Israel im Comic

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist das größte Pogrom gegen Juden seit der Shoah. Die Bestialität der Mörder offenbart den eliminatorischen Antisemitismus, der sie antreibt. Das Blut der Opfer war noch nicht getrocknet, als bereits eine gigantische Desinformationsflut in den sozialen Netzwerken tobte. 1200 Ermordete und 200 Entführte waren nicht genug, um nicht umgehend die variantenreiche Relativierungsmaschine anzuschmeißen, dass der „Apartheidstaat“ Israel nur die Quittung für seine Siedlungspolitik erhalten habe. Das Gerücht über die Juden, der Kern des Antisemitismus, führt nun zu einem breiten Zweckbündnis zwischen linken, rechten und islamistischen Kräften, die das Massaker der Hamas instrumentalisieren, um auf den Straßen im Land der Täter des Holocaust gegen den jüdischen Staat zu mobilisieren. Statt Worte der Trauer und Empathie liest man „Free Palestine“, „From the River to the Sea“ oder „Free Palestine from German guilt“ auf den Transparenten, parallel steigt die Zahl der antisemitischen Delikte rasant, während die ansonsten selten um moralische Inbrunst verlegenen Förderer der israelfeindlichen BDS-Kampagnen im Kulturbetrieb derzeit beredt schweigen.

Es gibt gute und üble Beispiele für Comics, die die Geschichte und Gegenwart Israels zu vermitteln versuchen und im besten Sinne Aufklärung bieten. Die guten wurden für dieses Dossier aus Archivbeiträgen noch einmal zusammengestellt. Die die Fatah und Hamas verharmlosenden Comicreportagen des BDS-Anhängers Joe Sacco – „Palästina“ und „Gaza“ – wurden keineswegs übersehen, sondern gehören nicht dazu.
SVEN JACHMANN

Kathartische Konfusion – „Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger“

von SVEN JACHMANN

Der Titel „Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger“ verspricht das Gegenteil von dem, was dieser Reisebericht letztlich erfüllt, denn am Ende der Geschichte steht nicht das Verstehen, sondern das Alter Ego der Autorin Sarah Glidden muss sich von einem politischen Paradigma verabschieden. Ihre zu Beginn recht apodiktische Haltung ist einer kathartischen Konfusion gewichen: Womöglich ist doch nicht nur Propaganda im Spiel, wenn die US-Presse vermeintlich tendenziös über den Nahostkonflikt berichtet? Und vielleicht steht am Anfang jeder Kritik erst mal die Schwierigkeit, festgefügte Überzeugungen aufzugeben, um Widersprüche aushalten zu können?

Dabei fing alles so überschaubar an. Ihrem Freund prophezeite Sarah halbironisch beim Abschied: „Ich werde also hinfahren und die Wahrheit in diesem Durcheinander suchen. Wenn ich zurück bin, ist alles kristallklar!“ Um sich mit ihrem jüdischen Erbe zu konfrontieren, fliegt die linksliberale, agnostische Amerikanerin 2007 zusammen mit ihrer gläubigen Freundin Melissa nach Israel. Die Initiative „Birthright Israel“, eine Stiftung, die weltweit jungen jüdischen Erwachsenen (so auch den beiden Frauen) kostenlos eine Erstbegegnung mit Israel ermöglicht, ist Sarah schon aus Prinzip verdächtig: als Rekrutierungsmaßnahme für Nachwuchszionisten, die einzig dem großen Projekt Alliyah, der Einwanderung von Juden nach Israel, dienen soll. Ein skurriles und für alle Teilnehmer obligatorisches Fragezeremoniell am Flughafen vor der Einreise entkräftet nicht gerade Sarahs Misstrauen. Doch der Reiseführer entpuppt sich bereits auf der ersten Busfahrt weniger als glühender Propagandist denn als Skeptiker, als er die drastischen Folgen des Baus der Trennmauer für die palästinensischen Bewohner des Gebietes beklagt, obgleich an der Notwendigkeit kein Zweifel besteht: „Nach dem Bau ist die Zahl der Anschläge in Tel Aviv von zwei pro Woche auf vier pro Jahr gesunken.“ Der Zwiespalt bleibt fortan das Ordnungsprinzip der Erzählung, denn gleichgültig, ob die Reisegruppe die Golanhöhlen, Jerusalem oder Tel Aviv besucht, immer muss Sarah feststellen, dass ihre umfangreichen Recherchen zur Prophylaxe gegen Indoktrination zwar zur historischen Einordnung nützen, jedoch wenig vor einem paradoxen Alltag in einem paradoxen Land feien, in dem der drohende Ausnahmezustand zur institutionalisierten Normalität geworden ist.

Als sie nach einem aufwühlenden Vortrag über die israelische Unabhängigkeitserklärung die fast noch jugendlichen Soldaten sieht, die die Gruppe als Ansprechpartner für einige Tage begleiten werden, bricht Sarah für Stunden in Tränen aus. Hinter den Tränen verbirgt sich die Erosion eines Weltbildes: Der Autorin wird klar, dass Israel als Steigbügelhalter einer imperialistischen Expansionspolitik wenig taugt. Drum wählt sie, um diese Entwicklung zu beschreiben, eine dezidiert subjektive Perspektive. Der Comic bewegt sich an der Schnittstelle von Reportage und Reisebericht. Sachliche Informationen vermitteln vornehmlich die Vorträge der Referenten, in den Gesprächen hingegen offenbart sich Gliddens Ringen um deren korrekte Deutung. Für eine Reportage besitzt die Introspektion einen zu großen Anteil.

Joe Sacco, der namhafteste Kollege dieses Metiers, beschreitet mit seinem am selben Schauplatz angesiedelten Comic „Palästina“ den umgekehrten Weg und ist so massiv parteiisch, dass Israel einzig als rassistische Besatzungsmacht erscheint. Gliddens hingegen konstruiert sich nicht als allwissendes Medium, das die politische Bilderagenda der US-Berichterstattung mit deren Wahrheitsgehalt kontrastieren soll, sondern als von seinen Erfahrungen irritiertes Subjekt. Sie verschwindet nicht hinter dem Impetus einer (im Falle Saccos äußerst fragwürdigen) Gegenaufklärung, sondern dominiert jede Sequenz und dokumentiert den Wandel ihres eigenen Tunnelblicks. Fixiert darauf, sich keinesfalls einer allerorts vermuteten Gehirnwäsche auszusetzen, gelangt sie immer wieder an Bruchstellen. An ihnen offenbart sich das Trauma des einzigen Landes, das permanent seine Grenzen verteidigen und seine Existenz legitimieren muss.

Die formal unaufgeregte Erzählung ordnet sich vom Seitenaufbau (in der Regel drei dreireihige Panels pro Seite) über den skizzenhaften Zeichenstil bis zur dezenten Wasserfarbenkolorierung gänzlich dem Plot unter. Das inhaltlich auffälligste Merkmal ist, dass sich die Protagonistin immer wieder in die Innerlichkeit zurückzieht. Dann befindet Sarah sich etwa in einer Gerichtsverhandlung, bei der sie als Anwältin, Richterin und Geschworene in Personalunion ihre Argumentationsketten auf die Probe stellt, oder wähnt historische Gestalten als schemenhafte Gesprächspartner an ihrer Seite. Die Autorin hütet sich davor, ins Fahrwasser einer naiven Begegnungspädagogik zu geraten. Durch den Zweifel der Hauptfigur erhellt sich der widersprüchliche Kampf Israels um Selbstbehauptung im Angesicht der vergangenen wie einer drohenden Vernichtung. Wer sich vom Titel also flotte Hilfeleistung verspricht, sollte sich auf einen unliebsamen Schub ziemlich lehrreicher Desillusionierung vorbereiten.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 08/2011

Sarah Glidden: Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger • Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff • Reprodukt, Berlin 2018 • 208 Seiten • Softcover • 24,00 Euro

Die Nüchternheit des Todes – „Blutspuren“

von JONAS ENGELMANN

Am Juni 2002 ereignete sich in der Nähe von Tel Aviv ein Anschlag auf einen Linienbus, eines von 138 palästinensischen Selbstmordattentaten der Al-Aqsa-Intifada. 17 Menschen starben, eines der Opfer konnte nicht identifiziert werden und wurde schließlich anonym beerdigt. Man vermutete, es handle sich um einen illegalen Arbeiter. Der israelische Regisseur David Ofek nahm in seinem Dokumentarfilm „Haharug HA-17“ („Nr. 17“) diesen Fall zum Ausgangspunkt, um den alltäglichen Terror und seine Folgen für alle Betroffenen zu dokumentieren. Ofeks Film über die Suche nach der Identität des Opfers hat Rutu Modan zu ihrer ersten längeren Comicerzählung inspiriert, die unter dem Titel „Blutspuren“ in der Edition Moderne erschienen ist.

Die 1966 in Tel Aviv geborene Modan ist als Mitglied des Künstlerkollektivs und Verlags Actus Tragicus eine Protagonistin der unabhängigen israelischen Comicszene. In der Anthologie „Cargo. Comicreportagen Israel – Deutschland“ konnte das deutsche Publikum erstmals Arbeiten aus dem Umfeld von Actus Tragicus kennenlernen. Modans Beitrag zu „Cargo“ bestand aus Eindrücken eines Aufenthalts in Berlin, Momentaufnahmen, die, scheinbar zusammenhanglos und an Kinderbuchillustrationen erinnernd, „das Bild der toughen, kreativen Hauptstadt in die Betulichkeit einer Erich-Kästner-Welt brechen“, wie Jan-Frederik Bandel in einer Rezension schreibt.

In „Blutspuren“ wählt Modan den umgekehrten Weg. Anhand einer scheinbar alltäglichen Liebesgeschichte zeichnet sie ein Bild der israelischen Gegenwart, das vor allem eines deutlich macht: Selbst eine Liebesgeschichte ist eine Geschichte über die permanente Bedrohung. „Weißt du, Gabriel hat mich nach jedem Anschlag angerufen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist, dass mir nichts passiert ist. Aber diesmal hat er nicht angerufen“, sagt Numi zu Kobi. Der Taxifahrer Kobi ist Gabriels erwachsener Sohn, die Soldatin Numi Gabriels Geliebte.

Numi glaubt, Gabriel sei bei einem Anschlag auf den Busbahnhof in Hadera getötet worden, denn seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört, und eines der Opfer konnte nicht identifiziert werden. Ihr Verdacht basiert auf einem Schal, den sie ihm gestrickt hat und den sie in einem Fernsehbericht über den Anschlag vor dem zerstörten Busbahnhof hat liegen sehen. Mühsam überredet sie Kobi zu einem DNA-Test, um Klarheit darüber zu bekommen, ob das unbekannte Opfer Gabriel ist, doch dieses wurde mittlerweile beerdigt. Und so begibt sich Kobi, der nach dem Tod seiner Mutter seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater hatte, mit Numi nach Hadera, auf der Suche nach Anhaltspunkten für das Schicksal Gabriels.

„Ich habe in ‚Blutspuren‘ versucht, nicht nur den dramatischen, sondern auch den alltäglichen Aspekt und die Nüchternheit des Todes zu beschreiben“, erklärt Modan. Diese Nüchternheit des Todes durchzieht den ganzen Comic, jedes Panel ist davon betroffen, selbst jene, in denen sich Numi und Kobi einander anzunähern beginnen: Erst der vermeintliche Tod Gabriels hat die Tochter eines Millionärs, dem Kobis Lieblingsfußballmannschaft Ha’Poel gehört, und den Taxifahrer zusammengeführt.

Modan gelingt es, mit der Suche ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft zu zeichnen; Numi und Kobi begegnen illegalen Putzfrauen, Gerichtsmedizinern, die ihren Alltag mit der Identifikation von Anschlagsopfern verbringen, Eltern gefallener Soldaten, Überlebenden des Anschlags und Angehörigen der Opfer. In den vielen unterschiedlichen Stimmen, die zu Wort kommen, ähnelt der Comic ein wenig Claude Lanzmanns Film „Warum Israel“ von 1973, oder es ist vielmehr der Versuch, Lanzmanns Frage, ob es so etwas wie Normalität in einem Land wie Israel geben kann, auf das neue Jahrtausend zu übertragen und die gegenwärtigen Probleme in den Mittelpunkt zu stellen. War bei Lanzmann die Allgegenwart der Shoah das zentrale Thema, so ist für die Generation israelischer Juden, die um die Jahrtausendwende erwachsen wurden, die Allgegenwart des Terrors hinzugekommen.

Kobis und Numis Suche nach Gabriel spiegelt die Suche nach Antworten auf die Frage, wie ein normales Leben trotz all dieser äußeren Umstände möglich sein kann. Die einfach gehaltenen Zeichnungen Modans stehen dabei in Kontrast zur Komplexität des Erzählten, das in allen Dimensionen kaum zu erfassen ist. Und wiederum ähnlich wie bei Lanzmann fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Die illegale Putzfrau verlässt nach dem Anschlag aus Angst um ihr Kind das Land, die Pathologen haben einen ätzenden Sarkasmus entwickelt, um ihre Arbeit bewältigen zu können, die Überlebenden und Angehörigen der Opfer tragen Angst und Trauer in sich und versuchen trotzdem ihr bisheriges Leben weiterzuführen. In einem Café, das noch Spuren der Explosion aufweist, fährt die Besitzerin, die bei dem Anschlag ihren Mann verloren hat, einen Gast an: „Es gibt keinen Jossi mehr. Jossi ist tot.“ Numi und Kobi stürzen sich in eine Liebesbeziehung, um mit dem Verlust umzugehen.

Das Ende bleibt offen – und ebenso die meisten Fragen, die der Comic aufwirft. Ob Gabriel nun das Opfer ist oder nicht, rückt immer mehr in den Hintergrund; er hätte es sein können, ebenso wie Numi oder Kobi, der Pathologe oder die Putzfrau. „Blutspuren“ ist ein Comic für die Toten, die Ermordeten, die als Abwesende in jedem Panel präsent sind. Die Spuren Gabriels, auf die Numi und Kobi stoßen, laufen ins Leere und lassen sich nicht zu einer sinnvollen Geschichte zusammenfügen. Diese Leerstellen aber ermöglichen es ihnen, der Ermordeten, für die Gabriel stellvertretend steht, zu gedenken und an sie zu erinnern.

Sie habe ihre persönliche Sicht auf die israelische Gesellschaft abbilden wollen, sagt Modan. Dazu gehört trotz aller Trauer und Probleme, die der Comic vermittelt, und trotz der Gefahr, wie ein romantisiertes Klischee zu klingen, auch Lebensfreude und Humor (wenngleich oft hinter Sarkasmus versteckt). Modan gelingt es, diese Klischees immer wieder an die politische Realität zu koppeln. Ein solches Bild Israels wird in Deutschland selten vermittelt, in Form eines Comics schon gar nicht. Lediglich Joe Saccos durch und durch problematischer Band „Palästina“, der sich als objektive Comicreportage versteht, konnte hierzulande ein Publikum finden. Als Gegengewicht zu Sacco ist die Veröffentlichung von „Blutspuren“ umso wichtiger – obwohl nicht viel Hoffnung besteht, dass das deutsche Comicpublikum sich auf diese Sicht einzulassen bereit ist.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/2008

Rutu Modan: Blutspuren • Aus dem Hebräischen von Barbara Linner • Edition Moderne, Zürich 2010 (2. Aufl.) • 168 Seiten • Softcover • 28,00 Euro

Sieben Tage Warschau – „Das Erbe“
von GEORG SEESSLEN

Comics definierten einst eine kulturelle Grenze. Zwischen Kindheit und Jugend, zwischen Pop und Kunst, zwischen Underground und Mainstream, zwischen niedrig und hoch, zwischen naiv und kompliziert. Auch der Unterschied zwischen Comic-affinen und dem Genre feindlichen Kulturen wie der deutschen war früher einmal gewaltig. Mittlerweile sind Comics eine lingua franca geworden. Das Medium hat etwas von seiner Massenwirksamkeit an neue elektronische Formen von Unterhaltung und Information abgegeben; ökonomisch erlebt es eher eine Krise als einen Boom. Aber zur selben Zeit ist es auch erwachsen geworden. Die zeitaufwendige, subjektive und handwerkliche Produktionsweise wirkt verlässlicher und ehrlicher als die Echtzeit- und Netz-Informationen und scheint insbesondere geeignet, heikle Themen, dissidente Perspektiven und biographische Gesten aufzugreifen. Seit Art Spiegelmans „Maus“ wissen wir, dass auch das geht: vom großen Menschheitsbruch, vom Holocaust, in Comic-Form zu erzählen. Wie und warum es möglich ist, das machte Spiegelman zugleich zu einem Thema, weil das Genre eine Form des Distanzierens, sogar der Maskerade erlaubt, in der man seinem Gegenstand näher kommen kann, als es die Literatur, der Film, die Malerei, die Fotografie, die Reportage und das Tagebuch erlauben. So verwundert es nicht einmal, dass in der Welt von Handy-Fotografie und Bilder-Blogs das Genre der Comic-Reportage gedeiht. Und schon gar nicht, dass man sich in diesem Medium den Geistern der Vergangenheit widmen kann, eine besondere Form des graphischen Reenactment. Annäherung durch Stilisierung.

Der Sammelbegriff für diese neue Erzählweise, nicht Serie, nicht episodische Variation, nicht Endlos-Epic, lautet „Graphic Novel“. Und der Comic-Roman hat in der Tat mit seinem literarischen Vorbild etliche Gemeinsamkeiten. Die abgeschlossene Form, den psychologischen Realismus, Veränderung und Abschied statt ewiger Wiederkehr. Und wie ein Roman enthält auch die Graphic Novel neben der Handlung Porträts von Menschen, Zeiten, Städten und Landschaften, man hat Zeit, sich Beschreibungen und Nebensächlichkeiten zu widmen. Und eben dies befreit auch das Graphische in der Graphic Novel: Die Zeichnungen sind gerade in der Romanform des Mediums nicht mehr unter das Diktat von Erzählung, Spannung und Pointe gezwungen. Wie einst der literarische Roman, so pflegt auch die Graphic Novel die Kunst der Abschweifung, die Kunst, Zeit abzubilden, die Kunst der Selbstreflexion.

All diese Vorzüge einer nun auch nicht mehr wirklich brandneuen Erzählweise scheinen in „Das Erbe“ von der israelischen Zeichnerin und Kinderbuchautorin Rutu Modan so perfekt vereint, dass man sich nicht wundert, dass diese Bildgeschichte zu einem veritablen Klassiker des Genres geworden ist. Man kann hier studieren, was die zugleich so altmodische und hochaktuelle Kunst des Comic-Genres zu bieten hat.

„Das Erbe“ ist zunächst ein Reiseroman, der von Tel Aviv nach Warschau führt. Die Großmutter der Heldin, Regina Segal, beschließt, nach dem Tod ihres Sohnes in ihre Geburtsstadt Warschau zu reisen, um dort ein Familien­erbe einzuklagen, das im Zweiten Weltkrieg verloren wurde. Die alte Dame fühlt sich dabei hin- und hergerissen und ist deshalb keinesfalls bereit, ihrer Enkelin Mica alles über ihre Vergangenheit zu erzählen. Nach und nach erfährt Mica die wahren Gründe für diese Reise, aber zur selben Zeit scheinen sich auch andere Leute für Regina Segal und ihre Ansprüche zu interessieren.

So legt sich über diese einfache Geschichte ein Hauch von Mystery und Thrill. Gewiss trägt die Geschichte autobiographische Züge, insbesondere die Gestalt der „schwierigen“ Großmutter wirkt nicht so, als könne man sie sich so einfach ausdenken; aber insgesamt ist es doch eine fiktive Geschichte. Eine Liebesgeschichte gibt es ebenfalls, dazu die Selbstreflexion des Mediums durch den Auftritt eines Comic-Zeichners, der in seinen Zeichnungen vielleicht zu viel vom Familiengeheimnis verrät. Spannend bis zum dann doch überraschenden Ende ist die Geschichte allemal. Denn Regina Segal wollte nie wirklich ein Erbe antreten, sie hatte vielmehr eine Botschaft zu überbringen. Aber was diese Geschichte wirklich aufregend macht, ist der genaue, leicht humorvolle Blick auf ein Leben, das seine letzten Geheimnisse nicht preisgeben kann. Zudem findet die Autorin wundervolle Bilder für das Nebeneinander vom alten und neuen Warschau. Dort bekommt die Graphic Novel auch Züge einer Comic-Reportage. Denn das Ausgangsmaterial für die Geschichte bietet die neugierige und gezielte Reise der Autorin nach Polen, das die Großmutter nur das „Land der Toten“ nannte und das eine komplizierte Einheit von Grauen und Nostalgie bildete. Nur im Comic kann man so genau beschreiben, wie Orte aus Realität, Erinnerung und Traum zusammengesetzt sind. Man sieht einen Platz, wie der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal sagte, nur wirklich, wenn man auch sieht, was nicht mehr zu sehen ist.

Es sind die vielen nebensächlichen Beobachtungen, die das Buch so reich machen. Das beginnt am Ben-Gurion-Flughafen, wo sich die Großmutter standhaft weigert, eine Flasche Wasser wegzuwerfen, nur weil das uneinsichtige Wachpersonal aus Sicherheitsgründen nicht zulassen will, dass sie sie mit ins Flugzeug nimmt. An Bord begegnet man nicht nur ausgelassenen Schülern auf dem Weg zum Gruppenbesuch in Warschau. Auch ein sonderbarer Bekannter drängt sich den beiden Frauen auf. Zu trauen ist ihm nicht. Aber ein wirklicher Schurke ist er auch nicht. Selbst die Verpflegung an Bord des Fluges von Tel Aviv nach Warschau ist Gegenstand der detaillierten Darstellung. Man nennt das wohl eine „verschärfte Wahrnehmung“.

Rutu Modan, 1966 in Tel Aviv geboren, benutzt die Stilform der ligne claire, nicht nur in der Zeichnung selber, sondern auch im dramaturgischen Aufbau. Es gibt pointierte Episoden, stumme Passagen, Panel-Folgen, die mit wenigen Perspektivwechseln eine Kamerabewegung imitieren, und eine klare Anordnung der Panels auf einer Seite. Die Nähe zu Hergé fällt auf den ersten Blick auf. Der graphische „Hergéismus“ prägt auch Modans frühere Arbeiten, die allesamt sehr nahe an der heutigen Wirklichkeit Israels und, wie ihr Comic „Mixed Emotions“, auch autobiographisch geprägt sind. Darin hält die Autorin ihre erste Reise nach New York und ihre Schwangerschaft in Bildern fest. „The Murder of the Terminal Patient“ ist ein Ausflug in den Mystery-Thriller, erdacht als wöchentliche Folge für das Magazin der New York Times. In ihrer zweiten Graphic Novel „Das Erbe“ beschäftigt Modan sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte. Sie liefert keine akkurate autobiographische Beschreibung, sondern geht assoziativ mit dem Erinnerten um.

Wie schon in der Bilderzählung „Exit Wounds“, die in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Blutspuren“ erschienen ist, arbeitet die Autorin mit einer sehr eigenen Technik des Acting-Painting: Sie lässt Schauspieler die Vorlagen für die Zeichnungen „spielen“, um eine genaue Vorstellung von einer stimmigen Bewegungsmelodie und der je eigenen Körpersprache der Figur zu bekommen. Einige dieser menschlichen Vorbilder sind bekannte israelische Schauspieler, die in gewisser Weise zu Mitautoren geworden sind und dazu beitragen, dass wir ein sehr lebendiges und durchkomponiertes Geschehen erleben. Die fotografische Matrix sorgt für eine anatomische und typologische Fehlerlosigkeit, die mit der graphischen Vereinfachung einen sonderbaren Kontrast bildet – als bliebe eben wirklich nur das Wesentliche. Aus einem Drehbuch wurde ein Storyboard und daraus wurde wiederum ein Set von filmischen Fotografien, die im letzten Produktionsschritt in den ligne claire-Comic übersetzt werden, den wir vor uns haben.

Comic-Produktionen dieser Art sind erheblich aufwendiger als die gewohnten, sie setzen sich aus zahlreichen Produktionsschritten, aus Reisen, Skizzen und Recherchen, zusammen und können sich am Ende nur amortisieren, wenn sie einen internationalen Markt erschließen. Das kann sich, wie im vorliegenden Fall, als Glücksfall erweisen, es ist allerdings auch eine Gefahr. Die Gestalten sind nicht mehr wirklich und allein aus dem Strich des Zeichners geboren, der Comic wird zum arbeitsteiligen Großprojekt. Aber eben auch zu einem multiinstrumentalen Projekt, oder sagen wir es anders: zur modernen Kunst.

„Das Erbe“ ist eine wichtige Ergänzung zu Art Spiegelmans „Maus“, eine Spiegelung, wenn man so will. Der Schwerpunkt der Geschichte liegt auf der Gegenwart, in die die Vergangenheit hineinragt. Der Ausgangskonflikt greift ein aktuelles gesellschaftliches Problem auf. Es geht um die Furcht vieler älterer und ärmerer Leute in Warschau vor der Vertreibung aus ihren Häusern durch die früheren Besitzer. Dieser Grundkonflikt von „Das Erbe“ ist dementsprechend unlösbar, es gibt keine gerechte Lösung, nur eine menschliche. Zweifellos ist der Grundton dieser Graphic Novel bei allen Seitenaspekten und Konflikten eher versöhnlich, sogar der Friedhof ist hier ein freundlicher Ort. Aber umgekehrt scheint alles Komische, was immer wieder aufscheint, nur das Vorspiel zur großen Tragödie: Das Komische funktioniert hier nicht im Sinne einer Entlastung, sondern macht gerade die Absurditäten der Geschichte deutlich. Etwa wenn Mica, die als Nahkampfausbilderin bei der Armee tätig war, was so ganz im Widerspruch zu ihrem eher zarten Äußeren zu stehen scheint, den kampfsportbegeisterten Sohn des polnischen Rechtsanwalts in einem Fight um eine Mohrrübe für sich einnimmt. Oder wenn ein eifriger junger Mann das berühmte Fotoplastikon von Warschau bedient, indem er immer wieder buchstäblich in die große Bildermaschine hineinkriechen muss, um die Bilder der Vergangenheit zu projizieren.

Das Erbe ist eigentlich nur ein Haus, viel weniger, als es die Nebenfiguren des Dramas erwarteten, und dieses Erbe anzutreten, würde anderen Kummer bereiten. Zudem ist da auch noch die Erinnerung an die große Liebe von Regina und Roman, die in den kräftig-zartesten Farben beschworen wird, die sich abseits des Kitsches auf der Palette befinden. Es geht um die Erinnerung, die zwischen den Romanen der Täter und den Romanen der Opfer verlorenging.

In ihrer Familie, sagt die Autorin, sei nie über den Holocaust und die europäische Vergangenheit gesprochen worden. Die Kids in „Das Erbe“ streiten sich darum, welches das heftigere Konzentrationslager war, Mica gerät in ein groteskes „Reenactment“ des Kampfes um das Warschauer Ghetto, ein Lehrer erklärt, während er ein Flugzeugmenü verspeist, wie wichtig es für die Schüler sei, von „Überlebenden“ an die Stätten der Vernichtung geführt zu werden: „Okay, Montag Treblinka, Dienstag Majdanek, inklusive Gaskammern… Majdanek steckt Auschwitz in die Tasche. Ist viel grausiger.“ Beim historischen Rollenspiel steigert sich ein junger Mann allzu sehr in die Rolle eines SS-Mannes beim Abtransport der durch den „Judenstern“ gekennzeichneten Mitspieler. Es ist ein durchaus kritischer Blick auf die „Erinnerungskultur“ hier wie dort, der in „Das Erbe“ zu teilen ist. Und ein Beispiel dafür, wie man es anders, wie man es besser macht.

Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 47/2013

Rutu Modan: Das Erbe • Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer • Carlsen, Hamburg 2013 • 240 Seiten • Hardcover • 24,90 Euro