es in wachen oder Traumerzählungen, sind zwischenmenschliche Beziehungen und Alltagsbewältigung.

Bild aus „Der Frischkäse steht im 1. Stock“ (Edition Moderne)

Kommen wir zu deinem neuen Buch: „Der Frischkäse ist im 1. Stock“ ist eine Art Traumtagebuch und zwischen 2021 und 2023 entstanden. Du hattest dich bereits in früheren Arbeiten mit deinen Träumen beschäftigt, etwa in dem Kurzcomic „Kontaktcenter“. Was interessiert dich an der Auseinandersetzung mit Träumen? Und siehst du dich da eher als Chronistin oder als Deuterin?

Träume sind oft so verrückt, schrecklich, lustig und traurig zugleich und formulieren in ihrem Irrsinn oft eine Wahrheit, die nur so erzählt werden kann. Die Erinnerung an Träume verbessert sich bei mir, je mehr ich es übe. Es geht leichter, je routinerter ich darin werde, nach dem Aufwachen an nichts anderes zu denken, sondern nur zu versuchen, dem Traum auf der Spur zu bleiben. Ich stelle mir vor, idealerweise funktioniere ich wie eine KI, die ungestört von menschlichen Gedanken an Alltagsstress und Sorgen die erinnerten Träume in Text und Bild zu Comics verarbeitet. (Als KI hätte ich vielleicht keine Träume, die mich interessieren würden, insofern hinkt der Vergleich. Oder? Haben KIs Träume und Probleme, mit denen wir uns identifizieren können? Ich glaube nicht.) Ich sammle die Träume und fische mir die unterhaltsamsten heraus – das Deuten überlasse ich gerne anderen. Mir gefällt auch die Erzählstruktur von Träumen. Sie haben ihre ganz eigene Logik, die sich einer eindeutigen Lesart entzieht, vieles offenlässt und vieles erahnbar macht.

Kannst du uns erzählen, wie der Arbeitsprozess an dem Projekt war? Bist du an jedem Morgen vom Bett direkt zum Zeichentisch gelaufen? Hattest du Techniken, wie du die Träume am besten im (Kurzzeit-)Gedächtnis behalten konntest, um sie in kurze Narrationen zu übersetzen?

Jeden Morgen habe ich es leider nicht geschafft. Aber ja: Es funktioniert so, dass ich direkt aus dem Halbschlaf an den Zeichentisch taumele und versuche, alles, was ich erinnere, möglichst schnell zu skizzieren oder auch direkt zu zeichnen und möglichst an nichts anderes zu denken. Für mich war das Wichtigste, mich nicht dadurch ablenken zu lassen, dass ich dem, was meinem Gedächnis entronnen ist, im Kopf hinterhergerannt bin. Ich habe versucht, das zu nehmen, was eben noch da ist. Mit möglichst wenig Anspannung. Wenn es mal nicht so gut geklappt hat mit dem Erinnern, habe ich mich oft ermutigt: An das Meiste erinnerst du dich vielleicht nicht, aber für wenigstens eine Seite reicht es möglicherweise. Das ist doch schon was. Und wenn ich mich so überlistet hatte, ist es dann doch oft mehr als eine Seite geworden. Wichtig ist aber, tatsächlich nichts dazuzuerfinden. Das ist die Regel. Sonst wird es beliebig. Was ich am Prozess auch mochte, war, dass ich direkt morgens kurz versuchte, mich zu konzentrieren. Es geht so schnell, dass mein Kopf in viele Richtugen auseinanderfliegt, wenn viel zu tun ist. Und diese Zeit der Konzentration direkt nach dem Aufwachen wirkt gut dagegen.

Wie war das für dich, dich über eine so lange Zeit so intensiv mit deinem Unterbewussten zu beschäftigen? Hat es dir geholfen, mehr über dich selbst zu erfahren? Gab es wiederkehrende Träume und Motive, die dir über das Projekt bewusst geworden sind?

Ich bin in meinen Träumen häufig in Supermärkten, ich bin häufig in großer Eile, und ich bin häufig in Situationen, die mich verunsichern oder bloßstellen, und ich habe häufig an irgendetwas Schuld. Was immer wieder vorkommt, sind die Gefahr, große Fehler zu machen oder wichtige Dinge zu vergessen. Zum Beispiel bin ich in einem Traum schwanger, was mir plötzlich erst siedeheiß wieder einfällt. Oder ich vergesse einen Hund in einem Zwinger in der Wohnung und bin schuld daran, dass er elend verreckt. Ein anderes Wiederkeherendes Motiv sind kulturelle und politische Motive. Zum Beispiel muss Amy Winehouse mit Blake in meinem Traum sogar an Feiertagen Foto-Sessions machen, eine Rapperin von Salt ’n’ Pepa erzählt etwas von ihrem Exfreund, Claudia Schiffer weiß nicht, wer Helge Schneider ist, und Margarete Stokowski fährt Longboard. Der Antisemitismusskandal bei der documenta fifteen taucht auf, ebenso wie Ingeborg Bachmann, die fatshaming betreibt oder auch Christian Lindner, der etwas gegen Abtreibungen hat. Und – frag mich nicht warum – ich träume ziemlich oft von Meerschweinchen.

Bild aus „Der Frischkäse steht im 1. Stock“ (Edition Moderne)

„Der Frischkäse“ entstand in einer sehr tumultartigen Zeit: COVID und Lockdowns, Wirtschaftskrise, Klimaproteste, Krieg… Hast du das Gefühl, dass sich diese kollektive negative Grundstimmung auch in deine Träume gelegt hat? Wie hat dein Unterbewusstsein die Zeit verarbeitet?

Es gibt Träume, die sich konkret aufs Tagesgeschehen beziehen. Ich finde es z. B. sehr beängstigend, was in den USA, aber auch in Europa zur Zeit mit dem Recht auf Abreibung passiert. Im Traum vom 26.7.22 kann ich Christian Lindner daran hindern, ein neues Anti-Abtreibungsgesetz in Deutschland durchzusetzen. Im Traum vom 2.7.22 gibt R. Kelly ein Gratiskonzert. Das träumte ich zu einem Zeitpunkt, kurz nachdem ich etwas über den Prozess gegen ihn gelesen hatte. In der Zeit des Mordprozesses gegen Derek Chauvin, den Polizisten, der sein Knie auf George Floyds Rücken gedrückt hat, habe ich von einem der Staatsanwälte des Prozesses geträumt.

Die Zeit, in der ich lebe, wirkt sich auf meine Träume aus. Sie formt und prägt mich. Die Intensität und Qualität meiner Träume hat sich während der letzten tumultartigen Jahre nicht verändert. Mir fällt dazu aber beispielsweise der Traum vom 25.6.22 ein, in dem die Deutsche Bahn ICEs in den Jemen exportiert hat, die dort ohne Sicherheitsvorkehrungen und ohne Schienen herumrasen. Das Wissen um das Phänomen, dass westliche Firmen immer wieder Produkte, die als unsicher oder ungesund eingestuft werden, in andere Länder mit teils verheerenden Folgen gewinnbringend verkaufen oder „spenden“, hat sich da wohl in mein Unterbewusstsein eingeschlichen. Das ist aber nicht speziell assoziiert mit den Katastrophen der letzten zwei Jahre, sondern mit dem tumultartigen Zustand der Welt allgemein.

Was sind deine liebsten Träume in der Sammlung?

Ich mag z. B. den Traum von 21.12.21 Romina von GNTM bekommt von ihrem Freund ein trashiges Liebesgedicht vorgetragen („Der Himmel berührt die Erde, so wie ich dich berühren möchte. Dein Haar ist das Meer – und ich bin das Plankton, Baby“). Dann kommen Soldaten, die Rominas Freund des Plagiats bezichtigen, und ich mache mir Sorgen, dass er ihr, weil er mit dieser Demütigung nicht klarkommt, den Schädel einschlagen wird. Ich freue mich über dieses völlig bescheuerte Gedicht und über die Figurenkonstellation, die auch etwas Wahres über die furchbaren Auswirkungen von unreflektierten schlechten Gefühlen erzählt. Ich mag auch den Traum vom 17.10.21, in dem ich notgedrungen eine Performance zum Thema Müdigkeit aufführe und am Ende beleidigt bin, weil „der Coach“ die Performance schlecht fand. Der bewertende Blick von Außen, der eigentlich eher ein bewertender Blick von mir selbst ist, ist so ein Thema, das häufiger vorkommt und das, wie ich glaube, viele Menschen kennen.

Jul Gordon: Der Frischkäse ist im 1. Stock • Edition Moderne, Zürich 2023 • 256 Seiten • Klappenbroschur • 25,00 Euro