Der Tag eines Superhelden hat nur 24 Stunden. Auch ihm stehen in der Regel nur zwei Arme und zwei Beine zur Verfügung. So nimmt es nicht wunder, dass Peter Parker (Tobey Maguire), der in den letzten Bildern von „Spider-Man“ (USA 2002) noch dunkel sinnierend seiner Liebe M. J. (Kirsten Dunst) den Rücken zukehrte und sich mit ernster Miene seiner Verantwortung und, ja auch Identität final versicherte, zu Beginn des zweiten Teils gänzlich unpathetisch jobben geht: Call-A-Pizza, Lieferung in 20 Minuten garantiert, ansonsten geht die Lieferung aufs Haus. Maguire also mit lächerlichem Helm auf lächerlichem Mofa, den Boss im Nacken, quer durch Manhattan, in sieben Minuten zur schönsten Rush Hours 40 Blocks – das schafft kein Mensch. Nur Spider-Man.
Comic relief: Der Superheld als Pizzamann turnt akrobatisch durch die Manhattaner Skyline. Für solche Augenzwinkereien lieben wir Spider-Man, man fühlt sich schon etwas Zuhause in diesem Film. Doch zwei Kinder rennen da vors Auto, der Superheld schaltet schnell, die Kinder sind gerettet, der Job hingegen, der geht flöten: Selbst läppische Verspätungen von wenigen Sekunden kosten schnell Job und lückenlosen Lebenslauf.
Auch Parkers Fotografien finden beim Daily Bugle nicht mehr den früheren Anklang, seit er sich aus offensichtlichem Grund weigert, Spidey für schmierige Boulevard-Kampagnen abzulichten. Sein Physikstudium liegt gar völlig brach, muss er doch andauernd der heillos überforderten Polizei unter die Arme greifen, wenn es gilt, böse Buben dingfest zu machen. Die nurmehr freundschaftliche Beziehung zu M. J. erschlafft zusehends, Parkers Tante May (Rosemary Harris) wird, nach verwehrtem Kredit bei der Bank, von ihrem Landlord rausgeschmissen, ihm selbst droht in seiner Bruchbude in Manhattan das gleiche Schicksal: „Rent!“, hört man’s im keimigen Treppenhaus regelmäßig cholerisch schreien. Der Vermieter ist ein Arschloch von Gottes Gnaden, bringt aber in einem fort coole Sprüche, über das jämmerliche Appartement des Superhelden verlieren wir besser keine Worte: Kein Vergleich zur subventionierten Luxusbude, die noch in Teil 1 zur Verfügung stand. Depression allenorten.
Statt Highschool-Problemchen mit Hornbrillen-Charme gibt nun die knallharte Arbeitswelt im neoliberalen Zeitalter steter Flexibilisierungen und mangelnden Kündigungsschutzes die Situation vor: „You always seem so exhausted!“, meint sein Professor tadelnd, nachdem Parker erneut die Vorlesung verpasst hatte.
Wen sollte das wundern? Auch Spider-Man ist, so scheint es nun, letztendlich nur einer der Abermillionen Menschen dieser Welt, deren Leben vom Working-poor-Syndrom bestimmt wird, die für lachhaftes Geld Arbeitskraft, Freizeit und das eigene Nervenkostüm zu Markte tragen.
Beschädigungen bleiben da nicht aus. Spidey verliert seine Kräfte. Mitten im Flug durch die Skyline hat sich’s was gegessen mit Spinnfadenejakulationen: Buchstäblich tiefer Fall eines Superhelden. Weil im Zeitalter der Flexibilisierung die Beziehungen der Menschen untereinander erstes Opfer sind, weil die Liebe darin deshalb keine Chance hat, blockiert etwas im Kopf des Helden: Was ist er eigentlich? Was will er eigentlich?
Psychische Kastration ist die Folge, vom Hausarzt treffsicher diagnostiziert. Spider-Man verlässt das Schiff, Rückgriff zur altbekannten Hornbrille: Welcome back, Peter Parker! Nicht ganz unfreiwillig im Übrigen: Das Kostüm landet in der Gosse, der Superheld wird aus dem 24-Stunden-Tag, der 40 Stunden haben müsste, als Wurzel allen Übels ausgemacht und kurzerhand, wie damals in „Superman 2“, outgesourct.
Peter Parker, nun wieder nur er selbst, gibt der Liebe eine Chance, doch die, M. J., hat sich schon anderweitig orientiert: Heirat steht an, mit dem Astronautensohn des Bugle-Herausgebers ausgerechnet! Unterdessen ist ein Obdachloser gewillt, das gefundene Kostüm beim Daily Bugle in bare Münze umzusetzen, der Herausgeber – wir kennen ihn bereits als zynischen Sprücheklopfer aus dem ersten Teil, in diesem nun ist er, zur allgemeinen Erheiterung, ganz besonders in Form – bietet lächerliche 50 Bucks. „I’ll get more for that on Ebay!“, handelt der Treber selbstbewusst und protokolliert damit, jenseits des bloßen Lacheffekts, die „Ausweitung der Kampfzone“: die obdachlose Ich-AG.
Superheldenfilm. War da was? Ach ja! Der Bösewicht! Wie schon in der Saga erster Teil nimmt auch im Sequel der Schurke vergleichsweise wenig Zeit der Narration für sich in Anspruch. Natürlich stehen sich Held und Schurke anfangs – vor der Schurkenmutation, die, wie immer, durch wissenschaftlichen Größenwahnsinn bedingt ist – nahe. Selbstredend auch hier der innere Zwiespalt des mad scientist, der Gutes will und Böses schafft. Faust und Mephisto in Personalunion, im Shakespeare-Monolog dargeboten, mit Pop gut durchgemischt: Auftritt Dr. Otto Octavius, später dann als krakenhaftes Menschmaschinenzwitterwesen kurz „Doc Ock“ genannt, wunderbar von Alfred Molina, dem derzeit wohl wandlungsfähigsten im Arsenal der Hollywoodmimen, verkörpert.
Doc Ock ist das glatte Gegenteil vom zusehends von den Umständen zerriebenen Peter Parker: Mehr Arme, mehr Beine, flexibel vom Scheitel bis zur Sohle, da nimmt der Maschinenarm schon mal cool die Kippe aus dem Mundwinkel. Und ob man seine Strecken nun mit Beinen klassisch oder aber unter Zuhilfenahme der Maschinenarme zurücklegt, bleibt allein Frage der Spontaneität. Wie er seine Teufelsmaschine bedient, mit der er Bahnbrechendes auf dem Gebiet der Kernfusion erreichen will – aber wohl, steht zu fürchten, eher halb New York in die Luft jagen wird -, ist der Traum jedes Unternehmers dieser Tage: schnell, schneller, akkurat. Der Gadget-Cyborg-Arbeitsmensch der Zukunft und somit, nicht nur auf Ebene des Subtexts, ein mehr als würdiger Gegner für Spidey.
Doch wie erwähnt nimmt sich der Film für diesen Konflikt bemerkenswert wenig Zeit. Im Fokus steht der persönliche Konflikt der Titelfigur und dessen breite Schilderung. Das mag zuweilen an den Nerven der Zuschauer zerren. Die dramaturgische und narrative Eleganz, mit der im ersten Teil Disparates angenähert und verwoben wurde, vermisst man hier zunächst schmerzlich und fühlt sich an frühere schlimme Zeiten des Regisseurs Sam Raimi erinnert, als dieser zwar einiges an effektivem Hokuspokus veranstaltete, dies aber oft genug mit dem hohen Preis eines funktionierenden Spannungsbogens bezahlte.
Doch dämmert einem schon bald, dass dieser Vorgehensweise ein Konzept zugrunde liegt: Analog zur Zerreibung des Superheldenkörpers zerreibt auch der Film sich selbst, der – Sophisterei? – nicht umsonst auf denselben Namen wie seine Figur, bzw. deren Körper, hört. Just an jener Stelle, an der man des Ganzen überdrüssig zu werden glaubt und der Film in ein einziges Geplänkel um gewährte, entzogene und revidierte Liebe – stilecht kitschig in einem Kaffeehaus europäischer Prägung – umzukippen droht, bricht das Spektakel buchstäblich in den Film – und in das Kaffeehaus – ein: Doc Ock entführt mit viel Getöse und noch mehr Glasbruch M. J. wie weiland King Kong. Auferstanden aus Ruinen: Spider-Man. Das demonstrativ als Trophäe in der Chefetage des Daily Bugle ausgestellte Spider-Man-Kostüm ist flink entwendet – ein Mann, eine abhanden gekommene Frau, eine Aufgabe: Rückkehr der Arbeitskraft.
Es reicht aufpeitschende Musik wie große Geste und schon ist alle vorangegangene Langeweile vergessen. Der Film ist – wie die Figur und deren Körper – wieder ganz bei sich, mittendrin im lautstarken Spektakel. Und hat man bereits den ersten Teil geschätzt, kann man nicht anders, als sich nun auch diesem lustvoll zu ergeben. Beide – Film wie Figur – vollziehen Kraftakte, die das zuvor Erwartete um ein Vielfaches übertreffen. Wenn Spidey dann in einer beinahe schon rührseligen Sequenz nahezu zum Erliegen kommt, die Grenze seiner physischen Belastbarkeit erreicht und gar seiner identitätsschützenden Maske verlustig geht, greifen ihm – wie schon einmal kurz im Teil zuvor – die New Yorker unter die Arme und tragen den fast gefallenen Helden zärtlich auf ihren Armen. Dem steht Doc Ock als flexibles Monster des Neoliberalismus gegenüber, der diese Geste der Solidarität mit einem ihm eigenen Handwisch zerschlägt.
Ein Sequel hat es meist schwer, zumal dann, wenn es offensichtlich nur die Angel zwischen Teil 1 und Teil 3 bildet. Und in der Tat erscheint „Spider-Man 2“ nach der Sichtung als offene Schnittstelle zwischen zwei abgeschlossenen Teilen: Der Vorspann fasst den gesamten Verlauf des vorangegangenen Films in wunderschönen Comiczeichnungen zusammen und das breit angelegte Ende dient als Sprungbrett für Teil 3, dessen Kinostart – wiewohl weder Script noch Team stehen – bereits für das Jahr 2006 angekündigt ist.
Der Konflikt zwischen Harry Osborn (James Franco), Sohn von Norman Osborn, dem Green Goblin aus Teil 1, der manisch den durch Spider-Man verursachten Tod seines Vaters zu rächen und zu diesem Zwecke die wahre Identität des Superhelden aufzudecken sucht, und seinem Freund Peter Parker, der somit alle Hände voll zu tun hat, Osborn von seiner Obsession abzuhalten, wurde im Werbetrailer noch als maßgeblicher Inhalt des zweiten Teils in Aussicht gestellt. Er gerinnt im Film selbst dann allerdings zur bloßen narrativen Schmiere, um einige Weichen stellen und die Erzählung des nächsten Teils einzuläuten: Das Konzept der Vertröstung, aber auch der dramaturgischen continuity, das Comic Serials wie kaum eine zweite künstlerische Ausdrucksform zum Primat erhoben haben, findet hier seinen Niederschlag.
Man darf gespannt sein, wie es Teil 3 nach dem zunächst etwas skeptisch stimmenden, letztendlich aber doch überzeugenden Sequel gelingen wird, die einzelnen Fäden erneut aufzugreifen, um daraus ein großes funktionierendes Netz zu weben. Bis dahin tragen wir eines der schönsten Abschlussbilder jüngerer Filmgeschichte im Herzen: Spidey in den Hochhausschluchten New Yorks, das „Go get’em, tiger!“ von Kirsten Dunst noch im Ohr. Jungskino, gewiss.
Dieser Text ist zuerst erschienen bei: Telepolis
Spider-Man 2
USA 2004
Regie: Sam Raimi – Darsteller: Tobey Maguire, Kirsten Dunst, James Franco, Alfred Molina, Rosemary Harris, Donna Murphy, J.K. Simmons, Elizabeth Banks, Bill Nunn, Vanessa Ferlito, Ted Raimi – FSK: ab 12 – Länge: 127 min. – Start: 8.7.2004
Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel, den Perlentaucher und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.