Allein die Farben in Nicolas Mahlers Comic „Das Ritual“ springen einen an wie ein Monster: In knalligem Rot ragt der Berg Fuji über einem See, dessen Wasser pink ist. Hier geht es nicht um eine realistische Darstellung der japanischen Landschaft. Hier geht es um die Inszenierung von Godzilla- und anderen Monsterfilmen. Nicolas Mahler hat sich vom Leben des japanischen Filmtrickmeisters Eiji Tsuburaya inspirieren lassen und zeichnet dessen Arbeit mit seinen schnell hingeworfenen langnasigen Männchen nach. Nicht ohne beiläufigen Humor: Wenn sein einäugiges grünes Monster mal vor der Skyline von Tokio auftaucht, mal einen alten Tempel vom Sockel kickt und ein anderes Mal einen Panzer niederbrennt, dann wirkt das wie eine Sisyphos-Arbeit.
Ein lukratives kulturelles Missverständnis
Der Comic-Künstler Igort kennt die japanische Unterhaltungsindustrie aus eigener Erfahrung. Er war Anfang der 90er-Jahre der erste westliche Zeichner, der für die Manga-Industrie arbeiten durfte. Allein die Honorarverhandlungen waren für beide Seiten ungewohnt.
Igort: „Es hat dreieinhalb Stunden gedauert. Ich wusste nämlich nicht, dass in Japan die Gäste das Gespräch beenden. Und weil ich sitzengeblieben bin, dachte der japanische Redakteur, dass ich mehr Geld haben will – und hat drei Mal sein Angebot erhöht. Als ich rausging, wurde ich so gut bezahlt wie Otomo.“In den 90er-Jahren war Otomo einer der größten Manga-Stars. Seitdem war Igort immer wieder in Japan. Im ersten Band der „Berichte aus Japan“ hat er sich dem Land auf der intellektuellen Ebene genähert und ist zum Beispiel der Frage nachgegangen, warum in Japan nicht zwischen Hochkultur und Unterhaltungskultur unterschieden wird. Im zweiten Band zeichnet er dagegen eine Reise durch Japan auf.
Igort: „Sehr oft begreife ich den verborgenen Sinn oder etwas Wichtiges in meinem Leben nur, weil mir ein Thema immer wieder durch den Kopf geht. Und genauso bin ich gereist: Ich habe die Gedanken und Geschichten einfach auf mich zukommen lassen.“
Geradezu magisch wirken die Bilder vom Okunoin, dem größten Friedhof Japans. Igort zeichnet den Lichtschein der steinernen Laternen nach, die den Weg durch die alten Baumriesen beleuchten. Moose glänzen matt im Lichtschein. Igort erkennt in dieser Szene die Atmosphäre einiger Animationsfilme aus dem berühmten Ghibli-Studio wieder. Eine ungeheure Achtsamkeit für Details ist in Igorts Bildern zu erkennen, die so präzise komponiert sind, dass sie wie japanische Holzschnitte wirken.
Zeit ist ein Werkzeug
Die präzisen Handgriffe sind es auch, die Igort an dem Papierschöpfer beeindrucken, den er auf seiner Reise trifft.
Igort: „Das war ein sehr intensives Treffen, weil der wie so ein Mönch ist. Der schöpft jeden Tag Papier, und der versucht das auf eine sehr rituelle Art und Weise zu machen. Ich habe danach angefangen, über meine eigene Arbeit nachzudenken. Wie wichtig sind Rituale, um meine Geschichten voranzubringen? Wenn eine Idee heranreift, dann braucht das Zeit. ‚Zeit ist ein Werkzeug‘, hat Tarkowski immer gesagt. Man muss über die Idee nachdenken. Und Rituale helfen dabei, die Idee auf das Wesentliche zu reduzieren.“Es gibt nur wenige Europäer, die zugleich so kenntnisreich wie kunstvoll über Japan berichten können wie Igort. Nicolas Mahler hingegen spielt im Comic „Das Ritual“ vor allem mit Klischees, lässt seinen Filmtrickmeister zum Beispiel zwischendurch mal in einem Zen-Garten rumharken. Erstaunlicherweise gelangen Mahler und Igort trotzdem zu ähnlichen Bewertungen der japanischen Kultur: Es geht nicht unbedingt um den Inhalt, sondern um die Form. „Mir ging es nur um Rhythmus und Timing“, lässt Mahler seinen Filmtrickmeister sagen. Und: „Ich wollte Rituale inszenieren.“
Dieser Text erschien zuerst am 05.12.2018 auf: Deutschlandfunk
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.