Der Comiczeichner und Animationsfilmregisseur Hayao Miyazaki hat mit „Shunas Reise“ ein verwunschenes Bilderbuch geschaffen.
Berühmt ist der 1941 geborene japanische Zeichner Hayao Miyazaki für seine im Zeichentrickfilmstudio Ghibli entstandenen poetisch-fantastischen Animationsfilme wie „Prinzessin Mononoke“ (1997) und „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001). „Der Junge und der Reiher“, sein jüngster Film, kam dieses Jahr in die Kinos.
Weniger bekannt, auch weil nicht sehr zahlreich, sind die Mangas, die Miyazaki veröffentlicht hat. „Nausicaä im Tal der Winde“ ist darunter die einzige Serie; bei den übrigen Titeln handelt es überwiegend um kurze Einzelpublikationen. Mit einer Ausnahme: „Shunas Reise“, wie „Nausicaä“ 1983 erschienen, besitzt mit 160 Seiten den Umfang einer Graphic Novel.
Shuna ist der jugendliche, fast noch kindliche Prinz eines kleinen Landes in den Bergen. Das Klima dort oben ist rau; die Menschen müssen ein bescheidenes, eher kümmerliches Leben führen. Eines Tages taucht ein sterbender Fremder auf, der etwas mit sich führt, was in Shunas Heimat bislang völlig unbekannt war: eine Handvoll Gerstenkörner. Sie sollen aus einem sagenhaften Land im Westen stammen. Allein, nur mit einem Reittier, macht Shuna sich unverzüglich dorthin auf. Unterwegs begegnen ihm zahlreiche Gefahren, zu denen unter anderem Menschenhändler zählen, aus deren Händen er Thea, ein junges Mädchen, und dessen kleine Schwester befreit.
„Shunas Reise“ entstand zu einem Zeitpunkt, als Miyazakis Zeichentrickkarriere ins Stocken geraten war. „Das Schloss des Cagliostro“, seine erste Regiearbeit in Spielfilmlänge, war 1979 gefloppt. Für den Manga griff er auf „Der Prinz, der sich in einen Hund verwandelte“, ein altes tibetisches Märchen, zurück. Allerdings veränderte er die Vorlage erheblich, verlieh ihr zugleich mehr Spannung und Tiefe.
So verfällt Shuna, nachdem er den rätselhaften und nicht gerade angenehmen „Göttermenschen“ die kostbaren Samen geraubt hat, für einige Zeit dem Wahnsinn, aus dem ihn die liebevolle Zuwendung Theas schließlich erlöst. Anders als im Märchen ist sie eine aktive, zupackende Frau – das verbindet sie, wie der Animationsspezialist Alex Dudok de Wit in seinem Nachwort zu Recht bemerkt, mit den Frauenfiguren in Miyazakis Filmen.
Eigentlich ist „Shunas Reise“ eher ein Bilderbuch als ein Manga. Es gibt kaum Sprechblasen, viel Blocktext und auf den meisten Seiten nur ein oder zwei Bilder. Sie sind in aquarellierten Pastelltönen gezeichnet, mit einer deutlichen Dominanz von Blau und Rosa. Die zauberhaft-verwunschene Atmosphäre, die dem Band zu eigen ist und einen von Seite zu Seite mehr gefangen nimmt, verdankt sich dieser Kolorierung, aber auch der freien Erzählweise Miyazakis. Sie erklärt nicht alles, was geschieht, sondern lässt das Wunderbare gerne unangetastet bestehen.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 13.02.2024 in der taz.
Hayao Miyazaki: Shunas Reise • Aus dem Japanischen von Nora Bierich • Reprodukt, Berlin 2023 • 160 Seiten • 20,00 Euro
Christoph Haas lebt im äußersten Südosten Deutschlands und schreibt gerne über Comics, für die Süddeutsche Zeitung, die TAZ, den Tagesspiegel, die Passauer Neue Presse und das Alfonz Magazin.