Manu Larcenet adaptiert meisterhaft Cormac McCarthys „Die Straße“, der Djatlow-Pass gibt weiterhin Rätsel auf, und eine Chronik protokolliert die Publikationsgeschichte des Horrorcomics in Deutschland. Eindrucksvolle, liebenswerte, diskutable Phantastik-Comics der letzten Monate.
Manu Larcenet: Die Straße
Manu Larcenet gehört zu den besten und vielseitigsten Zeichner*innen der Gegenwart: das fiebrige Psychogramm eines Serienkillers „Blast“, die Mikrostudie des autoritären Charakters „Brodecks Bericht“, die melancholische Komödie „Der alltägliche Kampf“, mehrere Beiträge zu Lewis Trondheims Fantasy-Parodie „Donjon“ – Larcenet scheint sich jedes Sujet mühelos anzueignen, gleicht seinen Stil perfekt dem Inhalt an, und nachdem er sich durchgearbeitet hat, bleibt ein großes oder kleines Meisterwerk für die Geschichtsschreibung des Mediums zurück. Seine Adaption von Cormac McCarthys Roman „Die Straße“, seinerseits mit dem Pulitzer-Preis geadeltes, radikales Schwergewicht unter den postapokalyptischen Stoffen, tanzt da nicht aus der Reihe und wird zum Jahresende die Bestenlisten dominieren.
Im Prinzip ist es ein Zwei-Personen-Kammerspiel, weil die geschilderte abgestorbene Welt zum gigantischen Gefängnis der wenigen Überlebenden geworden ist, die nichts mehr bereithält, was Hoffnung auf einen Neuanfang schüren könnte. Die Menschen sind selbst zur letzten Ressource geworden, entweder quälen sie sich durch die Zivilisationsruinen auf der Suche nach Lebensmitteln aus früheren Zeiten oder werden zu Kannibalen. Die Frage nach der Sozietät wird schnell zum jede Sequenz implizit mitbestimmenden Leitmotiv. Die Gespräche über den Sinn und Unsinn des Überlebens zwischen Vater und Sohn, den beiden, den einzigen Hauptfiguren, gleichen einem paradoxen Generationenkonflikt: Der Vater verzweifelt an den Erinnerungen an bessere Tage und gleicht sein Handeln den Bedingungen des Elends an; der Sohn kennt keine besseren Tage, kann aber die Grausamkeit der marodierenden „Bösen“ nicht verstehen, zumal die good guys nur wenige Schritte von den bad guys trennen. Survival of the fittest bedeutet hier nicht, heroisch, mit edlerer Grobschlächtigkeit den zivilisatorischen Kollaps zu überstehen, sondern ständig die Frage zu verhandeln, ob ein Leben ohne Humanität überhaupt noch funktioniert. Wenn der an einer Lungenkrankheit leidende Vater seinem Sohn erklärt, wie ihre Pistole, die nur noch zwei Patronen enthält, benutzt wird, dient diese Instruktion nicht der Selbstverteidigung.
In „Die Straße“ ist das Leben ein unablässiges Vegetieren unter dem Diktat der toten Erde. Die Dramaturgie ist geknüpft an die sinnlose Fortbewegung: Warum die Zwei in den Süden ziehen, wissen sie selbst nicht so recht, und die Konfrontationen mit anderen Menschen sind fürchterlich, aber quantitativ eher Randerscheinungen. Im Nichts geschieht nicht viel. Larcenets Zeichnungen – und das verbindet ihn mit John Hillcoats Verfilmung von 2009 – erzählen nichts von der Kontemplation des Untergangs, wie ihn das Blockbuster-Kino so oft ästhetisch goutierbar macht, jedoch viel von der vergeblichen Errettung der Moral in einer auch sozial völlig zerstörten Welt. Nichts für Rousseau-Anhänger*innen.
Manu Larcenet: Die Straße • Reprodukt, Berlin 2024 • 160 Seiten • Hardcover • € 25,00
Scott Snyder, Dan Panosian: Canary
Und ein weiterer Band aus Scott Snyders Comixology-Kollektion, die der Splitter Verlag gedruckt herausbringt. An der Genre-Palette findet der Autor offensichtlich gefallen, „Canary“, gezeichnet von Dan Panosian, ist ein Horror-Western-Hybrid, und nicht der schlechteste. Der Plot dreht sich um eine verlassene Kupfermine des titelgebenden Ortes, um die sich allerlei düstere Legenden ranken, und es obliegt dem Revolverhelden Marshal Holt, dem Mysterium auf den Grund zu gehen. Der ist nicht nur Gesetzeshüter, sondern auch Protagonist einer populären Groeschenroman-Reihe, in der seine Taten besungen werden, und wurde damit beauftragt, eine Mordserie aufzuklären, die mit der Mine in Verbindung zu stehen scheint. Für Snyder ein Aufhänger, immer wieder die Anfänge der Pulpliteratur zu preisen, und grundsätzlich versteht er bestens, mit der Spannungskurve umzugehen. Das Baustein-Prinzip trägt jedoch nur so lange, bis sich im Finale wieder mal zeigt, dass die Maßgaben des Genres keinesfalls mit neuen Modellen belästigt werden sollen. Mehr Retro-Spielwiese denn Herausforderung.
Scott Snyder, Dan Panosian: Canary • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 160 Seiten • Hardcover • € 25,00
Lewelyn, Jérôme Lereculey: Die 5 Reiche Band 12
Eine frankobelgische Perle, die ein wenig unter dem Radar läuft: In bereits zwei Zyklen, von denen der vorliegende Band letzteren beschließt, entblättern Szenarist Lewelyn und Zeichner Jérôme Lereculey ein komplexes Ränkespiel mehrerer verfeindeter Königshäuser, dessen vordergründige Niedlichkeit – die Figuren sind allesamt Tiere und weisen in kleinen Dosierungen auch entsprechende Eigenschaften ihrer Art auf – sowohl von der komplexen Plotkonstruktion als auch dem kompromisslosen Blutzoll desavouiert wird. Wie in „Game of Thrones“ ist das gesamte Personal stets gefährdet und in seinen Entscheidungen nur mäßig durchschaubar, sind die politischen Intrigen so launig inszeniert, dass sie sich auch als galliger Kommentar zum Wesen von Macht und Herrschaft eignen. Eine der derzeit interessantesten Serien auf diesem Sektor, die im kommenden Jahr mit einem ersten Spin-off fortgesetzt wird, bis ein weiterer Zyklus folgt.
Lewelyn, Jérôme Lereculey: Die 5 Reiche Band 12 • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 56 Seiten • Hardcover • € 17,00
Jeff Lemire, Dustin Nguyen: Little Monsters Band 2
Jeff Lemires und Dustin Nguyens erste Zusammenarbeit war die dunkle Roboter-Story „Descender“, eine epische KI-Reflexion in Aquarell, die mit „Ascender“ einen Nachklapp voller Fantasy-Anleihen erhielt. „Little Monsters“ kombiniert postapokalyptische Elemente mit Vampirismus-Motiven, und die große Klammer bildet eine ziemlich räudige Coming-of-Age-Erzählung. Keine Erwachsenen, nirgends, stattdessen folgen wir acht Vampirkindern durch die Überreste einer nahezu menschenleeren Zivilisation. Wie es dazu gekommen ist, weiß niemand mehr, man lebt von Ratten, und damit hat sich’s. Keine Entwicklung, das gilt als grausame Finte auch für die untoten Figuren, die das Niveau ihres einstigen Alters nicht überwinden können. Und auch wenn Bewegung in die Sache kommt, als unerwartet doch noch Menschen auftauchen und bei den Protagonist*innen den alten Blutdurst wiederbeleben, schaffen Lemire und Nguyen im Genre-Korsett viel Raum für Bilder der Isolation, wie sie auch Lemires realistisch konzipierten Graphic Novels dominieren. Der zweite Band ist der Abschluss der Mini-Serie.
Jeff Lemire, Dustin Nguyen: Little Monsters Band 2 • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 184 Seiten • Hardcover • € 29,80
Cédric Mayen, Jandro Gonzalez: Das Unglück am Djatlow-Pass
Mystery nach einem realen Ereignis: Im Februar 1959 sterben am Djatlow-Pass im russischen Ural neun erfahrene Skiwanderer. Einige Leichen weisen Schädelfrakturen und innere Verletzungen auf, andere sind spärlich bekleidet, sogar radioaktiv kontaminiert und werden in merkwürdigen Positionen am Fundort entdeckt. Die Umstände sind nicht endgültig aufgeklärt, auch weil der sowjetische Machtapparat seinerzeit die Untersuchungen eher torpedierte denn unterstützte – bis heute idealer Nährboden für unzählige Verschwörungstheorien. Das Künstlerduo Cédric Mayen und Jandro Gonzalez geht es lieber sachlich an und schickt den Ermittler Iwanow ins Feld, der sich mit deduktiven Mitteln durch die Indizien arbeitet, aber immer wieder an den Funktionsträgern der Behörden scheitert. Die Rekonstruktion des Expeditionsverlaufs wird mit seinem Kampf gegen die Vertuschungsversuche der Apparatschiks parallelisiert; jedes Panel ist indirekt beherrscht von der beklemmenden Atmosphäre des Kontrollwahns der Führungsmacht, dem sich keiner der Protagonisten entziehen kann. Der Anhang bleibt den seriösesten und wissenschaftlich plausibelsten Erklärungsversuchen der Geschehnisse vorbehalten.
Cédric Mayen, Jandro Gonzalez: Das Unglück am Djatlow-Pass • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 104 Seiten • Hardcover • € 25,00
Christian Blees: Der absolute Horror
2022 war im Dortmunder schauraum: comic + cartoon die Ausstellung „Horror im Comic“ zu sehen. Im dazugehörigen Katalog beleuchtet Kurator Alexander Braun die internationalen Entwicklungen und Spezifika derart erschöpfend, dass sich seine Arbeit, erneut!, als Standardwerk eignet. Christian Blees liefert nun die ideale Ergänzung mit seinem Abriss der Geschichte der Horror-Comics in Deutschland. Die Thesen- und Theorienstärke Brauns darf man indes nicht erwarten, der Stil gleicht dem protokollarischen Fleiß eines Buchhalters: Was erschien wann wo von wem wie lange, gelegentlich ergänzt um Interviewsaussagen der entscheidenden Verleger, Redakteure, Autoren und Künstler; weder von ästhetischen noch soziologischen Überlegungen unterfüttert, wird das Ganze chronologisch aufbereitet. Das ergibt in Summe dennoch ein empfehlenswertes Handbuch, dessen comichistorische Stärken vor allem im 20. Jahrhundert liegen, als die hiesige Publikationsgeschichte noch halbwegs übersichtlich war, in der Forschung aber mitunter lückenhaft oder nur sehr verstreut dokumentiert ist.
Probleme ergeben sich ab der in den nuller Jahren einsetzenden Diversifizierung des Marktes, die sich hauptsächlich aus der methodischen Entscheidung des Autors, sich auf die „wichtigsten Marktteilnehmer“ zu konzentrieren, erklären. Auswahl und Quantität stehen zwangsläufig im Missverhältnis, wenn beispielsweise der randständigen „Geister-Schocker“-Reihe der Romantruhe, die mit 30 Heften die mittlerweile dreistelligen gleichnamigen Hörspiele flankierte, acht Seiten eingeräumt werden (was man dennoch gerne liest, unbenommen). Wo sind dann Jurek Malottkes visuell extravagante Kai-Meyer-Adaptionen? Thomas Otts Schabkarton-Fantasien? Wo ist Olivia Viewegs Zombie-Graphic-Novel „Endzeit“, die 2018 sogar verfilmt wurde? Zwerchfells originelle, deutsche Settings nutzende „Die Toten“-Anthologie-Reihe? Carlsens ambitionierte, zehnbändige „Die Unheimlichen“-Bibliothek mit Hochkarätern wie Ralf König, Isabel Kreitz, Barbara Yelin und Birgit Weyhe? Oder, internationaler, ein kanonisierter Ausnahmekünstler wie Charles Burns, den hierzulande in den frühen 90ern zaghaft Alpha/Edition Kunst der Comix und heute in voller Blüte Reprodukt übersetzt? Breccias Lovecraft-Kosmos? Terry Moore mit seiner Provinzhorrorserie „Rachel Rising“? Wieso erhalten die Editionen des Speed/Tilsner-Verlags, die in den 90ern hierzulande als Erste das wichtigste US-Vertigo-Material hoben, nur die Rolle des Zaungasts? Weder die medien- noch verlagshistorische Relevanz hingegen berücksichtigter mediokrer frankobelgischer Dutzendware wie Stalners „Die Legende von Malemort“, Istins „Die Nacht der lebenden Toten“ und Adlards „Vampire State Building“ will sich im Vergleich erschließen.
Mag man vor allem im hinteren Teil des Buchs also viele Versäumnisse konstatieren, was zumindest partiell bei Abhandlungen dieser Art in der Natur der Sache liegt, hat Blees nichtsdestotrotz ein mit Blick auf den Kioskmarkt hilfreiches, üppig illustriertes Nachschlagewerk vorgelegt, das man umso öfter konsultieren wird, je weiter die Titel zurückliegen.
Christian Blees: Der absolute Horror. Die Geschichte der Gruselcomics in Deutschland • Edition Alfons, Barmstedt 2024 • 244 Seiten • Softcover • € 29,95
Diese Beiträge erschienen zuerst in der monatlichen Comic-Kolumne auf: DieZukunft.de
Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film und Literatur, ist Herausgeber und Chefredakteur der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag. Seit 2006 Beiträge u. a. in Konkret, Tagesspiegel, ND, Taz, Jungle World, Titanic, diezukunft.de, Testcard, kino-zeit.de, Das Viertel und vielen dahingeschiedenen Magazinen. Essays für zahlreiche Comic-Editionen und DVD-Mediabooks.
Abb. oben aus Manu Larcenets „Die Straße“ (Reprodukt)