Rache des Genres

Neyefs ungewöhnlicher Western „Hoka Hey!“ war im vergangenen Jahr auf dem Festival in Angouleme als bester Comic nominiert und landete kürzlich auf dem ersten Platz der hiesigen Comic-Bestenliste.

George ist noch ein Kind und als Lakota geboren. Doch Pastor Clemente, Verwalter des Reservats, nahm den Waisenjungen schon früh unter seine Fittiche, um aus ihm einen weißen, bibeltreuen Amerikaner zu machen. Und nebenher einen willfährigen Diener. Eigentlich will George Arzt werden, ein Plan, den der Pastor nur belächelt. Ein Plan, der auch schnell Geschichte wird. Denn als sich Clemente unredlich mit einer Dame vergnügen will, taucht ein fremdes Reitertrio auf: Little Knife, bedrohlich mit roter Gesichtsbemalung, No Moon, die Nase und Mund unter einem Tuch verbirgt, und Sully O’Reilly, ein nicht gerade wohl riechender Ire. Schnell wird klar, dass die drei Outlaws auf Rache aus sind, vor allem Little Knife. Der sucht seinen leiblichen Vater, um sich für den Mord an seiner Mutter zu rächen. Da Pastor Clemente um den Aufenthaltsort des Vaters Vater weiß, eskaliert schließlich die Situation. Dabei entdecken die drei den flüchtenden George und nehmen ihn mit. Bald macht es sich Little Knife zur Aufgabe, die verlorene Identität des entwurzelten Jungen wieder zum Vorschein zu bringen – ein Motiv, das sich durch weite Teile des Plots zieht. Bis die drei bzw. vier ihr neues Ziel, eine Bergbaustadt im Norden, erreichen, verfolgen wir einen Roadtrip durch die Wildnis voller Begegnungen mit rassistischen Weißen, die meist tragisch oder blutig enden. Erlebnisse, die aus George zutiefst prägen werden. Außerdem ist der Gruppe ein unbekannter, gnadenloser Verfolger auf den Fersen.

Die Story dürfte irgendwann in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts spielen. Die Urbevölkerung ist bereits in Reservate eingepfercht, lebt im Elend, fern von ihrer angestammten Heimat, kontrolliert, überwacht und verhöhnt von den Weißen. Little Knife und No Moon waren beide bereits für „Buffalo“ Bill Codys Wild-West-Show engagiert, um dort ihre vermeintlichen „Traditionen“ zur Schau zu stellen. Ist es in Western oft so, dass Weiße von den „Indianern“ entführt und assimiliert werden (beispielsweise in John Fords Klassiker „The Searchers“), verhält es sich hier etwas anders: George, der seinen wahren Namen nicht kennt, wird von „seinen“ Leuten quasi zurück entführt, damit er sich wieder auf seine wahre Herkunft besinnt – eine emotionale wie brutale Initiationsgeschichte. Zumindest Little Knife und No Moon zeigen sich dabei als Idealisten, wohl wissend, dass deren Zeit eigentlich abgelaufen scheint: Lieber in Freiheit schnell und erfüllt leben, als ein trostloses Dasein im Reservat fristen.

Autor und Zeichner Neyef (d. i. Romain Maufront) legt mit „Hoka Hey!“ (das Lakota-Wort für „vorwärts“) einen meisterlichen Western vor – weit weg vom klassischen Giraud-Stil, wie ihn etwa auch Ralph Meyer in seiner „Undertaker“-Reihe pflegt –, der durch seinen wohldurchdacht konstruierten Plot besticht, in dem viel Raum bleibt für die Psychologisierung der Figuren des Trios. Zudem fasziniert schon auf den ersten beiden Seiten die kräftige Farbpalette, die die wilde Natur (und immer wieder den Himmel) eindrucksvoll und atmosphärisch in Szene setzt, ob abends beim wärmenden Lagerfeuer oder morgens im kühlen Wald. Dazu kommt ein bemerkenswertes Spiel mit Licht und Schatten. Die Darstellung der Gesichter erinnert dabei an den Zeichenstil von Hub („Okko“, „Schlange und Speer“). Gibt’s bei all der Pracht auch was zu meckern? Höchstens über den Preis, denn günstig ist der Band nicht. Aber er sei dennoch jedem Western-Fan ans Herz gelegt.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Neyef: Hoka Hey! • Aus dem Französischen von Tanja Krämling • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 224 Seiten • Hardcover • 45,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.