Carmilla im Hipster-Club

Das Künstlerinnen-Duo Soo Lee und Amy Chu transponieren Sheridan Le Fanus Carmilla-Stoff ins New York der 1990er-Jahre.

Winter im New York des Jahres 1996. Unter den Obdachlosen wächst die Angst vor etwas Diffusem, Unbekanntem, das offenbar mordet. Die Leichen von zahlreichen obdachlosen Ausreißerinnen scheinen ein Beleg dafür zu sein. Was aber niemanden sonderlich interessiert, vor allem nicht die Polizei. Nur die Sozialarbeiterin Athena forscht nach, da Lily, eines der Opfer, von ihr betreut wurde. Eine eventuelle Spur führt sie in den hippen Nachtclub Carmilla’s, in dessen Nähe einige der Opfer aufgefunden wurden. Bei weiteren Nachforschungen stößt sie auf den alten Schauerroman „Carmilla“. Dann trifft Athena Violet wieder, die Garderobendame des Clubs. Athena gewährt der jungen wie sprunghaften und undurchsichtigen jungen Frau bei sich Unterschlupf, zum Leidwesen ihrer Lebensgefährtin Morgan.

So weit ein Teil des Plots, von dem man zu Beginn erwartet, dass man eine moderne Version der klassischen Vorlage präsentiert bekommt (ähnlich wie beispielsweise bei „Jane“, der bei Panini als Graphic Novel erschienenen Variante von „Jane Eyre“). Was sich als Trugschluss herausstellt. Die vermeintliche Vorlage, das ist „Carmilla“, eine Novelle, die 1872 von dem Iren Joseph Sheridan Le Fanu geschrieben wurde und als Inspiration für einen gewissen Bram Stoker diente, dessen Dracula bis heute noch immer der berühmteste aller Blutsauger ist. In der Novelle schleicht sich eine Vampirin in das Leben eines Mädchens ein, was beinahe in einer Katastrophe endet. Ähnliches geschieht auch in „Carmilla. Die erste Vampirin“ – das Grundmotiv wird von Autorin Amy Chu zwar aufgegriffen, dann aber gehörig modifiziert.

Denn das moderne Geschehen in New York überlagert sich mit Passagen bzw. Zitaten aus Le Fanus Schauermär. Teile des ursprünglichen Werkes ziehen langsam in die neue Story ein, direkt oder in variierter Form (der Name des Anwalts ist Karnstein, so heißt in der Novelle das Dorf in der Steiermark). Dazu kommen noch völlig neue Elemente aus einer ganz anderen Richtung, die schließlich auch für Überraschungen sorgen: Athena, deren Eltern bei einem Unfall gestorben sind, stammt aus einer Familie chinesischer Einwanderer. Ihr Großvater, der sie großgezogen hat, spielt eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Und auch in der Story, in die im späteren Verlauf auch die chinesische Folklore Einzug hält. Ein überaus origineller Schachzug von Amy Chu.

Damit entsteht eine mutige Mischung, die erstaunlich gut funktioniert und originell aufbereitet wird (mit diversen Stilmitteln, darunter auch dem Lettering, das erst die Novelle kennzeichnet und dann einer Figur zugeordnet wird). Lediglich das rasante Finale trägt deutlich konventionelle Züge. Soo Lees Zeichnungen und Farben kommen dezent daher und wissen Violet als Femme Fatale (und mehr – man ahnt natürlich, was es mit ihr auf sich hat) in Szene zu setzen. Wer sich mit einer weiteren Bearbeitung des Carmilla-Stoffes beschäftigen will, dem sei übrigens „Vampyr“ wärmsten empfohlen, jener klassische wie verstörende Horrorfilm von Carl Theodor Dreyer aus dem Jahre 1932.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Soo Lee (Zeichnerin), Amy Chu (Autorin): Carmilla. Die erste Vampirin • Aus dem Englischen von Katrin Aust • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 112 Seiten • Hardcover • 22,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.