„Ich glaube, dass postapokalyptische Erzählungen im Kern eine positive Botschaft haben“

Die US-amerikanische Zeichnerin Tillie Walden ist ein Phänomen und Ausnahmetalent. Mit gerade mal Mitte 20 hat sie bereits mehrere von der Kritik gefeierte Bücher veröffentlicht und wurde mit den wichtigsten Preisen der internationalen Comicbranche geehrt, darunter zwei Eisner Awards. Bei Reprodukt liegen bereits ihre autobiografischen Jugenderinnerungen „Pirouetten“ und das magisch-realistische Comic-Road-Movie „West, West Texas“ und die queere SF-Geschichte „Auf einem Sonnanstrahl“ vor.

In allen ihren ätherischen, vom Stil der Studio-Ghibli-Filme inspirierten Comics steckt ein Stück von Tillie selbst. Ob Autofiktion oder lost in space – all ihre Geschichten handeln von jungen, queeren Frauen, die auf der Suche nach sich selbst sind, und vom Erwachsenwerden und den emotionalen Turbulenzen, die dieser Lebensabschnitt mit sich bringt. Und so scheint es zunächst überraschend, dass Tillie Walden ausgewählt worden ist, das nächste große Kapitel von „The Walking Dead“ zu erzählen.

Robert Kirkmans „The Walking Dead“ ist das vermutlich das erfolgreichste Creator’s-Owned-Franchise in der Comicgeschichte. Die Zombie-Soap-Opera lief 16 Jahre lang, zwischen 2003 und 2019, und brachte es auf 193 Comichefte (die in 32 Sammelbänden auf Deutsch bei Cross Cult vorliegen). Weltweite Popularität erreichte TWD dann ab 2010, als sich die TV-Serienadaption über Nacht zum Quotenerfolg entwickelte. Die Serie endete 2022 mit der 11. Staffel, verschiedene Spin-Off-Serien laufen aber weiter. Einen großen Teil zur Popularität des Zombie-Universums trugen auch die Games-Adaptionen bei, vor allem die Adventurereihe der US-Spielefirma Telltale, die zwischen 2012 und 2019 in vier „Staffeln“ erschien. Protagonistin war das junge Mädchen Clementine, das sich mal allein, mal mit anderen Überlebenden durch die Apokalypse schlägt. Skybound, Robert Kirkmans Medienimperium, meldete sich bei Tillie Walden und bot ihr an, innerhalb des „The Walking Dead“-Comic-Universums ihre eigenen Geschichten mit der Figur von Clementine zu erzählen. Und so ist diese Melange aus Walden-typischer lyrisch-verträumten Comicästhetik, queerer Young-Adult-Erzählung und brutaler Post-Apokalypse entstanden. Im folgenden Presse-Interview spricht Tillie Walden über die Hintergründe zu „Clementine“.

Bild aus „Clementine“ (Cross Cult)

Liebe Tillie, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über den ersten Band von „Clementine“ zu plaudern. Könntest du uns eingangs ein wenig über deine ersten Schritte in der Comicbranche erzählen? Wann wusstest du, dass du das Comiczeichnen professionell verfolgen wolltest?

Als Heranwachsende hätte ich nie gedacht, dass ich eines Tages Comiczeichnerin werden würde! Erst als ich 16 Jahre alt war und einen Kurs bei Scott McCloud belegte, änderte sich meine ganze Welt, und ich begann, mich wirklich für Comics zu interessieren. Nach der Schule habe ich mich an einer Schule für Comiczeichner*innen eingeschrieben, dem Center for Cartoon Studies in Vermont, anstatt auf ein traditionelles College zu gehen. Und nach den ersten zwei Studienjahren dort habe ich schon angefangen, Bücher zu veröffentlichen. Während des Studiums habe ich mich wirklich in Comics verliebt, und es fällt mir nicht schwer, mir vorzustellen, sie für immer zu machen. Ich hatte auch das Glück, dass ich mich in der Comicszene ziemlich schnell etablieren konnte. Und wie! Ich fing mit ein paar Büchern im Kleinverlag an und bin jetzt bei „The Walking Dead“ angelangt!

Wie kam „Clementine“ zustande? Warst du ein Fan der Comics und der Fernsehserie? Was hat dich dazu bewogen, in diese Welt einzutauchen?

Ich war ein Fan der Comics und der TV-Serie! Aber ich hatte die Spiele noch nie gespielt, also war Clementine als Figur neu für mich. Das Projekt kam zustande, weil sich die Leute von Skybound bei mir meldeten und mich fragten, ob ich interessiert sei. Und sobald ich hörte, was ihnen so vorschwebte (eine Serie! TWD! Clem ist so cool!), konnte ich nicht mehr anders als zuzusagen. Was mich auch motiviert hat, in diese Welt einzutauchen, war der Gedanke, dass ich eine für das Franchise ziemlich unerwartete Wahl war. Ich hatte einfach das Gefühl, dass meine sensible/gefühlszentrierte/queere Erzählweise sehr gut mit Zombies harmonieren könnte.

Bild aus „Clementine“ (Cross Cult)

„Clementine“ ist eine lose Fortsetzung der TWD-Spiele von Telltale, die zwischen 2012 bis 2019 veröffentlicht worden sind und eine epische Geschichte über viele Kapitel erzählen, die von den moralischen Entscheidungen der Spieler*innen getragen wird. Dieses Kern-Spielprinzip vieler anderer Telltale-Games war in einem so düsteren und aufs pure Überleben fokussierte Setting wie TWD besonders wirksam. Hast du versucht, diese Spielmechanik, die schwierige Entscheidungen und alle ihre Konsequenzen zum zentralen Element macht, auch in der Comic-Version widerzuspiegeln?

Ich habe versucht, mit meinem Comic so nah wie möglich an den Geist der Spiele ranzukommen, aber letztendlich kann der Comic nie ein perfektes Abbild sein. Videospiele und Comics sind dann eben doch zu verschiedene Medien und haben ganz unterschiedliche Stärken. Die Stärke der Games-Vorlage lag in den Wahlmöglichkeiten, die man als Spieler*in hatte, aber ich habe den Eindruck, dass die Stärke der Comics darin liegt, dass man nicht wählen kann und Clementine stattdessen das Gefühl hat, autonomer zu sein, während sie den Weg durch ihre eigene Geschichte geht. Ich finde es auch toll, dass ich mir in den Comics viel mehr Zeit nehmen kann, um mich auf die Kleinigkeiten in ihrem Leben zu konzentrieren, was in Videospielen nur schwer möglich ist.

Wie viel Freiheit hattest du bei der Gestaltung deiner Erzählwelt, der Entwicklung des Plots und der Figuren? Musstest du dich viel mit den Leuten bei Skybound abstimmen? Oder hat man dir freie Hand gelassen?

Ich hatte völlige Freiheit! Das war wirklich toll! Ich musste natürlich der Handlung der Spiele und Clems Vergangenheit treu bleiben und innerhalb der Grenzen der Welt arbeiten, die Robert Kirkman geschaffen hat, aber erzählerisch waren mir keine Grenzen gesetzt. Das war auch ein Grund, warum ich dieses Projekt unbedingt machen wollte!

Du bist bekannt für deine – manchmal lebensnahen, manchmal phantastischen – Graphic Novels über junge queere Protagonistinnen und ihre inneren und äußeren Reisen. Wo siehst du bei „Clementine“ thematische und atmosphärische Überschneidungen zu deinen früheren Büchern wie „Pirouetten“ und „Auf einem Sonnenstrahl“? Und wo hast du dich thematisch von deinen früheren Werken entfernt?

Ich sehe viele Überschneidungen in all den Aspekten, die du erwähnt hast. Es geht um das Thema Erwachsenwerden und um den Umgang mit den emotionalen Turbulenzen, die diese Zeit der Veränderung mit sich bringt, was Beziehungen und Freundschaft anbelangt. Auch vom Erzähltempo wird „Clementine“ viele Leser*innen an meine anderen Comics erinnern, aber trotzdem würde ich sagen, dass ich mit diesen Büchern erzählerisch eine ganz neue Richtung eingeschlagen habe (besonders im 2. Band!). Der Plot und die Innenwelten meiner Figuren sind viel intensiver als in meinen früheren Werken. Und natürlich ist „Clementine“ viel düsterer und bedrückender als alles, was ich bislang geschrieben habe. Genau dieser Aspekt hat mich künstlerisch ausgesprochen gereizt.

Hattest du im Vorfeld Bedenken, in die brutale Welt von „The Walking Dead“ einzutauchen und so viel Zeit darin zu verbringen? Schließlich ist unsere Gegenwart der Pandemien und Dauerkriege ja schon bedrückend genug…

Weißt du was, ich glaube, dass alle postapokalyptischen Erzählungen im Kern eine positive Botschaft haben. Wenn man sich eine Geschichte über das Ende der Zivilisation ausdenkt, in der Menschen überleben, dann heißt es auch, dass man eine Geschichte über Hoffnung erzählt. Eine echte apokalyptische Geschichte wäre nur eine Seite lang – die Menschheit geht zugrunde, die Welt endet, Schluss aus… Und was ich an TWD liebe, ist, wie sehr es in den Comics und der TV-Serie darum geht, angesichts von so viel Gewalt und Angst weiterzumachen. Es hat mich also nie bedrückt und deprimiert, mir eine Geschichte in der Welt von „The Walking Dead“ auszudenken. (Mich aber durchaus dazu gebracht, mehr Lebensmittelkonserven und Wasser im Keller zu horten…)

Bild aus „Clementine“ (Cross Cult)

Liegt deiner Meinung nach die große Faszination und der große Erfolg von postapokalyptischen Geschichten am Grundprinzip Hoffnung?

Genau, postapokalyptische Stoffe wie „The Walking Dead“ zeigen, dass wir tatsächlich auf der anderen Seite wieder herauskommen werden. Es spielt keine Rolle, wie viele geliebte Figuren in einer Story sterben – wenn am Ende noch jemand am Leben ist, dann lebt auch in uns die Hoffnung weiter, dass auch wir eines Tages in der Lage sein werden, zu überleben, was auch immer auf uns zukommt. Zombie-Storys sind natürlich auch deswegen so populär, weil die Untoten eine physische Manifestation unserer Ängste und Probleme sind. Eine Geschichte über Dinge, die uns emotional Schmerzen verursachen, ist viel schwieriger zu ertragen als eine über menschenfressende Zombies – Zombies sind ein Problem, das von außen auf die Figuren prallt, man kann sich gegen sie wehren, sie bekämpfen. In diesem Kampf finden wir uns als Zuschauer*innen wieder.

Könntest du uns ein wenig über deine Version von Clementine erzählen? Welche Aspekte ihres Charakters aus den Spielen hast du weiterentwickelt, und welche neuen Seiten hast du für die Comics erfunden?

Ich wollte auf dem aufbauen, was in den Spielen etabliert wurde – in den Spielen ist sie wirklich stark, ein richtiger Badass. Gleichzeitig hat sie aber auch mütterliche Züge, nimmt Figuren auf und kümmert sich. Und nicht selten verhält sie sich ein wenig naiv – sprich, sie ist ein Kind. Was mich am meisten interessierte, war die Frage, wie sich diese Charaktereigenschaften verändern, wenn man älter wird. Und sich eine Schicht aus Traumata auf deine Seele legt. Ich finde es faszinierend, wie mutig junge Kinder sein können, aber wie lange hält dieser Mut vor, wenn man älter und sich seiner selbst und seiner Mitmenschen bewusster wird? Hollywood liebt seine Badass-Frauenfiguren, aber ich wollte die Vorstellung hinterfragen, was es bedeutet, ein Badass zu sein. In den Games zeigt Clementine im Angesicht von Gewalt und Gefahr Stärke, und ich wollte herausfinden, was innere Stärke für Clementine als nun junge Frau bedeutet. Und was es für sie bedeutet, all diese Erlebnisse zu verarbeiten.

Clementine ist eine junge, unabhängige, vom Leben abgehärtete Frau, die nach einem besseren Leben und einer Gemeinschaft sucht. Queere Geschichten sind in großen Genre-Franchises leider immer noch kein gängiger Standard (z. B. gibt es fast keine LGBTQ-Charaktere in all den vielen MCU-Filmen und -Serien). Wie wichtig ist dieses Thema für dich?

Es ist sehr wichtig für mich! Da ich selbst queer bin, wird es das auch immer sein. Ich kann nicht anders, als meine eigenen Lebenserfahrungen in die Darstellung von Clementine einfließen zu lassen, aber ich glaube, was Clementine noch interessanter macht, ist nicht nur ihre Queerness, sondern auch ihre Behinderung. Dass sie ein Bein verloren hat, macht einen großen Teil ihres Lebens und ihrer Identität aus, und ich bin so glücklich, dass ich eine Figur wie sie schreiben kann.

„Clementine“ ist als Dreiteiler angelegt. In den USA wird diesen Sommer bereits der 2. Band erscheinen. Darfst du uns verraten, was noch alles auf Clementine zukommt?

Nur so viel, das Schlimmste steht ihr noch bevor. Und es wird noch ordentlich schlimmer, bevor es besser wird…

Tillie Walden: Clementine. Buch 1 • Aus dem Amerikanischen von Frank Neubauer • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 240 Seiten • Hardcover • 26,00 Euro