Splendid isolation – dieses Motto scheint für Inselstaaten aller Couleur attraktiv zu sein. Eine ganz besonders wundervolle Abgeschiedenheit genießt dabei das Volk von Königin Hippolyta: ihre Beschützer (wir lernen bald: die griechischen Götter) haben für die Amazonen auf der sagenumwobenen Insel Themyscira ein wahres Paradies (daher der Name!) geschaffen. Ohne Männer (sprich: ohne Niedertracht und Missgunst) leben die Damen dort in einem Idyll, das in früheren Zeiten des Krieges und des Hasses undenkbar gewesen wäre.
Doch eines Tages gibt es dann doch Ärger im, räusper, Paradies: Hippolytas Tochter, Prinzessin Diana, die die Insel doch kennt wie ihr wallendes Gewand, findet zu ihrem großen Erstaunen einen ihr neuen finsteren Baum – aus dem prompt eine Schlange kriecht und sie beißt. Und damit nicht genug: kurz darauf stürzt ein seltsames Fluggerät an den heiligen Gestaden ab. Die Damenschar eilt herbei und findet neben fünf Leichen den einzigen Überlebenden: Steve Trevor ist der erste Mann, der die Paradiesinsel jemals betreten hat. Vor allem Diana zeigt sich sogleich angetan von dem faszinierenden Fremden, hat sie im Gegensatz zu ihren Schwestern doch niemals zuvor einen Mann zu Gesicht bekommen. Man pflegt Trevor gesund und fasst einen folgenschweren Beschluss. Wenn die Götter es zulassen, dass Besucher auf der Paradiesinsel stranden, dann kann es dafür nur einen Grund geben: in der Welt der Erdenmenschen muss sich eine fürchterliche Bedrohung zusammenbrauen, die auch die Welt der Amazonen mit sich reißen kann.
Niemand anders als Diana wird erkoren, Trevor zurück in die Welt der Menschen zu bringen – auch wenn das für sie den Verlust ihrer Unsterblichkeit und ewiges Exil bedeutet. Nach Dianas ersten holprigen Gehversuchen in San Diego greifen die Götter dann direkt ein: sie statten die Amazone mit gewaltigen Kräften aus, denn nichts Geringeres als das Schicksal aller Welten steht auf dem Spiel, als Diana sich mit Trevor, Lieutenant Candy und der Archäologin Dr. Minerva gegen eine finstere Organisation namens „Sear“ stellt…
William Moulton Marstons klassische Schöpfung aus dem Jahr 1941 (von Anfang an gesegnet mit einem deftigen Bondage-Einschlag, ganz nach dem Geschmack des Autors offenbar) durchlief im Laufe der Dekaden manche Mutation, zementierte sich einer ganzen Generation von Fernsehschauern in der Inkarnation von Lynda Carter als eher trashige Figur ins Gedächtnis und schwirrte mit Lasso der Wahrheit und unsichtbarem Jet in den 70ern als unverzichtbares Mitglied der Gerechtigkeitsliga umher. Eine dunklere Kante bekam die Dame spätestens mit Alex Ross’ „Kingdom Come“, wo sie die einzig denkbare Gefährtin des männlichen Gegenparts Superman abgibt.
Nach einigen Reboots, unter anderem im Rahmen der New 52 aus der Feder von Brian Azzarello 2012 (deutsch bei Panini im „Neuen DC Universum“), kommt der guten Diana im gewaltigen Schlag des Kino-DC-Universums eine zentrale Rolle zu. Neben Superman und Batman bildet Wonder Woman den Kern dessen, was Zack Snyder und Kollegen seit Jahren vorbereiten – und nach dem lauen Vergnügen „Dawn Of Justice“, in dem der Auftritt von Gal Gadot als Diana zu den Highlights zählte, der komplett versemmelten Suicide Squad und dem Unheil kündenden „Justice League“-Trailer ruhen die Hoffnungen der Macher (und Zuschauer!) nun auf dem Wonder Woman-Kinoabenteuer, das in wenigen Tagen auch in den deutschen Lichtspielhäusern einfliegen wird.
Rechtzeitig zum Kinostart mobilisiert Panini naheliegenderweise eine breite Wonder Woman-Offensive und bringt neben älterem Material wie „Wonder Woman: Die Götter von Gotham“ oder der fetten „Wonder Woman Anthologie“ auch brandaktuelles Material – und mit Greg Ruckas zweiter Wonder Woman Serie (er durfte 2002 schon einmal die Zügel übernehmen und lieferte außerdem schon die Graphic Novel „Wonder Woman/Batman: Hiketeia“) kann man sich dabei über einen echten Leckerbissen freuen. Der zu Recht gefeierte Rucka (dessen Werk fast unüberschaubar ist – genannt seien hier nur Whiteout, Batman, Gotham Central, Lazarus und Black Magick) findet dabei die Muße, neben den „regulären“ Handlungssträngen auch eine Neuinterpretation der Wonder Woman-Origin vorzulegen, die den ja durchaus schwer lastenden Titel „Year One“ (oft kopiert, nie erreicht: die formidable Batman-Herkunftsstory des damals noch zurechnungsfähigen Frank Miller klingt hier natürlich ganz bewusst an) mit Würde trägt.
Dabei verarbeitet Rucka geschickt alle Elemente des „klassischen“ Kanons: das zurückgezogene Leben auf der Paradiesinsel, den Absturz Trevors, die Reise in die neue Welt, alles finden wir in wohliger Vertrautheit. Akzente setzt Rucka dann allerdings – wie gewohnt – in der starken Charakterisierung der Frauen: ziehen anderen Origin-Fassungen wie etwa Grant Morrisons Erde Eins-Variante (deutsch bei Panini als „Wonder Woman: Erde Eins“) die Spannung aus der Konfrontation von männlicher und weiblicher Sphäre, lebt Ruckas Vision von der Orientierungslosigkeit, die Diana zunächst in der fremden Welt überfällt, die sich zunächst argwöhnisch beäugt. Erst die von den Göttern verliehenen Gaben wie Schnelligkeit, Kraft, Flug und Lasso der Wahrheit (aber natürlich!) machen das naive Mädchen – kombiniert mit der Zuneigung zu Trevor – zur selbstsicheren Heldin.
Dabei greift Rucka auch gekonnt in den Charakterfundus und präsentiert mit Lieutenant Beth „Etta“ Candy ebenso eine zentrale Figur aus dem Wonder Woman Kosmos wie Dr. Barbara Ann Minerva. Diese burschikose Forscherin in Indiana Jones/Lara Croft-Manier, die von der Legende der Amazonen besessen ist und letztendlich maßgeblich zur Lösung des Rätsels um die Terror-Gruppe „Sear“ beiträgt (kleiner Tipp – ist ein gewissermaßen göttliches Anagramm…na?), wird bekanntlich später zu Wonder Womans Nemesis Cheetah – was uns Rucka in einem Zwischenspiel mit einem Blick in die betrübliche Vergangenheit Minervas schon andeutet. Auch sonst finden sich viele kleine Anspielungen, Hinweise und Hommagen: als man an Trevors Ausführungen zweifelt, seine Gefährtin sei göttlichen Ursprungs, mahnt Candy an, das sei doch gar nicht so absurd: „Hören Sie, in Metropolis fliegt ein Alien herum…“
Wunderbar dann auch eine Zeitungskollage am Ende, als die Weltpresse die Taten Dianas feiert und ihr nebenbei auch ihren neuen Namen verleiht, nachdem sich der Vorschlag „Superwoman“ irgendwie nicht durchsetzen will. Das deutsche Handelsblatt titelt über eine gewisse „Wunderfrau“, was durchaus nahe am „Wundergirl“ des seligen Ehapa-Verlags liegt, während Le Monde den schön geschwungenen ikonischen „Wonder Woman“ Schriftzug aus den 40er Jahren präsentiert. Zeichnerisch legt Nicola Scott (Black Magick) dabei den Fokus weniger auf pralle Mieder oder kurze Hotpants, sondern eher auf gleitenden Linien und dynamischen Kompositionen, die vor allem in den Szenen, in denen die wunderhafte Frau ihre neuen Kräfte entdeckt, zu filmischen Panelabfolgen avancieren. Ohne Vorkenntnisse mühelos auch für Einsteiger verständlich, schmissig, anspielungsreich für Kenner und wunderbar inszeniert – wunderbar im wahrsten Sinne. Wenn der Film enttäuscht, haben wir das hier in jedem Falle.
Greg Rucka, Nicola Scott: Wonder Woman – Das erste Jahr. Panini, Stuttgart 2017. 164 Seiten, € 16,99