„Kritik und politisches Denken sind Dinge, denen ich nicht ausweichen kann“

Im Januar 2023 präsentierte Lorena Canottiere in Bochum und Frankfurt ihre 2016 erschienene Graphic Novel „Verdad“, die ein Jahr später auch vom Wiener Verlag bahoe books in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Diese spannende wie traurige Geschichte einer Freiheitskämpferin zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs ist neben der 2012 erschienenen Karikaturensammlung „Knirpse“ das einzige Werk von gut einem Dutzend Comics Lorena Canottieres, die ins Deutsche übersetzt wurden. Ich hatte das Glück, Lorena Canottiere zwei Tage in Deutschland zu begleiten und mich ausgiebig über ihr Leben und ihr Werk zu unterhalten. Mit diesem Interview möchte ich auch weiteren Interessierten Informationen zu der italienischen Künstlerin und ihren Arbeiten zukommen lassen.

Hallo, Lorena. In der italienischen und frankophonen Comic-Szene wirst du sehr geschätzt. Du bist so erfolgreich, dass du mittlerweile von deinen Comics leben kannst. So hast du in den letzten Jahren von den französischen Verlagen Marabulles und Indigènes Aufträge zu Graphic Novels über Gino Bartali und Stéphane Hessel erhalten. Hier in Deutschland ist über dich und deine Arbeiten noch wenig bekannt. Wir müssen also von Anfang an beginnen, um dich und deine Arbeiten den deutschen Leser*innen näherzubringen. Also, wo bist du geboren und aufgewachsen?

Ich bin in Alba aufgewachsen, einer kleinen Stadt im Piemont, aus der ich weggehen musste, um zu studieren, zunächst in Cuneo und dann in Mailand. Damals gab es nur sehr wenige Comicschulen, aber ich glaube, ich wäre sowieso weggegangen, denn in den 90er-Jahren gab es in Alba nichts Interessantes.

Die Stadt Alba ist mir aus der Literatur über die Partisanengeschichten Norditaliens bekannt. Waren Mitglieder deiner Familie auch in antifaschistischen Widerstand gegen das Regime von Benito Mussolini aktiv?

Ja, mein Großvater Maggiorino war in einem Lager in Südfrankreich interniert. Kurz vor seiner Deportation nach Deutschland gelang ihm die Flucht dank eines „Passeurs“, eines Bauern, der ihm und anderen Kameraden versprach, sie bis zur italienischen Grenze zu bringen. Sie vertrauten ihm und liefen die ganze Nacht in Angst. Als sie die Grenze erreicht hatten, überquerten sie die Alpen, immer zu Fuß, um Dörfer, Häuser und Nazi-Patrouillen zu umgehen. Es dauerte mehr als eine Woche, bis sie nach Hause zurückkehrten; tagelang hungerten sie, ihre Schuhe zerschlissen, ihre Kleidung alles andere als wettergerecht. Im Dorf angekommen, wurde er immer noch gesucht. Aber er konnte sich nicht den Partisanen anschließen, weil er Töchter und alte Eltern zu versorgen hatte und der Einzige war, der das Land bearbeiten konnte. Wenn also die Nazis oder die Faschisten kamen, bot er den Partisanen in der Scheune Unterschlupf und versteckte sich mit ihnen.

Hast du schon früh mit dem Zeichnen begonnen? Wie bist du dazu gekommen? Wer und was inspirierte dich?

Ich bin ein Einzelkind und trotz des Hofes und der Freunde hatte ich viel Zeit für mich. Also habe ich gelesen, gemalt und Geschichten erfunden. In der Grundschule wartete auf dem Schulweg an der Ecke ein Kiosk auf mich. Mario, der Kioskbesitzer, ließ mich alle Kinderzeitschriften lesen, die ich wollte, solange ich sie nicht ruinierte. Im Unterricht hat meine Lehrerin, um uns das Schreiben beizubringen, vorgeschlagen, Comics zu entwickeln, indem wir Bilder und Text miteinander kombinierten. Meine damalige Lektüre? Ich erinnere mich an meine große Begeisterung für „La Stefi“, einen Comic von Grazia Nidasio, dessen Hauptfigur ein Mädchen im selben Alter wie ich war. Als der Comic eingestellt wurde, schrieb ich meinen ersten Protestbrief an die Redaktion des Corrierino dei Piccoli.

Du bist dann fürs Studium von Alba nach Mailand gegangen. Ich habe auch eine Zeit lang in Mailand gelebt, und wie auf unserer langen Zugfahrt klar wurde, waren wir wohl auch an denselben Orten. Wann warst du genau in Mailand? In welchem Stadtteil hast du gewohnt? Wo studiert? Und jetzt wird es für mich interessant: In welchen Centri Sociali hast du verkehrt?

Nach dem Gymnasium in Cuneo zog ich nach Mailand, um die „School of Comics“ zu besuchen. Dort unterrichteten große Autoren wie Laura Scarpa, Lorenzo Tettamanti und Angelo Stano. Ich hatte die Gelegenheit, Giuseppe Palumbo, Sergio Toppi, Lorenzo Mattotti, Ferdinando Tacconi und Aldo Di Gennaro kennenzulernen. Ich war von 1990 bis 2000 in Mailand, zunächst wegen des Studiums und dann wegen der Arbeit. Ich habe mehrmals die Wohnung gewechselt, aber ich habe viele Jahre in der Viale Monza, im Pasteur und im Gorla verbracht. In Pasteur wohnte ich ganz in der Nähe des Sozialzentrums Leoncavallo, praktisch auf der anderen Seite der Allee. Und ja, ich erinnere mich gut an die Ereignisse von ’94, die Besetzung in der Via Watteau und die Demonstrationen, aber auch an die vielen Konzerte davor, in dem historischen Gebäude in der Via Leoncavallo. Ich erinnere mich an einige beeindruckende Demonstrationen, was die Teilnahme und die Energie angeht: eine gegen den Irak-Krieg, eine Prozession zum Jahrestag des faschistischen Bombenanschlags auf die Banca Nazionale dell’Agricoltura am 12. Dezember, eine am 25. April. Es war aufregend, dabei zu sein. Die 90er-Jahre waren das „goldene Jahrzehnt“ der sozialen Zentren. Ich mochte besonders das De Amicis, das in der Nähe der Säulen von San Lorenzo, am Anfang der Navigli, stand. Es war winzig, aber es herrschte eine gute Atmosphäre, die Abende waren sehr lustig, und jedes Mal, wenn ich hineinging, fühlte ich mich wie in dem amerikanischen Comic „House of Secrets“, den ich damals las.

Von Mailand gingst du nach Turin: Wann und warum?

Ich kam im Jahr 2000 in Turin an. Mein Partner Stefano und ich waren sehr beschäftigt und sahen uns nur selten. In derselben Stadt zu leben, war die einzige Möglichkeit, weiterhin zusammen zu sein, sonst hätten wir uns verloren. Ich zog um, obwohl ich nicht sehr glücklich darüber war, Mailand zu verlassen. Stefano spielte in mehreren Musikgruppen in Turin, und die Stadt zu verlassen, hätte für ihn bedeutet, wieder ganz von vorne anfangen zu müssen.

Du bist mit dem Komponisten und Musiker Stefano Risso liiert. Im Internet sieht man von euch Filme gemeinsamer Auftritte, er am Kontrabass und du am Zeichentisch. Was sind das für gemeinsame Kunstaktionen, die ihr bestreitet?

Stefano und ich sind seit langem zusammen, haben ein Kind, und die Situation unterscheidet sich nicht sehr von einer Ehe. Aber ich betone das, weil es eine Entscheidung war, mich nicht zu verheiraten. Jedenfalls ist es nicht wichtig. Wir haben zusammen gespielt und gezeichnet, live, in vielen Formen. Das interessanteste Projekt war, glaube ich, „Improvveduti“, eine Performance, bei der wir zu Beginn das Publikum nach einem Wort gefragt haben und dazu dann improvisierten, er am Kontrabass und ich mit Worten und Zeichnungen. Daraus sind einige sehr interessante Texte entstanden, die Stefano dann in Songs verwandelt hat. Wer weiß, vielleicht beschließen wir eines Tages, sie zu veröffentlichen. Ich erinnere mich, dass ich, bevor ich anfing, immer große Angst hatte, vor allem davor, dass mir ein Wort vorgeschlagen wird, das mir nichts sagt, aber sobald ich den Pinsel auf das Papier setzte, wurde all diese Angst zum reinen Vergnügen. Das war wahrscheinlich der Sinn der Sache.

Im Jahr 1999 erschien dein erster Comic mit dem Titel „Rimskij Fornaio“ – „Rimsky der Bäcker“. Der Comic ist leider vergriffen. Vom Titelbild her schließe ich auf eine Geschichte im Stil der Underground-Comics jener Zeit. Stimmt das? Kannst du mehr zu dem Comic erzählen?

„Rimskij“ wurde vom Comic-Zentrum Andrea Pazienza angefragt, das in Italien eine wichtige Einrichtung für junge Autor*innen war (und immer noch ist). Es war Teil einer Reihe mit dem Titel „Schizzo presenta“, die jedem Autor, jeder Autorin ein 24-seitiges Albetto widmete. Für mich war das ein ziemlicher Sprung; bis dahin hatte ich nur an sehr kurzen Geschichten gearbeitet, höchstens acht Seiten. Ich habe mit einem Freund, Marco Bosonetto, zusammengearbeitet, der der Autor der Geschichte ist. Der Comic ist mit dem Pinsel gezeichnet, in Schwarz-Weiß mit einer zusätzlichen Farbe. Er handelt von einer zukünftigen Gesellschaft, in der alle Arten von religiösen Sekten und zynischen multinationalen Konzernen – die auch in der Realität oft ein und dasselbe sind – regieren. In diesem Szenario wird ein Junge, der Bäcker in den Bergen ist, entführt, weil er als der letzte Nachkomme des Bäckers von Christus gilt. Aber das ist nur eine der vielen Geschichten, die ein kauziger Geschichtenerzähler, Altiero Altizigomi, jeden Abend einem Publikum von Obdachlosen und anderen Nachtschwärmern am Rande der Stadt erzählt. Und es ist auch eine Geschichte, die von Marco und mir erzählt wird, die als Figuren im Finale unseres eigenen Comics auftreten. Ein Spiel wie mit chinesischen Schachteln.

Erst 2009 erschien wieder ein von dir illustriertes Buch: „L`aria è di tutti. Cose fare per non inquinaria“ – „Die Luft gehört allen. Was man tun kann, um die Luft nicht zu verschmutzen“. War dies eine ökologisch-pädagogischen Arbeit?

Nach “Rimskij” habe ich mich hauptsächlich der Illustration gewidmet. Ich habe viele Kinderbücher illustriert, für viele Verlage Belletristik und eher pädagogische Bücher wie „L’aria è di tutti“, das bei Giunti herauskam, gezeichnet. Das war die einzige Möglichkeit zu arbeiten. Die Comics kamen zum Erliegen, nach und nach schlossen alle Zeitschriften und Verlage, und es gab keine Räume mehr, in denen man veröffentlichen konnte. Selbst die Fanzines verschwanden oft schon nach wenigen Ausgaben. In diesen zehn Jahren überlebte ich mit Illustrationen und ein paar sporadischen Kurzcomics hier und da. Mein Bedürfnis, Comics zu machen, war jedoch so groß, dass ich begann, meine eigenen Fortsetzungsgeschichten im Selbstverlag zu veröffentlichen, die ich an enge Freunde verteilte. Als ich ihnen meine Geschichte vorlegte, baten sie mich, an einem Comic-Roman zu arbeiten: So wurde „Oche“ geboren.

Deine Graphic Novel „Oche – il sangue scorre nelle vene“ („Gänse – das Blut fließt durch die Venen“) erschien im Jahr 2011 im Verlag „Coconino Press“. Eine Geschichte von drei sehr unterschiedlich traumatisierten Jugendlichen, die in Turin leben. Die drei kennen sich nicht und eilen einem bedrohten Obdachlosen zu Hilfe, als dieser von Faschisten der Casa Pound Italia angegriffen wird. Die Jugendlichen freunden sich an und bewältigen gemeinsam ihre schwierigen Lebenssituationen. In diesem Comic kommt die mörderische Gewalt der Faschisten zu Sprache. Es vergeht ja fast kein Jahr, in dem nicht von einem bestialischen Mord an Linken oder Migrant*innen in Italien berichtet wird. War dieser Umstand ausschlaggebend für deine Arbeit? Und wie spiegelt sich die heutige Realität italienischer Jugendlicher in deinem Comic wider?

Ich habe einige Jahre in Turin gelebt, einer multiethnischen Stadt mit viel mehr Gegensätzen als Mailand. Die Trennung zwischen dem wohlhabenden und dem proletarischen Turin stach mir ins Auge. Wahrscheinlich hat die Tatsache, dass die Stadt Sitz der königlichen Familie und zunächst Hauptstadt Italiens und dann Industriestadt mit Fiat war, die Klassenunterschiede noch verstärkt, auch geografisch, indem die Stadt in Zonen aufgeteilt wurde. Von dem Hügel steigen die Söhne der oberen Mittelschicht mit der Absicht einer Strafexpedition (der Begriff ist auch typisch für faschistische Aktionen) gegen einen am Fluss lebenden Obdachlosen herab. Henry und die beiden anderen Jugendlichen, Nadia und Davide, stellen sich ihnen in den Weg. Es ist eine Situation, die sie verbindet, noch bevor sie merken, dass sie alle das gleiche Gefühl der Orientierungslosigkeit empfinden. Seit dem Erscheinen von „Oche“ hat sich die Verbreitung faschistischer Ideen und Gewalt von den jungen Sprossen der reichen Familien der guten Gesellschaft auf die Vorstädte verlagert. Casa Pound hat die ärmsten und verlassensten Viertel der Stadt fest im Griff.

In „Oche“ bindest du, wie in anderen deiner Geschichten auch, Poesie, Musik und Mythologie ein. Hier ist es eine Fabel des 1995 tragisch ums Leben gekommenen sardischen Schriftstellers Sergio Atzeni und die Erzählungen der nigerianischen Götterwelt der Jorubas. Was bringt dich dazu, diese kulturellen Crossover zu wagen?

Ich verwende gerne verschiedene Strategien beim Schreiben. Wie bei den Bildern ist es für die Leser*ìnnen nützlich, wwenn sich die Erzählsituation ändert, z. B. wenn es sich um einen Traum, eine Erinnerung oder eine Legende handelt, damit verständlich wird, dass man sich nicht mehr in der „Gegenwart“ der Geschichte befindet. Im grafischen Teil ändere ich die Farben und Techniken, im schriftlichen Teil ändere ich die Art des Schreibens. Aber es ist nicht nur eine Frage der Lesbarkeit, das ist für mich ein zweitrangiger Grund. Ich ändere gerne die Perspektiven beim Schreiben, weil das wirkliche Leben meiner Meinung nach auch so ist: Es gibt nicht nur Dialoge und Gedanken, im Alltag gibt es Momente der Poesie, der Musik, des Rap, der Abstraktion, die mit bestimmten Worten beschrieben werden müssen.

Im Jahr 2012 folgte deine Sammlung von humorvollen Anekdoten in Form von kurzen Strips aus der Welt der Kinder, „Marmocchi“. Sie erschien in sechs Ländern. In Deutschland erhielt sie den Titel „Knirpse“. Welche Ereignisse dienten dir als Vorlage zu diesen kleinen Strips?

Als mein Sohn anfing zu sprechen und die Welt so zu beschreiben, wie er sie sah, über die großen universellen Themen zu sprechen und sie zu hinterfragen, war das, was er sagte, äußerst amüsant, aber auch sehr tiefgründig. Es regte zum Nachdenken an. Um ihn und diese Situationen nicht zu vergessen, fing ich an, Comics von ihm zu zeichnen. Das schien mir das beste Medium zu sein, denn wenn ich nur die Witze aufgeschrieben hätte, wären die Ausdrücke und die Mimik, die von grundlegender Bedeutung waren, nicht berücksichtigt worden. Dann begann ich auch, die Witze der Kinder meiner Freunde zu zeichnen. Der Jungen und Mädchen, die die Ludoteca Popolare besuchten, eine selbstverwaltete Einrichtung von Eltern in meinem Viertel, die sehr nett war. Als es zu viele wurden, um sie einzeln per E-Mail an die Eltern der kleinen Autoren zu schicken, eröffnete ich einen Blog, wo ich sie hochlud. Von dort aus landeten sie in einer Comic-Zeitschrift, „Animals“, und wurden dann in einem Buch von Diabolo gesammelt. Im Nachhinein wurde mir klar, dass dieses Projekt auch einen großen soziologischen Wert besaß: Als wir aber die Strips ins Französische und Deutsche übersetzten, stellten wir fest, dass wir viele von ihnen hätten streichen können. In Frankreich und Deutschland waren einige nicht nur nicht lustig, sondern wurden auch nicht verstanden. Zum Beispiel mehrere Strips über Religion, die in Italien und Spanien, zwei sehr katholischen Gesellschaften, funktionierten.

Wie „Marmocchi“ (dt. als „Knirpse“ bei Diabolo Comics) wurde auch deine 2016 erschienene Graphic Novel „Verdad“ ins Deutsche übersetzt. Die Geschichte einer jungen Feministin, die an der Seite der spanischen Anarchist*innen gegen den Putsch der Faschisten kämpft, schwer verwundet wird, den Kampf nicht aufgibt und am Ende erschossen wird. Eine ergreifende Geschichte. Wie bist du darauf gekommen?

Die Konzeption von „Verdad“ hat einen langen und ziemlich bizarren Weg hinter sich. Ursprünglich wollte ich eine wahre Geschichte erzählen. In dieser geht es um zwei deutsche Aktivisten der Kommunistischen Partei Deutschlands, die, um an der Dritten Internationale teilzunehmen, in Hamburg auf einem Flaggschiff anheuern, es entführen, in den Stürmen der Ostsee verloren gehen und bei ihrer Ankunft in Russland sofort verhaftet werden. Mir gefiel die Idee, eine solch unglaublichen Geschichte als Grundlage zu nehmen. Ich hatte sie dank eines Liedes von Area mit dem Titel „The Odessa Apple“ entdeckt. Ich gab aber die Idee auf, weil ich im Laufe der Dokumentation eine zunehmende Abneigung gegen Franz Jung empfand. Ich konnte mich nicht mit ihm identifizieren, aber als ich weiter über ihn recherchierte, stieß ich auf Otto Gross, den ich verehrte, und folglich auf Monte Verità. Inzwischen waren Monate und Monate vergangen, und mein Kopf war wahrscheinlich endlich bereit, sich vorzustellen, was mein literarisches Ziel, mein Bedürfnis war, und so kamen Verdad und der Spanische Bürgerkrieg zustande. Von diesem Zeitpunkt an schien es mir, als würde sie die Geschichte leiten.

Wie und wo hast du historische Recherchen angestellt?

Von Turin aus habe ich viel recherchiert, so viel wie möglich gelesen, Dokumentarfilme und Zeitzeugenberichte gesehen, sowohl spanische als auch italienische – viele Italiener haben am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen, und viele von ihnen haben nach ihrer Rückkehr dem italienischen Widerstand Leben eingehaucht -, und dann habe ich das Ebrogebiet in Spanien besucht. Aber ich habe es nie geschafft, den Monte Verità zu besuchen, ich habe es viele Male versucht, aber es war nicht möglich.

Wie kamst du dazu, die bei vielen vergessene Künstlerkolonie Monte Verità am Lago Maggiore in deine Graphic Novel einzubinden?

Ich war fasziniert, als ich Monte Verità durch den Dokumentationsteil über Otto Gross entdeckte, der dort eine Zeit lang lebte. Mich interessierte vor allem die Vielfalt der Personen, die dort lebten: Künstler, Dichter, politische Aktivisten, Tänzer, Wissenschaftler… und ihre Interaktionen. Es schien mir die perfekte Darstellung des Ferments jener Jahre zu Beginn des Jahrhunderts zu sein, das sich auf alle Bereiche erstreckte und diese revolutionierte.

Wie ist der Comic bei noch lebenden Partisan*innen in Spanien und Italien angenommen worden?

Es war stark und aufregend, „Verdad“ in Spanien vorzustellen. Als wir an der spanischen Ausgabe arbeiteten, hatte ich große Angst: eine ausländische Autorin, geboren in den 1970er-Jahren, die eine Geschichte veröffentlicht, die während des Bürgerkriegs in Spanien spielt… Ich wusste nicht, wie meine Graphic Novel aufgenommen werden würde. Ich habe den Spanienkrieg nie als ein Ereignis wahrgenommen, das nur dieses Land betrifft. So viele Italiener, von denen viele später nach Italien zurückkehrten und die GAP und Partisanengruppen gründeten, um den Faschismus zu bekämpfen, waren nach Spanien gegangen, um in den Internationalen Brigaden zu kämpfen. Es war ein wichtiger Moment für ganz Europa. Der Spanische Bürgerkrieg war nicht nur ein Laboratorium für den Kampf gegen den Faschismus. In Barcelona experimentierten die Anarchist’innen mit der Selbstverwaltung (in einer Stadt, die damals bereits eine Million Einwohner hatte), der Abschaffung des Geldes, des Privateigentums und der Kollektivierung des Bodens. Parallel dazu diskutierten die Frauen mit den Mujeres Libres und anderen Gruppen über Abtreibung, Empfängnisverhütung und Gleichberechtigung der Geschlechter, organisierten Schulen und Ausbildungskurse: Dies waren 1936 sehr avantgardistische Themen und Praktiken. Der Spanische Krieg war ein entscheidender Übergang für Europa und für das, was es werden sollte.

„Verdad“ wurde in Spanien sehr gut aufgenommen. Es gab unvergessliche Begegnungen, nicht nur wegen der großen Beteiligung des Publikums, sondern vor allem wegen des Austauschs von Geschichten mit denen, die diese Zeit am eigenen Leib und in ihren Familien erlebt haben. Sogar in Italien, wo ich „Verdad“ präsentierte, traf ich Menschen, die mir von ihren persönlichen Erfahrungen erzählten, und das ist ein Beweis dafür, wie wichtig diese Zeit und dieser Kampf auf internationaler Ebene waren.

Welche Resonanz erhieltest du generell auf „Verdad“, auf deinen Versuch, dich aus feministischer Perspektive des Themenkomplexes Frauen, gesellschaftliche Befreiung und bewaffneter Kampf in den 30er-Jahren anzunehmen?

Für mich ist „Verdad“ ein sehr komplexes Buch, das auch in seinen eher introspektiven und traumhaften Teilen politisch bleibt. Vielleicht liegt es an der Art und Weise, mit der ich an die Geschichte herangegangen bin. Also die Protagonistin handeln zu lassen und nicht von der Idee auszugehen, den Spanischen Bürgerkrieg oder meine persönlichen politischen Überlegungen zu erzählen. Dadurch hat die Geschichte eine breitere und aktuellere Dimension. Die Fragen, die damals von Gruppen wie Mujeres Libres aufgeworfen wurden, sind auch heute noch ungelöst. Viele Kämpfe, die damals, in der einzigartigen Erfahrung des freien Barcelona, begannen, sind offene Wunden der heutigen Gesellschaften. Ich habe viele junge Leserinnen getroffen, die das Buch in die Hand nahmen, als sie den kurzen Klappentext lasen. Trotz der knappen Beschreibung identifizierten sie sich sofort mit Verdad, weil sie in ihr das gleiche Streben nach Rechten und Freiheit erkannten. Die Rolle der weiblichen Kämpferinnen im Spanischen Krieg, mehr noch als die der Partisaninnen in anderen europäischen Ländern, ist ein starkes und kraftvolles Beispiel, das heute schmerzlich vermisst wird. Heute sind die von den Medien vorgeschlagenen weiblichen Rollenmodelle meist erniedrigend und unterdrückend, und rechte Regierungen untergraben die von der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren errungenen Rechte.

Die Graphic Novel erschien auch in Spanien, Frankreich und Österreich. Spiegelt diese Verbreitung auch ein steigendes Interesse wider, historische und politische Inhalte im Comicbereich umzusetzen? Comics als Instrument der Erinnerungskultur, Bildungsarbeit und Wissensvermittlung?

„Verdad“ hat viele Auflagen erhalten und ist nach wie vor ein viel gelesenes Buch. Ich denke, seine Stärke ist gerade die Form der Erzählung, die alles andere als belehrend ist. Obwohl sein Inhalt zweifellos politisch und historisch ist, bietet es eine facettenreiche Lektüre. Es erzählt in der ersten Person mit verschiedenen Facetten: Verdads Argumentation, ihr Wachstum und ihr politisches Bewusstsein, Volksmythologie, Erinnerung. Die Erfahrung der Protagonistin wird zur Geschichte. So bleibt eine historische Periode oder ein historisches Ereignis lebendig: wenn es uns gelingt, es als alltägliches Leben zu erzählen, egal wie außergewöhnlich oder zeitlich weit entfernt es auch sein mag.

Die feministische Vereinigung Artémisia aus Paris fördert Frauencomics und zeichnet seit 2007 an jedem 9. Januar, dem Geburtstag von Simone de Beauvoir, ein Album aus, das von Frauen geschrieben und/oder gezeichnet wurde. Im Januar 2018 wurde deine Graphic Novel „Verdad“ von Artémisia mit dem großen Preis für Comics ausgezeichnet. Was bedeutet diese Ehrung für dich?

Der Gewinn des Prix Artémisia war eine große Freude, eine echte Ehre. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich immer noch aufgeregt. Ich mag keine Preise, sie repräsentieren oft nicht das, was sie eigentlich wollen. Aber der Prix Artémisia schon. Die Jury nimmt keine Bücher von irgendwelchen Verlagen an, auch keine Empfehlungen oder sonstiges. Die Jury liest alle Bücher von Autorinnen, die im Laufe des Jahres in Frankreich veröffentlicht werden, und entscheidet selbst. Außerdem ist es eine große Jury.

Aus diesen Gründen war ich schockiert, als man mich kurzzeitig kontaktierte: Das hatte ich absolut nicht erwartet. Ich bin sehr stolz auf den Prix Artémisia: Die Jury hat einstimmig für „Verdad“ gestimmt, und das ist unglaublich (es waren 15 Juror*innen), außerdem hat es mir sehr viel bedeutet, dass das Buch bekannt gemacht wurde.

Wie hoch ist der Anteil von Frauen in der italienischen Comicwelt? Und wie ist die Wertschätzung, die sie dort erfahren?

In den letzten Jahren hat die Präsenz von Autorinnen in Italien zugenommen, obwohl sie insgesamt eine Minderheit bleiben. Ich spreche nicht nur von vollwertigen Autorinnen, sondern auch von Drehbuchautorinnen, Koloristinnen und Illustratorinnen. Sie werden geschätzt, auch international, weil ihre Arbeit sehr gut ist. Ich glaube, dass dieses Wachstum auch darauf zurückzuführen ist, dass es viel mehr Schulen gibt. Private Institute haben vor Jahren angefangen. Aber jetzt bieten auch viele staatliche Akademien eine Ausbildung im Bereich Comics an.
Die Präsenz von Frauen ist im Bereich der Graphic Novels und der unabhängigen Verlage höher. Vielleicht weil viele von ihnen es vorziehen, alleinige Autorinnen zu sein. Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass es in der Welt der Seriencomics weniger Comic-Autorinnen gibt. Ich glaube auch, dass diese Welt einen Schwung weiblicher Hände gebrauchen könnte.

Wie beurteilst du die Zukunft von Comics von Frauen?

Ich hoffe, dass die weibliche Präsenz in der Welt der Comics weiter zunehmen wird. Der erzählerische Blick auf die Realität ist im Allgemeinen noch zu sehr von der männlichen Sichtweise geprägt. Ich finde auch, dass die Stimmen von Autorinnen oft origineller, störender und weniger konventionell sind als die ihrer männlichen Kollegen. Ebenso hoffe ich, dass sich der Comic in die Teile der Welt ausbreitet, in denen er noch nicht existiert. Dass Comics auf diese Weise zu einem direkten Werkzeug für die Menschen werden, die immer von anderen und vor allem von dem privilegierten Teil der Welt erzählt bekommen.

Ich finde, in „Verdad“ sieht man zum ersten Mal durchgehend und explizit deine spezielle Methode, mit Farben zu arbeiten. Deine Zeichnungen wirken lumineszierend, wie von Licht durchflutet. Selbst nächtliche, dunkle Situationen wirken, wie von Licht durchtränkt. Konturen schaffst du jenseits einer „ligne claire“ mit Farben sowie der Intensität und Technik ihres Auftragens. Kannst du mehr zu deiner Zeichen- und Maltechnik erzählen? Wie arbeitest du? Und wie hast du diesen außergewöhnlichen Stil kreiert?

Seit „Verdad“ habe ich das Schwarz aufgegeben. In diesem Buch findet man es nur noch in den Umrissen der Vignetten, dann ist es ganz verschwunden. Ich bin zu dieser Technik gekommen, weil ich mich mit den Propagandaplakate des Spanischen Bürgerkriegs beschäftigt habe. Diese wurden im Siebdruckverfahren gedruckt, oft in drei Farben. Ich wollte diese Atmosphäre wiederherstellen, sie aber zeitgemäßer gestalten. Also habe ich auf Papier mit Pinsel und Acrylfarben mit zwei Farben (Gelb und Rot) gearbeitet und dann am Computer eine weitere Schicht (Cyan) hinzugefügt, die die beiden anderen Farben transparent macht. So konnte ich einen eher malerischen Teil der Zeichnung, der den historischen Kontext gut beschreibt und als Zeichen sehr „emotional“ ist, und einen eher grafischen Teil entwickeln, der sie moderner macht. Und auch dynamischer, weil die Transparenz dafür sorgt, dass Cyan dort, wo es auf Gelb trifft, grün wird und dort, wo es auf Rot trifft, lila. Die Tafeln sind sehr hell, weil ich keine Schattierungen verwende, sodass das Weiß der Seite dort, wo es ausläuft, noch stärker und schärfer erscheint. Es ist ein sehr langwieriger Prozess, weil ich im Grunde dreimal dieselbe Seite zeichne, mit drei verschiedenen Durchgängen, aber es macht mir sehr viel Spaß.

Im Jahr 2017 folgte dann dein Comic „Genova per noi. Album di famiglia passante per Genova“ – „Genua für uns. Familienalbum einer Durchreise in Genua“ bei Comicout. Hier findet man zwei parallel verlaufende Geschichten. Eine zur Zeit des historischen Faschismus und eine an den Tagen des Protestes gegen das G8-Treffen in Genova 2001. Bei der Geschichte aus dem historischen Faschismus geht es um die Geschichte des Bahnhofsvorstehers Bebedetto aus Genova. Und bei der Geschichte von 2001 um die berüchtigte „Chilenische Nacht“ am 21. Juli 2001. Die Polizei griff damals schlafende Protestierende in der Schule „Armando Diaz“ an, prügelten einige halbtot und grölte dabei faschistische Parolen. Du hast mir erzählt, dass dieser Comic anlässlich des Kulturfestivals „Attraversamenti Multipli #Genova 2017“ in der Libera Collina di Castello in Genova innerhalb von zwei Tagen entstanden sei. Kannst du mehr zu der Entstehung des Comics erzählen? Was brachte dich dazu, diese Geschichten so zu erzählen? Und warst du im Jahr 2001 auch bei den Protesten von Genova anwesend?

Es ist eine Geschichte meiner Großeltern. Benedetto war mein Urgroßvater. Er war Zugführer in Genua, und eines Tages kam die faschistische Miliz an den Bahnhof und befahl ihm, die Fahrgäste aussteigen zu lassen, um Mussolini zu befördern, der kurz darauf eintraf. Mein Urgroßvater sagte ihnen, dass sein Zug pünktlich abfahren würde und dass keine Fahrgäste aussteigen würden, um Platz für den Duce zu machen. Er pfiff zur Abfahrt. Als er in Turin ankam, warteten die Carabinieri bereits auf ihn. Sie schickten ihn in eine Art Gefängnis, ins Exil auf Sizilien, an einen Bahnhof, an dem kein Zug fuhr. Als ich gebeten wurde, am Festival „Attraversamenti multipli“ in der Libera Collina del Castello in Genua teilzunehmen, schlug ich vor, während des Festivals einen Live-Comicstrip unter die Leute zu bringen. Es schien mir eine gute Möglichkeit zu sein, meine Arbeit mit anderen zu teilen. Und ich dachte, dass es für das Publikum interessant wäre, zu verstehen und mit eigenen Augen zu sehen, wie ein Comic entsteht. Ich habe dann die Geschichte von meinem Urgroßvater Benedetto mit der Geschichte eines Mädchens verknüpft, das 2001 in der Schule „Armando Diaz“ übernachtet.

Der G8-Gipfel in Genua war das Ende einer Ära. Die gesamte Bewegung, die mit den Sozialzentren, der Gegeninformation und der Selbstverwaltung verbunden ist, aber auch ganz allgemein der gemäßigtere zivile Dissens, der mit den pazifistischen Bewegungen und den Gewerkschaften verbunden ist, wurde betäubt. Mit Carlo Giuliani starb die Hoffnung. Die Menschen gingen nach Genua in der Überzeugung, die Dinge ändern zu können, und sahen sich mit einer noch nie dagewesenen Brutalität konfrontiert. Das wahre Gesicht des Kapitalismus. Ich konnte mir nicht vorstellen, eine Geschichte über Genua zu schreiben, ohne über den G8 zu sprechen. Der andere Großvater, den ich bereits erwähnte, lag damals im Sterben, und deshalb konnte ich im Juli 2001 nicht nach Genua fahren. Es war schrecklich, zu Hause zu bleiben und dieses Massaker live im Fernsehen zu verfolgen. Es war sehr schmerzhaft.

In den folgenden Jahren erschienen von dir „Salvo imprevisti“ („Wenn keine unvorhergesehenen Ereignisse eintreten“) bei Oblomov Edizioni und „Io più fanciullo non sono“ („Ich bin nicht länger ein Kind“) bei Coconino Press. Letzterer wurde bei dem Festival Lucca Comics mit dem Gran Guinigi ausgezeichnet. Diese Arbeiten kenne ich nicht. Kannst du zu diesen Werken mehr erzählen?

„Salvo imprevisti“ ist eine Geschichte, die aus vier sich überschneidenden Erzählungen besteht. Vier Personen: drei Menschen und eine künstliche Intelligenz (nicht die, über die in letzter Zeit gesprochen wird, sondern ein Computersystem, das das Haus verwaltet: Es schaltet die Heizung ein, bestellt die Lebensmittel, lässt die Jalousien herunter usw.). Von den menschlichen Figuren sind zwei fiktiv (ein Astrophysiker, der nach anomalen elektromagnetischen Signalen aus dem Weltraum sucht, und ein Hackermädchen), und einer ist real, nämlich Katherine Mansfield, eine von mir verehrte Schriftstellerin der Jahrhundertwende. Einsamkeit, Missverständnisse, Isolation und fehlende Anerkennung ihrer menschlichen Werte und Kenntnisse sind die Dinge, die sie zusammenbringen, obwohl sie in verschiedenen Epochen und Ländern leben. Die künstliche Intelligenz begibt sich ebenso wie die Menschen auf die Suche nach dem, was sie nicht hat: in ihrem Fall einen Körper, Emotionen, und sie geht den umgekehrten Weg wie die anderen Figuren. Der Mensch, der sich auf seine Leidenschaften konzentriert und sich in seine Forschungsgebiete vertieft, verliert den Blick für das Unvermeidliche im Leben: das Unerwartete. Sie streben nach einer perfekten, zunehmend wissenschaftlich definierten Welt, obwohl sie alle Opfer einer trockenen und wettbewerbsorientierten Gesellschaft sind, die ihren Wert nicht im Geringsten berücksichtigt, und stattdessen kommt die künstliche Intelligenz auf ihrem eigenen Weg zum Menschlichen, zum Unvollkommenen, zum Ungewissen.

“Io più fanciullo non sono” ist ein Buch aus der Reihe “Fumetti nei Musei”, die von Coconino Press in Zusammenarbeit mit dem Kulturministerium und einer Reihe von italienischen Museen herausgegeben wird. Sie richtet sich an Kinder und Jugendliche. Jedem Museum der Reihe wurde ein Autor zugewiesen, der eine Geschichte erzählen sollte, die in irgendeiner Weise mit dem Museum zu tun hat. Der Auftrag lautete, Geschichten mit absoluter Autorenfreiheit zu schreiben, keine didaktischen oder informativen Broschüren: Das Ergebnis ist eine sehr interessante Reihe. Die Geschichten sind abwechslungsreich, kurios, faszinierend… in jedem Buch erkennt man, wie sehr der Autor es genossen hat, „sein eigenes Museum“ zu haben.

Ich habe mit den Königlichen Museen von Turin zusammengearbeitet. Ein riesiges Museumszentrum, eine unendliche Schatztruhe voller Geschichten, von der Antike bis zur Moderne. Nie hätte ich bei meinem ersten Besuch gedacht, dass ich über einen Savoyer sprechen würde! Das Leben von Eugen von Savoyen-Soissons (Prinz Eugen) ist jedoch eine Geschichte der Rache und der Rebellion, die mich sofort beeindruckt hat. Sowohl von den Savoyern in Turin als auch von Ludwig XIV. in Paris verunglimpft, verfolgte er hartnäckig seine Träume (er floh sogar als Frau verkleidet aus Versailles) und verwirklichte nicht nur seine Träume, sondern rächte sich so sehr an denen, die ihn immer verspottet hatten, dass er in die Geschichtsbücher einging. “Io più fanciullo non sono” spricht Kinder an, wie man autoritären und unterdrückerischen Familien und Gesellschaften durch Selbstbestimmung und Rebellion begegnen kann.

Im Jahr 2020, zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, hast du das bekannte Partisanenlied „Bella ciao“ grafisch umgesetzt. Das Buch erschien im Verlag Einaudi und erhielt im Jahr darauf den begehrten Andersen-Preis der Monatszeitschrift für pädagogische Kinder- und Jugendbücher. Wie kam es zu dieser Arbeit?

Die Idee kam vom Verlag Einaudi Ragazzi. Sie schlugen mir vor, das Lied “Bella ciao” in ein illustriertes Buch für Kinder zu verwandeln. Ich war sofort begeistert und habe natürlich umgehend zugesagt. Aber es war nicht einfach. Ich musste die Vorstellung, die ich von “Bella ciao” hatte, ändern. Bis dahin war es mein Lied: Als Kind habe ich es ständig gesungen, als Spiel, zum Spaß, dann habe ich es bei Demonstrationen gesungen, bei Beerdigungen… Kurzum, es hatte eine sehr persönliche Geschichte. Aber ich konnte es nicht nur aus meiner Sicht erzählen, weil es ein universelles Lied geworden ist, das in jeder Sprache und in jedem Winkel der Welt gesungen wird. Es in Bilder zu übersetzen, war, als würde ich es zum ersten Mal hören und einen neuen Aspekt davon verstehen. Ich habe den Comic während des ersten Einschlusses wegen der Corona-Pandemie entworfen. Wir waren alle im Haus eingeschlossen, und es war schön draußen, es war warm und wir ließen die Fenster offen. Ich zeichnete, und mehrmals am Tag hörte ich, wie von den umliegenden Balkonen „Bella ciao“ gesungen wurde. Und das geschah nicht nur, weil „Bella ciao“ ein Lied des Kampfes ist (heute vielleicht das Symbol des Protestsongs), sondern weil es ein Lied ist, das Nähe schafft. Selbst wenn man es auf der Straße pfeift, kann man sicher sein, dass bald jemand mitsingen wird. Es war wichtig, dass dieses Buch mit dem Andersen-Sonderpreis ausgezeichnet wurde.

Im letzten Jahr erschienen von dir gleich zwei französische Auftragsarbeiten. Zu dem im Jahr 2000 verstorbenen italienischen Rennradfahrer Gino Bartali und dem 2013 verstorbenen 95-jährigen französischen Resistance-Kämpfer Stephane Hessel. Beide Graphic Novels gibt es in französischer Sprache, die zu Gino Bartali auch auf Italienisch. Kannst du uns mehr zu dem Inhalt und der Zusammenarbeit mit den Autoren und Verlagen erzählen?

Die Biografie über Gino Bartali wurde mir von Julian Voloj vorgeschlagen, dem Drehbuchautor, der das Thema der Geschichte bearbeitet hat. Es ist merkwürdig, dass Julian Amerikaner ist und in New York lebt, und dass die Idee, über Bartali zu schreiben, von ihm kam… Jedenfalls hat mir der Vorschlag gefallen. Mich interessierte die Geschichte, wie Bartali gegen den Faschismus kämpfte und was er tat, um sich an der Rettung der vom Nazifaschismus Verfolgten zu beteiligen. Weil Gino Bartali sehr religiös und ein aktiver Katholik war, wird oft – aus Unwissenheit – angenommen, dass er rechts war. In der historischen Radfahrer-Rivalität zwischen Fausto Coppi und Gino Bartali sei Coppi der Linke und Bartali der Rechte gewesen – aber das ist Unsinn.

Was mich, mehr noch als Bartalis Leben, zu dieser Arbeit veranlasst hat, war seine Entscheidung, nie über seine Widerstandsaktionen während der faschistischen Herrschaft zu sprechen. Diese Handlungen entstanden für ihn aus einer menschlich zwangsläufigen Geste heraus. Es gab keine andere Wahl: Es war das Richtige, und es gab keine andere Möglichkeit zu handeln. In einer Zeit wie der unseren, in der wir mit nutzlosen Informationen von allen Seiten bombardiert werden, in der sich die Sozialität zu einer Art kollektivem und pathologischem Narzissmus verwandelt hat, schien mir eine Wahl von solcher Würde ebenso wichtig zu sein wie die parteiische Haltung. Für die Graphic Novel „Bartali“ überwachte ich die gesamte Umsetzung des Themas in ein Drehbuch, die Zeichnung und die italienische Übersetzung. Obwohl die Graphic Novel nicht aus meiner Idee entstanden ist, bedeutet sie mir viel.

Von der anderen Graphic Novel, von ‚Indignez-vous!‘, habe ich allerdings nur die Tafeln gezeichnet. Es ist ein Comic, in dem sich Teile des Lebens von Stéphane Hessel und Teile der Redaktionsgeschichte seines Pamphlets „Indignez-vous!“ – „Empört euch!“ von 2010 und was es in der ganzen Welt erreicht hat, überschneiden. Wir sprechen über die Indignados-Bewegung, Occupy Wall Street, den arabischen Frühling… Obwohl ich mich um die Rahmung, die Farben und das Zeichnen kümmerte, war ich natürlich viel weniger an diesem Projekt beteiligt.

Im letzten Jahr hast du es auch noch geschafft, mit Gregory Mardon die Geschichte der No-Tav-Bewegung unter dem Titel „Tra treni e monti“ in der neu entstandenen „La Revue Dessenée Italia“ zu veröffentlichen. Was ist die No-Tav-Bewegung? Und was ist deine Beziehung zu dieser Bewegung? Die „La revue dessinée Italia“ ist ein neu entstandenes Presseformat von Journalist*innen, politischen Aktivist*innen und Comic-Zeichner*innen. Kannst du uns dazu auch mehr erzählen?

Die No-Tav-Bewegung entstand vor etwa dreißig Jahren aus dem Widerstand gegen den Bau einer ebenso nutzlosen, wie schädlichen Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnlinie für den Güterverkehr im Susa-Tal in der Nähe von Turin. Die No-Tav-Bewegung wuchs und wurde zu einer Bewegung, die sehr unterschiedliche Lebenswelten in sich aufnahm: von der antagonistischen Bewegung bis zu den Bürgermeistern und Bewohner*innen der Dörfer des Tals, von katholischen und umweltbewussten Kollektiven bis zu normalen Landwirten und vielen anderen. In den letzten Jahren hat sie nicht nur eine umfangreiche und aktuelle technische Dokumentation erstellt, die auch von der Europäischen Union berücksichtigt wurde, sondern auch ein politisches Bewusstsein für die Pflege und den Schutz des Territoriums nicht nur im Susa-Tal geschaffen. Die No-Tav-Bewegung ist zum Symbol des Kampfes gegen die starken Mächte und die mafiöse Verwaltung von Großprojekten geworden. Darüber hinaus hat die Bewegung stets kreative, integrative und äußerst lebendige Methoden eingesetzt, um ihren Kampf voranzutreiben. So haben viele Intellektuelle, Leute aus dem Showbusiness, der Musikwelt und der Literatur die Sache von No Tav unterstützt. Die Repressionen gegen Aktivist*innen und Unterstützer*innen haben exponentiell zugenommen, sogar der Schriftsteller Erri De Luca wurde wegen seiner Schriften zur Unterstützung des No-Tav-Kampfes angeklagt.

Ich habe diesen Kampf immer unterstützt und an vielen Demonstrationen, Aufmärschen und Kundgebungen sowohl im Tal als auch in Turin teilgenommen. Es war großartig, diese Geschichte für die „Revue Dessinée“ aufbereiten zu können. Es war eine achtseitige Reportage, die die italienische und die französische Situation schildert. Für den italienischen Teil haben der Journalist Alberto Puliafito und ich zu zweit gearbeitet. Wir haben uns sehr gut verstanden. Es ist uns gelungen, die Geschichte einer komplexen politischen Situation zu erzählen, die seit vielen Jahren andauert. Eine Geschichte mit vielen Ereignissen und Menschen, die daran beteiligt sind. Ich denke, es ist uns auch gelungen, teilweise die Atmosphäre und etwas von der Seele der No-Tav-Bewegung einzufangen.

„La Revue Dessinée Italia“ ist eine Zeitschrift, die vor zwei Jahren in Anlehnung an ihre gleichnamige französische „große Schwester“ „La revue dessinée – l`actualitè en bande dessinée“ entstanden ist. Sie bietet journalistische Comicreportagen, die in der Zusammenarbeit von Cartoonisten und Journalisten entstehen. Sie werden gemeinsam erstellt. Auch dank des Redaktionsteams, das eine wirklich hervorragende Arbeit leistet. Es handelt sich um eine Zeitschrift ohne Werbung, die bewusst nicht auf Amazon verkauft wird und ihren Autor*innen ein angemessenes Honorar zahlt – was in Italien nicht selbstverständlich ist. Die Vorschläge werden von der Redaktion besprochen und nach den Regeln des langsamen Journalismus ausgewählt. D. h. eine gründliche journalistische Recherche, ohne dem Scoop oder der meistdiskutierten Nachricht zu folgen, die ein großes Publikum garantiert. Jeder kann Themen vorschlagen, aber die Berichte müssen dann nach journalistischen Regeln ausgearbeitet werden. Also ausführliche Dokumentation, Überprüfung von Quellen, eingehende historische Analyse usw.

Deine Arbeiten durchziehen stets die Themen der individuellen und gesellschaftlichen Unterdrückung und der Rebellion dagegen. Der historische Widerstand gegen Faschismus in den westeuropäischen Ländern spielt dabei eine große Rolle. Aber auch die derzeitigen politischen Ereignisse in Italien. Kann man dich als ausgewiesene politische Künstlerin bezeichnen?

Ich glaube schon. Kürzlich wurde in Italien eine Sammlung meiner Comic-Kurzgeschichten mit dem Titel „Battiti“ veröffentlicht, was auf Italienisch sowohl „(Herz)schlagen“ als auch „Kämpfe!“ bedeutet. Es ist ein perfekter Titel, denn er spiegelt den Inhalt all meiner Kurzgeschichten wider. Wenn ich sie alle zusammen lese – das hatte ich noch nie getan, weil es sich um Geschichten von 2009 bis heute handelt -, wird mir klar, dass jede von ihnen einen politischen oder sozialen Inhalt hat. Es geht um den Wohnungsnotstand, um Migration, um Korruption, um die Einmischung der katholischen Kirche in die öffentlichen Schulen und das Gesundheitswesen… Jede Geschichte hat ihren eigenen Blick auf die Realität. Kritik und politisches Denken sind Dinge, denen ich nicht ausweichen kann. Ich versuche nie, explizit über ein soziales oder politisches Problem zu sprechen. Sondern ich beschreibe, was ich um mich herum sehe. Die Welt, die Realität ist für mich so. Wahrscheinlich schreibe ich „engagierte“ Texte und Comics, weil das meine Art ist, die Welt zu sehen.

Seit dem Oktober 2022 ist die Faschistin Georgia Meloni von den „Fratelli d` Italia“ Regierungspräsidentin in Italien. Wie beurteilst du die bisherige Politik aus Rom?

Leider ist nicht nur Präsident Meloni – sie nennt sich selbst in dieser männlichen Form, und das sagt schon viel über sie aus – das große Problem, das Italien plagt. Die ganze Bande von Dieben, Korrupten, Faschisten, Sexisten, Homophoben und vor allem Ignoranten, die ihre Regierung bilden, ist sehr, sehr erschreckend. Aber hier müsste ich mindestens zwanzig Seiten schreiben, um zu zeigen, in welch katastrophaler Situation wir uns in Italien befinden… Ich wünsche lieber allen eine gute Comic-Lektüre. Comics gegen Faschismus! Wir werden niemals aufhören.

Ich bedanke mich herzlich für das Interview.

Lorena Canottiere: Verdad • Aus dem Italienischen von Georg Fingerlos • Bahoe Books, Wien 2017 • 160 Seiten • Hardcover • 22,00 Euro