Schweben ist Silber, Surfen ist Gold

Der TASCHEN-Verlag hat seine Marvel-Coffee-Table-Book-Bibliothek um einen weiteren Brocken mit den ersten 18 Ausgaben der „Silver Surfer“-Serie erweitert.

Auf der IGN-Liste der besten Superhelden taucht der Silver Surfer auf Platz 41 auf, weit hinter „The Crow“ (Platz 37), den Teenage Mutant Ninja Turtles (Platz 23) oder Wolverine (Platz 4). Klar, solche Listen haben immer etwas Willkürliches, wenn es um Details geht, aber es bestätigt doch den leisen Verdacht, dass der Silver Surfer sogar in Superheldenkreisen eher als Special Interest zu gelten hat. Wie Stand-up-Padelling, Murmelnsammeln oder Fußballgolf.

Im Gegensatz zu den langlebigen Konkurrenzserien (Fledermaus & Co.) hat der Silver Surfer nur eine sehr überschaubare Flugdauer gehabt. Erfunden wurde er 1966 von Jack Kirby für die #48 der Marvel-Serie „Fantastic Four“. Ein Zufallsprodukt, wenn man so will, dem nach ein paar Gastauftritten nur eine kurze Serie von 18 Ausgaben (August 1968 bis September 1970) vergönnt war. Stan „Wer sonst“ Lee schrieb die Storys anhand der „Marvel Method“, und John Buscema zeichnete die Serie von #1 bis #17. Nur für die letzte Ausgabe übernahm Jack Kirby höchstpersönlich, der im selben Jahr Marvel und Stan Lee aus allzu gut bekannten Gründen den Rücken kehrte. Einige Jahre später kehrte er zu Marvel zurück, um erneut die Figur zu zeichnen, an deren Erfindung er maßgeblichen Anteil hatte. 1978 erschien „The Silver Surfer: The Ultimate Cosmic Experience“ von Stan Lee und Jack Kirby als Buchausgabe – das waren die frühen Jahre der Graphic-Novel-Versuche auch der großen Verlage.

Danach wurde der Silver Surfer nur sporadisch reaniminiert, besonders prominent 1988 durch Moebius und Stan Lee, die gemeinsam die Miniserie „Silver Surfer: Parable“ schrieben. 2007 wurde dem Silver Surfer mit „Fantastic Four: Rise of the Silver Surfer“ ein eigener Kinofilm gewidmet. In der IMDB wird dieser Film auf Platz 84 (von 88) der Comic Book Movies aufgeführt, nur noch vor „Alien vs. Predator“, „Howard – Ein tierischer Held“ und dem legendären Kassenflop „Judge Dredd“.

Der erste Auftritt des Silver Surfer in „Fantastic Four #48 (1966)

Die Geschichte des Silver Surfer handelt von Norrin Radd, der auf seinem Heimatplaneten Zenn-La die grenzenlose Langeweile einer optimierten Gesellschaft erleben muss. „Our race has achieved the perfection that all others dream of! … And yet, man was meant to strive … to struggle … to yearn.“ Dahinter kann man die Abenteuerlust eines Flash-Gordon-Fans sehen, eine Adventure-Variante kapitalistischen Wachstumsstrebens oder ein Menschenbild, mit dem auch Goethe etwas hätte anfangen können: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt.“

Als sein Heimatplanet von Galactus angegriffen wird, geht er einen zwiespältigen Pakt ein. Der rohstoffhungrige Galactus verschont Zenn-La, sollte Norrin Radd ihm dafür fortan als Kundschafter zur Verfügung stehen, um das Weltall noch effektiver auszurauben. Norrin Radd lässt sich auf diesen Deal ein, auch wenn er seine geliebte Shalla Bal dafür zurücklassen muss. Immerhin hat diese neue Verpflichtung den Vorteil, dass der neugierige und abenteuerfreudige Norrin Radd nun das Weltall kennenlernt…

Als er aber gegen seine Pflichten verstößt, weil er die Erde und seine fehlbaren Bewohner vor dem Untergang bewahren möchte, bestraft Galactus ihn erneut: Fortan muss der Silver Surfer sein intergalaktisches Nomadentum gegen ein Exil auf der Erde eintauschen: „I cannot be imprisoned … in a world without reason“, klagt er, weil die Menschen eine irrationale Angst vor ihm empfinden. Aber Galactus hat eine unsichtbare Barriere im All errichtet, sodass der Silver Surfer zu einem endlosen Dasein auf der Erde verurteilt ist.

Während in der Philosophie des 18. Jh. das Goldene Zeitalter als unerreichbarer Sehnsuchtsort inszeniert wird, bleibt dem Silver Surfer nur das hoffnungslose Streben zurück nach Zenn-La und zurück zu Shalla Bal. „While life remains … I shall not cease striving!“ Aber indem ihm das unbändige Verlangen nach unerreichbaren Zielen bleibt, wird er erst zu dem Menschen, als den ihn niemand auf der Erde zu sehen bereit ist.

In dieser Ausgabe sind auch die originalen Werbeanzeigen enthalten – eine Zeitreise und zugleich ganz aktuell.

Stan Lee und Jack Kirby haben eine faszinierende Figur geschaffen, deren Origin Story in einem doppelten Trauma besteht: erst die Verbannung von seinem Heimatplaneten infolge eines quasifaustischen Paktes, der aber wiederum seine tiefsten Abenteuer-Sehnsüchte erfüllt, und dann die Einkerkerung auf einem Planeten, auf dem er wie Sisyphus gegen die Barriere ankämpft. Und seine Superkraft ist nicht minder ungewöhnlich, denn seine „Power Cosmic“ (genau, Stan Lee hatte Freude an dieser Inversion) ist eigentlich sehr unbestimmt und leistet immer genau das, was der Silver Surfer gerade braucht. Kosmisch eben.

Die bemüht-antiquierte Sprache… na ja, die ist sicher Geschmackssache und erweckt den Eindruck, als solle sie ein Distinktionsinstrument sein, um der Serie etwas hochkulturellen Anstrich zu geben: „We had created a comic book for the older reader, for the more literate, more perceptive, more cognizant fan“, so Stan Lee später. Das fällt insbesondere in #4 („The Good, the Bad, and the Uncanny“), einer der höchstgelobten Geschichten, besonders auf. Die großformatigen Panels von John Buscema sind bekanntlich eine Augenweide. Nicht nur seine „Kirby Krackles“ muten wie eine Hommage an den Silver-Surfer-Erfinder an, der erst Jahre später noch einmal mit Stan Lee zusammenarbeiten sollte – natürlich am „Silver Surfer“.

Die TASCHEN-Ausgabe umfasst die ersten 18 Ausgaben der Serie, also nicht die Gastauftritte in den „Fantastic Four“ und auch nicht die späteren Serien der 1980er- und 1990er-Jahre. Darüber hinaus enthält der Band eine sehr kurze Einführung von John Buscemas Bruder Sal und eine lange, reich illustrierte Einleitung von Douglas Wolk (Autor von „All of the Marvels“), außerdem Informationen zu den einzelnen Heften und – immer wieder ein großer Lesespaß – die Originalleserbriefe und Anzeigen: Angelausrüstung, Muskelaufbaupräparate („Tired of being skinny?“) und Weiterbildungsangebote für akademisch interessierte Silver-Surfer-Fans.

Die Konkurrenzausgabe aus dem Panini-Verlag („Silver Surfer Classic Collection“) hat noch mehr Comics zu bieten (hingegen weniger Zusatzmaterial), aber natürlich lässt sich in dieser Übersetzung der Charme des Originalwortlauts selten voll und ganz einfangen. Darüber hinaus ist die TASCHEN-Ausgabe durch die Papierauswahl auch haptisch eine Freude. Zwar ist die 4,7-Kilogramm-Edition erheblich kostspieliger, jedoch immer noch günstiger ist als die entsprechende Menge Silber (ca. 3.500 Euro).

Der Band ist nicht zuletzt ein Dokument der Entfremdung zwischen Stan Lee und Jack Kirby, der zwar den „Silver Surfer“ erfand, die Serie aber zunächst nicht zeichnete. Den Konflikt der beiden führte zum Bruch zwischen Kirby und Marvel, den man sehr anschaulich etwa hier nachlesen kann. Darüber legt Douglas Wolk den Mantel des Schweigens.

Marvel Comics Library. Silver Surfer. Vol. 1. 1968–1970 • TASCHEN, Köln 2023 • 706 Seiten • Hardcover im XXl-Format • 150,00 Euro • engl.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate.de, Alfonz und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.