Teenage Lobotomy! Dieser spätere Songtitel trifft die Jugend von Douglas Glen Colvin ziemlich exakt. Als Sohn eines in Deutschland stationierten GIs, der besoffen gerne Ehefrau und Sprössling malträtiert, erlebt der Pimpf so ungefähr das Gegenteil einer behüteten Kindheit. „We’re a happy family“, wird er das später ironisch umschreiben. Bald kommt der Knabe in Berührung mit Drogen in Form von Morphium, ein Fluchtweg aus der Realität, der ihn sein Leben lang nicht loslassen wird. Der glühende Beatles-Fan wäre viel lieber jemand anders und leiht sich deshalb den Decknamen, hinter dem sich Paul McCartney in der frühen Bandphase verbarg, während der McCartney als „Paul Ramone“ firmierte. Als Dee Dee Ramone rebelliert er gegen alles und jeden – abgesehen von kurzen Pausen, in denen er (teilweise gemeinsam mit seiner Mutter) Drogen konsumiert. Anfang der 70er landet er mit seiner mittlerweile geschiedenen Mutter in New York und unternimmt zusammen mit ebenso vagabundierenden Gesellen, die er an der Forest Hill High School in Queens trifft, im Januar 1974 die ersten musikalischen Gehversuche.
Zusammen mit Jeffrey Hyman, John Cummings und Tamás Erdélyi rauft sich eine Chaotentruppe zusammen, in der Dee Dee zunächst Gitarre spielt und singt. Das überfordert ihn allerdings derart, dass er sich alsbald aufs Bass-Spielen verlegt und Jeffrey, der sich künftig Joey Ramone nennt, zum Sänger gekürt wird. Mit einheitlichen Kunstnamen (John wird zu Johnny Ramone an der Gitarre, Tamás firmiert als Drummer Tommy Ramone), ebenso einheitlichem Look – T-Shirt, Lederjacke, Jeans, Turnschuhe, Topfschnitt – und einem charakteristischen Sound stürmen sie auf die wenig beeindruckten Clubs los. Die ersten Auftritte absolvieren sie im legendären CBGB, wo unter den handverlesenen Zuschauern und Mitstreitern auch Mitglieder der Bands Blondie, Richard Hell und der New York Dolls sind. Musikalisch protestieren sie gegen den Prog/Art-Rock, der in Gestalt der opulenten Inszenierungen von Led Zeppelin und der Sozialkundelehrer-Schnarchfeste von Pink Floyd gerade en vogue ist: Schneller, lauter, simpler lautet die Devise. Blaupause sind die Exzesse von Iggy Pop and the Stooges: keine ziselierten Strukturen, keine Soli, keine filigranen Intros – wenige runtergeschrubbte Akkorde, dazu provokante, ironische Texte aus der Gosse, alles meist aus der Feder des überraschend produktiven Dee Dee, der oft auch Erfahrungen und Episoden seiner Jugend verarbeitet.
Bald wird der Produzent von Sire Records, Seymour Stein, auf die jungen Wilden aufmerksam. Das erste Album „Ramones“ wird 1976 in roher Live-Atmosphäre, in der Reihenfolge eines tatsächlichen Konzerts, schnörkellos und in wenigen Takes eingespielt, wie das Black Sabbath bei ihrem Debut ebenso handhabten. Die amerikanische Öffentlichkeit steht diesem Verhau ratlos gegenüber: Die Presse verreißt die Band, die Platte verkauft sich schleppend, man spielt in Clubs vor ein paar hundert Leuten. Gänzlich anders das Bild, das sich auf Gastspielreisen in England bietet: Mehrere tausend Fans pilgern zu den Ansetzungen (und verleihen ihrer Begeisterung durch Bespucken der Musiker Ausdruck – Engländer eben), die Band gilt als gefeierter Begründer der Punk-Bewegung, die in Großbritannien mit den Sex Pistols, The Damned, den Stranglers und The Clash, mit denen die Ramones allesamt auftreten, zumindest kurzzeitig auch kommerziell durchschlagenden Erfolg hat.
Den wollen die Ramones nun endgültig auch zu Hause einfahren und engagieren für ihr nächstes Album die Produzentenlegende Phil Spector, den Erfinder der bombastischen „Wall Of Sound“, die unter anderem „Let It Be“ von ihren Idolen, den Beatles, ziert. Spector stellt sich allerdings als regelrechter Psychopath heraus, der die Band mit ewigen Wiederholungen und endlosen takes quält und gerne auch mal mit der Waffe droht, wenn man meutern will. Trotz dieser Anstrengungen gerät auch die Scheibe „End Of The Century“ nicht zum kommerziellen Durchbruch. Endgültig desillusioniert, verlegen sich die Ramones auf emsiges Touren in ihrem abgeranzten Van, den ihr jahrelanger Fahrer Monte steuert, zunehmend gespalten durch Drogensucht, Alkoholismus (so etwa wird der spätere Drummer „Marky“ gefeuert und erst nach einem Entzug wieder engagiert), Streitereien um Frauen (Johnny konnte es Joey nie verziehen, dass der ihm seine Freundin ausspannte und später heiratete) und auch politische Differenzen. Dee Dee kehrt der zerrütteten Band 1989 den Rücken und sucht sein Heil im Rap (unter dem Namen Dee Dee King nimmt er tatsächlich ein Album auf), der Kunst und in endlosen Entzugsversuchen. 1996 kommt es in Buenos Aires, bei einem der letzten Konzerte, zu einem Aufeinandertreffen der verfeindeten Original-Mitglieder. Vor 90.000 Fans feiert man Abschied von den Rumpelkumpanen, die allerdings bis zum Schluss unversöhnlich bleiben – bis in den Tod…Mit den Ramones kam ich, in der Punkszene ja nicht unbedingt zu Hause, zweimal in Berührung. Ende der 70er flimmerte im Ferienprogramm (das war damals, als es bis zum frühen Abend auf der Mattscheibe bestenfalls das Testbild zu bestaunen gab und die ausnahmsweisen Ausstrahlungen ab 14 Uhr von Eltern schon als Untergang des Abendlandes beäugt wurden) ein spaßiger Film namens „Rock’n’Roll High School“, in dem vier lederbekleidete Chaotenmusiker eine amerikanische Schule aufmischen. Regie führte der König der B-Movies Roger Corman (wussten wir damals nicht), für den Film war ursprünglich Disco-Sound und dann zunächst die Hard Rock-Kombo Cheap Trick vorgesehen (wussten wir auch nicht), bevor Sparfuchs Corman dann auf die Ramones zurückgriff und ihnen „fürstliche“ 25.000 Dollar zahlte – somit ein durchaus bezeichnendes Kapitel in der Bandgeschichte, die in den USA durch kommerzielles Durchwursteln gekennzeichnet war.
Einige viele Jahre später lieferte die Truppe – schon ohne Dee Dee, der allerdings noch als Songschreiber zur Verfügung stand – 1992 den durchaus eingängigen Titeltrack zur Stephen King-Verfilmung „Pet Sematary“. Auf der zugehörigen „Mondo Bizarro“-Tournee gastierten die Kollegen an jeder Steckdose, unter anderem auch meinem damaligen Wirkungsort, dem beschaulichen Freiburg im Breisgau, so dass ich am 3. Dezember 1992 eine der Gastspielreisen der letzten Bandphase leibhaftig miterlebte. Müde waren sie da, ausgelaugt, Malen nach Zahlen, ein paar Mal Gabba Gabba Hey, und aus. Zu groß war die Enttäuschung wohl, dass etablierte Bands von Motörhead über die Toten Hosen bis hin zu Nirvana unermüdlich die Ramones als ihre musikalischen Inspirationen priesen, die ihrerseits weiter bestenfalls ein Mauerblümchendasein fristeten. Nur in Lateinamerika, da füllten sie die Stadien, und das berühmte Konzert in Buenos Aires vom März 1996, bei dem neben den Toten Hosen und Motörhead auch eine obskure neue deutsche Band namens Rammstein auftritt, nehmen Bruno Cadéne und Xavier Bétaucourt als Klammer für ihre Nacherzählung, die den Fokus auf das Leben von Dee Dee legt.
Der macht sich widerwillig auf, seine alten Kumpane zu treffen, Animositäten regieren, man spricht nicht mehr miteinander, wie seit Jahren. Dee Dee ist desillusioniert, in der Ich-Perspektive flirrt sein Leben in Episoden am Leser vorbei: Die deprimierende Kindheit in Deutschland, wo er in den Trümmern der Nachkriegszeit herumwühlt, die Drogensucht, das aufregende Milieu in New York der frühen 70er, den Wahnsinn der Punkwelle, die Enttäuschung über den ausbleibenden Erfolg, die Aufenthalte in der Psychiatrie und schließlich der Tod an einer Überdosis des offiziell längst „sauberen“ Dee Dee erleben wir in fieberhafter Abfolge. Das Geschehen ist gepflastert von bekannten Weggefährten und Zusammentreffen: Iggy Pop, Debbie Harrie, Captain Sensible (damals noch bei „The Damned“, Kindern der 80er besser bekannt als der, der ständig „wot?“ fragte), der ebenso drogenabhängige Sid Vicious, Joe Strummer, Lemmy – sie alle geben sich ein Stelldichein, wie es der Historie entspricht. Im ausführlichen Anhang erklärt das Autorenteam denn auch den faktischen Hintergrund verschiedener Szenen und erläutert, warum man in einzelnen Elementen von der Historie abweicht, was im Zuge einer dramatischen Darstellung durchaus legitim ist.
Eher weniger Raum nehmen dagegen die einzelnen Alben ein – fast schon im Vorbeigehen erleben wir den Reigen von „Blitzkrieg Bop“, „Sheena Is A Punk Rocker“, „Teenage Lobotomy“ und „We’re A Happy Family“, der von dem gleichen Feuilleton, das die Band damals vernichtend abstrafte, heute als wegweisende Klassiker gefeiert wird (zumindest auf diese Weise teilen sie das Schicksal von Black Sabbath und Motörhead, die von der Presse anfänglich als stupide Beschallung für Minderbemittelte belächelt und später als authentische Originale zelebriert wurden). Der Filmausflug in die Rock’n’Roll High School fällt ebenso unter den Tisch wie der King-Soundtrack – der Fokus liegt mehr auf den Rivalitäten, der Enttäuschung und vor allem dem steten Kampf mit den Drogen, den Dee Dee schließlich 2002 verlor, ein Jahr, nachdem Joey an Krebs verstorben war. Zeichnerisch richtet sich Éric Cartier („Alunys Expedition durch Troy“) ganz gemäß dem Thema am Underground-Stil aus: schwarz-weiß, Bleistift, Robert Crumb schaut gelegentlich um die Ecke, so wird das Leben auf der falschen Seite der Straße und Gesellschaft trefflich inszeniert. Somit ein gelungenes Portrait einer Band, die fast zufällig ein musikalisches Phänomen begründete, dessen Erfolg zu ernten ihr nie vergönnt war. In diesem Sinne, noch einmal, Dee Dee: one, two, three, four!
Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.
Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.