Orwell, aber keine Männer

Bild aus "Shangr-La" (Splitter Verlag)

Science Fiction hat vordergründig jede Berechtigung, sich einen Teufel um die Probleme der Gegenwart zu scheren, aber das gilt vor allem für mittelmäßige oder schlechte Science Fiction. Interessanten Settings gelingt es, eine zeitlich wie räumlich weit entfernte, technologisch avancierte Welt so zu gestalten, dass wir dorthin nicht nur gedankenlos aus unserer Lektüregegenwart flüchten, sondern an Spekulationen über Moral, Kunst, Fortschritt, Gesellschaft oder Politik teilhaben. Im letzten Jahr ließen sich diverse interessante Science-Fiction-Settings hervorheben, die bei allem Entertainment nicht unpolitisch sind. Mit Mathieu Bablets „Shangri-La“ und Tillie Waldens „Auf einem Sonnenstrahl“ sind zwei spannende Comics mit einiger Verspätung ins Deutsche übertragen worden, die sich auf ganz unterschiedliche Arten als „engagiert“ bezeichnen lassen.

Orwell im Weltraum: Mathieu Bablets „Shangri-La“

In einer unbestimmt fernen Zukunft leben die Menschen auf einer Raumstation, die ihnen alles bietet, was sie sich wünschen: Sauerstoff, eine stabile öffentliche Ordnung, ein wenig tolerierten Alltagsrassismus und Technikkonsum rund um die Uhr. Der Preis dafür wird in so kleinen Raten von Freiheitsverzicht und Gehorsam bezahlt, dass man ihn gar nicht wahrnimmt und auch als Leser*in rasch akzeptiert. Die Raumstation ist eine alternativlose Heimat geworden, weil die Erde von vorigen Generationen rückstandslos ruiniert worden ist. In dieser Welt versucht der Staatsbedienstete Scotty, eine Serie mysteriöser Unfälle aufzuklären, und dabei stößt er auf eine Gruppe von Wissenschaftlern, die in geheimen Labors dubiose Ziele verfolgen.

Bild aus „Shangr-La“ (Splitter Verlag)

Die Raumstation in ihrer von Rohren durchsäumten Glas- und Kunststoff-Optik auf mehreren Ebenen erinnert an verwinkelte U-Bahn-Stationen oder die seelenlose Tristesse von Shoppings Malls. Die Welt ist schmutzig, nicht nur wegen der achtlos hingeworfenen Abfälle, die Bablet dekorativ auf allen Wegen platziert, sondern vor allem, weil hier alles zum Himmel stinkt: Die konsumfixierten Bewohner der Station haben keine Interessen außer den technologischen Begehrlichkeiten, die von der monopolistischen Staatsfirma stets aufs Neue erzeugt werden.

Der Geist von „1984“ weht durch diesen Comic, nur dass Bablet die Lehre aus der Geschichte gezogen hat, dass wir alle Werte, Überzeugungen und Freiheiten aus freien Stücken aufgeben, sobald uns die Erfüllung aller Konsumversprechen angeboten wird. So etwas hätte George Orwell in seiner dunkelsten Stunde für völlig überzogene Science Fiction gehalten.

Die Werbeanzeigen in „Shangri-La“ sind nur noch Produktinformationen im weitesten Sinne, eigentlich eher Pornographie mit Product Placement. Sex sells. Und mehr Sex sellt noch mehr. Moralisch ist diese Gesellschaft verkommen, und wie unanständig die Menschen sind, wird durch den überraschenden Twist kurz vor Schluss noch umso deutlicher. Aber das muss man selbst lesen.

Für „Shangri-La“ ist Mathieu Bablet in Angoulême ausgezeichnet worden, und wer damals das Buch auf Französisch kaufen wollte, erhielt (damals wie heute) eine wunderschöne Halbleinenausgabe zum Preis von 20 Euro (Ankama Éditions). Dass die deutsche Ausgabe das Doppelte kostet, sagt einiges über die unterschiedlich hohen Auflagen in Deutschland und Frankreich aus. 75.000 Exemplare seien in Frankreich verkauft worden. Davon kann man hier nur träumen.

Bild aus „Shangri-La“ (Splitter Verlag)

Bablets Vorliebe für komplexe Architekturen zeigt er schon in seinem postapokalyptischen Debüt „La belle Mort“ (2011), das bislang nicht auf Deutsch, allerdings auf Englisch vorliegt („The Beautiful Death“, Titan Comics, 2018). In seinem aktuellsten Comic, „Carbone & Silicium“ (2020), geht es um die Schrecken Künstlicher Intelligenz.

Bablets Zeichnungen bestechen durch die detailreichen Architekturen und die stimmungsvollen Landschaften. Die Gestik und Mimik der Menschen hingegen ist, bei aller Freude an ihrer kunstvollen Stilisierung, die seit „La belle Mort“ noch zugenommen hat, wenig abwechslungsreich und erschwert die Lektüre mitunter.

Die Raumstation entpuppt sich als ein oberflächliches und verführerisches Konsumparadies, hinter dessen Fassade sich eine autokratische Kontrollhölle verbirgt, eine politisch-ökonomische Inszenierung sich gottgleich fühlender Machtmenschen, deren Intentionen sich nicht vollständig erschließen. „Shangri-La“, so schaurig-schön gezeichnet und so düster in seiner Zukunftsvision, steht in einer Science-Fiction-Traditionslinie neben Filmklassikern wie „Soylent Green“ (1973) oder „Brazil“ (1985).

Indem Bablet zeitgenössische Phänomene ins Groteske überspitzt, hält er uns Leser*innen einen Spiegel vor. Dabei buchstabiert er nicht jede Beobachtung bis ins Detail aus, sodass noch einiger Interpretationsspielraum bleibt. „Shangri-La“ ist ein Comic, der im vergangenen Jahr nicht so viel Aufmerksamkeit bekam, wie er es verdient. Ein wenig mehr Bablet könnte der deutsche Markt gut vertragen.

Weltraum ohne Männer – Tillie Waldens „Auf einem Sonnenstrahl“

Auch Tillie Walden zeigt in ihrem Weltraum-Comic „Auf einem Sonnenstrahl“ ein sehr ausgeprägtes Interesse an Architektur, allerdings teilt sie nicht den detailverliebten Fleißstil von Bablet – bei ihr dominieren Treppenabsätze, Andeutungen von Arkaden und im Nichts verlaufende Farbflächen.

Bild aus „Auf einem Sonnenstrahl“ (Reprodukt)

Die junge Mia heuert bei einer Crew an, die für die Umgestaltung von Gebäuden im Weltraum zuständig ist. In dieser Welt stehen die Gebäude auf Asteroiden oder schweben durch den leeren Raum, und Raumanzüge gibt es dort mit großer Selbstverständlichkeit … nicht. Die eingeschworene Truppe um die stille Anführerin Char, die impulsive Jules, die entschlossene Alma und die nicht-binäre Person Ell, die seit einem traumatischen Ereignis in der Vergangenheit kein Wort mehr spricht, nimmt Mia rasch und herzlich auf.

In Rückblenden wohnen wir der Internatslaufbahn Mias bei, die sie von Auseinandersetzungen mit Mitschülerinnen und Lehrerinnen bis zu einer romantischen Liebesbeziehung zu Grace führt. Als sie Grace zum Jahresball abholt, findet Walden (wie so oft) wunderschöne Bilder, um die Situation einzufangen: „Die Blumen hab ich einem Mädchen geklaut und dann hab ich mich ganz schnell umgezogen, deswegen sehe ich so aus, und du bist so schön, und ich kann immer noch nicht glauben, dass du meine Freundin bist, und ich hätte dir Blumen bestellen sollen und eine Karte schreiben und … und aus der Sporthalle habe ich ein Hoverboard geklaut, denn ich wollte dich schon immer mit meinem eigenen Schiff abholen, aber ich hab keins, nur ein geklautes Hoverboard.“ Welches Bild ist treffender für eine erste Liebe als zwei Menschen, die gemeinsam schweben?

Ein wenig überraschend und verspätet hat es diesen Webcomic nach Deutschland verschlagen, immerhin ist er auf Englisch online frei verfügbar, zudem kommt der Print-Comic mit seinen stattlichen 544 Seiten nicht gerade schmal und damit eher aufwendig daher. Als er im Webcomic-Format erschien, veröffentlichte Walden zwischen Herbst 2016 und Frühjahr 2017 im Wochenrhythmus je etwa 30 Seiten. Dass viele Panels wenig mehr Hintergrund zeigen als pechschwarzes Weltall, kann angesichts dieses Pensums nicht überraschen. Aber Walden ist eben auch in der Lage, mit wenigen Strichen viel Atmosphäre zu erzeugen. Und die wundervolle Kolorierung tut ihr übriges, um eine faszinierende Welt zu erschaffen. 2017 wurde „Auf einem Sonnenstrahl“ für einen Eisner Award als „Best Digital Comic“ nominiert.

Bild aus „Auf einem Sonnenstrahl“ (Reprodukt)

Über „Auf einem Sonnenstrahl“ schreibt Walden auf ihrer Website: „The closest I’ve ever gotten to being into sci fi was having an ET doll. And that doesn’t even really count. My point being: I know nothing about either the genre of science fiction or the actual mechanics of existing in space.“ Nun könnte man ihr zustimmen, indem man einwendet, Science Fiction bestehe längst nicht nur darin, ein zukünftiges Setting ins Weltall zu verorten. Ganz anders als Bablet in „Shangri-La“ vermeidet Walden jeglichen Science-Fiction-Realismus, sodass sich fragen ließe, ob Science Fiction überhaupt der richtige Begriff für diese interstellare Road Novel sei. Auch die überspitzten Darstellungen, durch die Bablet mit sexualisierter Werbung, bedenkenlosem Konsum, einem zwanghaften Fitnessfetisch und politischem Marketing abrechnet, fehlen bei Walden völlig. Die Probleme der jungen Frauen im Weltall wären auch in ländlichen Parallelgesellschaften wie Bönebüttel oder Herxheim nicht grundsätzlich anders. Unpolitisch ist Walden deshalb noch lange nicht, ganz im Gegenteil.

Ell ist eine nicht-binäre Person, die im Englischen mit dem Pronomen „they“ (in singulärer Verwendung) angesprochen wird. Ist dies im Englischen relativ gebräuchlich, muss in der deutschen Übersetzung eine Entsprechung geschaffen werden, die weniger konventionalisiert ist. Die Übersetzerin Barbara König wählte das Neopronomen „xier“, das auch in manch anderen Comics Eingang (z. B. „Das Land der Juwelen“) gefunden hat und das nicht-binäre Personen bezeichnen soll (Illi Anna Heger hat diese Neopronomen entwickelt und zeichnet wiederum selbst Comics).

Bild aus „Auf einem Sonnenstrahl“ (Reprodukt)

Dass sprachliche Sensibilität Tillie Walden am Herzen liegt, merkt man „Auf einem Sonnenstrahl“ an, allzu deutlich, als Jules eine Standpauke hält, nachdem jemand Ell nicht als nicht-binäre Person angesprochen hat: „Hast du je darüber nachgedacht, dass etwas, das für dich belanglos ist, für jemand anders sehr wichtig sein könnte? Nur das zu respektieren, das du kennst – damit machst du’s dir zu leicht. Und noch ein Profitipp: Solltest du dich in Zukunft in einer ähnlichen Situation wiederfinden, mit Leuten, die du nicht verstehst … halt die Klappe und versuch’s mal mit Zuhören.“

Diesen Holzhammer hätte es natürlich gar nicht gebraucht, weil Walden ihre Figuren so selbstverständlich mit Respekt behandelt, dass der Groschen auch bei unsensiblen Leser*innen längst gefallen ist. Dass Waldens Welt auf Männer ganz und gar verzichtet, fällt überraschenderweise kaum auf. Ein hartes Urteil: Man vermisst sie gar nicht.

Dass Walden nicht von Anfang einen fertigen Plot in der Tasche hatte, merkt man gelegentlich, und so sind es nicht die sich durch das gesamte Buch spinnenden Erzählfäden, die den Reiz ausmachen, sondern eher einzelne Szenen, die Walden mit viel Einfühlungsvermögen gestaltet, vor allem in der Liebesbeziehung zwischen Grace und Mia im Internat.

Die US-amerikanische Zeichnerin Tillie Walden (*1996) hat mit ihrem autobiographischen Comic „Pirouetten“ („Spinning“, 2017) und dem fantastischen „West, West Texas“ („Are you listening“, 2019) wie auch mit mehreren kürzeren Veröffentlichungen für sehr viel Wirbel gesorgt, der sich in mehreren Ignatz- und Eisner-Awards niederschlug. „Auf einem Sonnenstrahl“ kann ziemlich nahtlos an diese Erfolge anknüpfen.

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Auf einem Sonnenstrahl“.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Mathieu Bablet: „Shangri-La“. Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2021. 224 Seiten. 39,80 Euro

Tillie Walden: „Auf einem Sonnenstrahl“. Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara König. Reprodukt Verlag, Berlin 2021. 544 Seiten. 29 Euro