Wenn trotz des seit einigen Jahren weltweiten Superhelden-Hypes der deutsche Marvel-Auswerter Panini einer Serie – die zudem noch von einem der führenden Autoren des US-Konzerns stammt – erst satte 15 Jahren nach Debüt in der Heimat hierzulande ihren Einstand spendiert, muss es sich entweder um Material aus dem Giftschrank oder um etwas ganz Besonderes handeln.
Und in der Tat, nachdem man den 352 Seiten starken Megaband (der die ersten 15 von 28 Heften der US-Serie enthält) inhaliert hat, bekommt man tatsächlich eine Ahnung, wieso die Stuttgarter so lange zögerten und erst mit der Veröffentlichung der gleichnamigen TV-Serie im November 2015 den Zeitpunkt gekommen sahen, sich allmählich mal ans Werk zu machen.
„Alias“ setzt, anders als andere Neustarts aus diesem Umfeld, nicht davor sondern danach an. Jessica Jones war einst Superheldin Jewel, ihre außergewöhnlichen Kräfte erlangte sie durch einen für ihre Eltern tödlich verlaufenden Unfall, der sie mit radioaktiven Substanzen in Verbindung brachte. Aber ihre Heldinnen-Karriere ging schief: Der aus Kroatien stammende, schurkische, lilahäutige Gedankenkontrolleur Zebediah Killgrave, besser bekannt als „The Purple Man“, entführte Jewel, zwang sie mit ihm zu leben und missbrauchte sie über mehrere Monate.
Diese Erlebnisse (die im ersten Teil des Megabands noch ausgespart werden) prägen natürlich und so wurde aus der einst strahlenden jungen Frau eine finstere Detektivin, die raucht, (zuviel) trinkt, flucht und schnelles Glück in One-Night-Stands sucht, sich aber trotzdem ihren moralischen Kompass und einen gewissen Optimismus bewahrt hat.
Wer actionlastigen Stoff sucht, wird bei „Jessica Jones“ eher enttäuscht, denn mit der Reihe um seine Anti-Heldin lässt Brian Michael Bendis seine Noir-Wurzeln wieder aufleben, die Figur erinnert an klassische hardboiled-Detektive der amerikanischen Kriminalliteratur und somit liegt der Fokus auch eher auf oldschoolige Ermittlerarbeit als auf satte Action. Dass das trotz – realistischerweise – nicht immer spektakulärer Fälle niemals langweilig wird, liegt vor allem an den hervorragend geschriebenen Dialogen – Bendis ist, für einen Comicautor nicht unbedingt üblich, Fan von David Mamet und Aaron Sorkin, was man jederzeit merkt, noch knusprigeres, absolut mitreißendes Verbal-Tennis gibt’s bei Marvel nicht und die grob-finsteren, mit viel Schatten arbeitenden, aber auch extrem dynamischen Bilder von Michael Gaydos, Bill Sienkiewicz, Rodney Ramos und David Mack sorgen zusätzlich dafür, dass man innerhalb eines Augenblinzelns in diese Welt gesogen wird. Apropos Bilder: Die visuelle Umsetzung ist nicht nur sehr stimmig, sondern wartet auch mit handfesten Überraschungen auf: So verlässt eine Geschichte die Welt der Sprechblasen komplett und erzählt in aquarellartigen Bildern, die von drehbuchartig notierten Dialogen begleitet werden. Toll!
Das Thema „Superhelden“ wird dabei nonchalant an den Rand geschoben, ist als Basis aber immer präsent: Bendis gibt nur sparsam Einblicke in die Vergangenheit seiner abgebrühten Schnüfflerin und wenn andere Figuren aus dem Marvel-Universum auftauchen, steht die menschliche Seite (meist) im Vordergrund. Besonders schön kommt das auf den letzten 12 Seiten des Bandes zur Geltung, die die Annäherung zwischen Jones und Ant-Man Scott Lang bei einem blind date im Außenbereich eines Restaurants schildern. Als die beiden in einer kurzen Szene Zeuge einer Verfolgungsjagd zwischen Spider-Man, der menschliche Fackel und Doctor Octopus werden, mag keiner eingreifen, Ant-Man hat seinen Anzug nicht dabei, Jones verweist auf die Kompetenz der Kollegen und merkt an, dass sie im Superheldengeschäft mittlerweile inaktiv ist. Charmanter kann man mit dem eigenen Genre kaum spielen.
Bei der TV-Serie handelt sich interessanterweise nicht um eine direkte Verfilmung des Comics. Unter Federführung von „Twilight“-Drehbuchautorin Melissa Rosenberg entstand eher eine Art „Jessica Jones“-Alternativversion, die zwar die gleiche Basis nutzt, sich aber ansonsten durch eine ganze Menge unterscheidet. Als Beispiel sei Kilgrave genannt. Nicht nur, dass dessen Name um ein „l“ erleichtert wurde, Kilgrave ist hier nur ein Pseudonym, der Bösewicht heißt mit echten Namen Kevin Thompson, kommt aus England und ist anders als sein gedrucktes Pendant auch nicht mehr lilahäutig (die Farbe lila spiegelt sich dafür aber in seiner Kleidung wieder und gelegentlich leuchten die Macher sein Treiben auch entsprechend aus). Weiterhin ist die TV-Version des Charakters deutlich realistischer, komplexer angelegt und grenzt sich damit auch von den meisten Marvel-Bösewichten ab, denn die Motivation für sein grausiges Treiben ist im Grunde nur allzu menschlich: Er ist verliebt in Jessica. Und Thompson ist, dank seiner speziellen Kräfte, von klein auf gewohnt alles zu kriegen, was er will…
Aus dieser Konstellation gewinnt die Fernsehserie einen leicht emanzipatorischen Unterbau, denn Selbstbestimmung gegenüber männliche Aggressoren (Jessica Jones’ beste Freundin Trish Walker bekommt es weiterhin noch mit Polizist Will Simpson zu tun, einerseits ein charismatischer Womanizer, anderseits unkontrollierbare Mordmaschine [1]) ist eines der großen Themen. Allerdings macht es sich die Serie nicht zu einfach, der gelegentlich verblüffend jugendlich-naiv, fast schon kindlich wirkende Kilgrave ist kein eindimensionaler Täter, sondern ein Opfer der Umstände (wie in einem Rückblick in seine peinvolle Vergangenheit als Versuchsobjekt in einem Labor deutlich wird), dass in seiner Entwicklung stehen geblieben ist, er kennt ganz einfach kein „Nein!“, er sieht sich selbst auch nicht unbedingt als Unheil verursachender Bösewicht und er versteht deswegen auch nicht, dass Jessica nicht die gleichen Gefühle für ihn hegt, wie er für sie. So fasst Kilgrave die damalige, gemeinsame Zeit mit Jessica als romantisches Beisammensein auf, er war sich der Gewalt, die von ihm ausging, gar nicht bewusst, für sein Opfer war es schlicht Missbrauch. Diese sehr ambivalente Mischung aus verliebter Teenager und brandgefährlicher Soziopath sorgt – ähnlich wie beim grandiosen Wilson-Fisk-Portrait in der „Daredevil“-Serie von 2015 – für ein Wechselbad der Gefühle und man ertappt sich durchaus dann und wann dabei, dass man trotz allem ein bisschen mit ihm mitleidet – auch weil Jones’ Methoden manchmal ganz schön fragwürdig sind, in einer der eindringlichsten Folgen wird Kilgrave in einer hermetisch abgedichteten Zelle mit Elektroschocks gefoltert.
Die Macher haben es jedenfalls sehr gut verstanden aus einem außergewöhnlichen Comic eine außergewöhnliche Fernsehserie herauszuschälen, dennoch zieht die TV-Adaption den kürzeren, wenn auch nur leicht, denn während Bendis’ Fassung es schafft auch über lange Distanz dank durch die Bank weg gelungenen Einzelgeschichten die Aufmerksamkeit hoch zu halten und anhand von geschickt gestreuten Details und Querverweisen einen eigenen Kosmos zu etablieren, leidet die Bildschirm-Variante an zwei Schwachpunkten: Der Konflikt Jones versus Kilgrave ist nach ungefähr zehn Folgen der insgesamt 13 Folgen auserzählt, der letzte Abschnitt dreht sich zu sehr um die eigene Achse, es gibt keine neuen Aspekte mehr, es dreht sich tatsächlich nur noch um (gute) Jones versus (böser) Kilgrave. Weiterhin fühlt sich das Universum der Serie seltsam leer an, während im Comic am Rande immer wieder kurz Superhelden-Kollegen vorbeischauen, was auch mit Jones’ Vergangenheit im Einklang steht, wodurch perfekt ein Gefühl für die große Welt, in der wir uns befinden, vermittelt wird, laufen die „Mutanten“ in der Fernsehserie in einem relativ konventionellen Noir-Setting rum (Jones’ Vergangenheit wird auch fast gar nicht erwähnt), die gefilmte Welt wirkt deutlich kleiner als die gezeichnete.
Dennoch: „Jessica Jones“ bietet in beiden Formaten eine willkommene, smarte Abwechslung im Helden-Allerlei und es ist wirklich schwer zu hoffen, dass Panini genug der beiden Megabände verkauft (Band 2 erscheint am 17.10.2016), denn nicht nur die TV-Serie wird fortgesetzt, Marvel spendiert seiner ungewöhnlichen Heldin im Herbst auch eine brandneue Runde Abenteuer aus der Feder ihres Schöpfers und wer einmal ein Treffen mit Miss Jones hatte, möchte garantiert nicht erneut 15 Jahre auf ein weiteres Date warten.
[1] Die Figur basiert auf den von Frank Miller und David Mazzucchelli erfundenen Frank Simpson, genannt „Nuke“ und wurde von den Machern der TV-Serie ins „Jessica Jones“-Universum importiert.
Brian Michael Bendis, Michael Gaydos: Jessica Jones – Alias 1. Panini, Stuttgart 2016. 352 Seiten, € 30,– Eine Leseprobe gibt es hier.
Jessica Jones ist via Netflix zu sehen.
Abb. © Marvel