Der Astronaut im Spukhaus: kein Ring da

Sammy Harkham verbeugt sich vor dem Grindhouse-Kino der 70er Jahre, Jeff Lemire und Andrea Sorrentino arbeiten an einem weiteren Horror-Komplex, Kate Beaton dokumentiert den Raubbau der Ölindustrie, Neil Gaiman lässt Sir Galahads Gralsuche an einer britischen Dame scheitern und Émile Bravo ist weiterhin ein Garant für fantastische phantastische Jugendcomics. Eindrucksvolle, liebenswerte, diskutable Phantastik-Comics des zweiten Jahresviertels.

Sammy Harkham: Blood of the Virgin

Einem Comic, in dessen Danksagungsliste Joe Dante auftaucht, kann man vertrauen. Mit Hauptfigur Seymour torkeln wir durch die US-amerikanische Grindhouse-Szene der 1970er. Der arbeitet als Cutter für einen protzigen Exploitation-Produzenten, fühlt sich aber zu Höherem berufen. Er schreibt Drehbücher, von denen wenig in den Filmen übrig bleibt, und die ewige Aussicht auf die erste eigene Regiearbeit nährt seinen Narzissmus so sehr, dass er ständig den ohnehin fragilen Familiensegen aufs Spiel setzt. In diesem Comic darf man leidenschaftlich hassen. Aber auch schwelgen. Der Blick, den Zeichner Sammy Harkham auf diese Guerilla-Filmindustrie richtet, steckt voller Liebe fürs schnell runtergekurbelte Horrorkino. Wir schwitzen im Schneideraum, huschen über notdürftig hergerichtete Sets, lauschen allerlei Fachsimpeleien auf verdrogten Partys und kriegen zugleich eine ziemlich heruntergekommene Parallelwelt vor den Latz geknallt, durch die sich Harkham mit einer meisterhaft gestalteten Antiliebesgeschichte laviert. Kein Skandalgeschrei wie bei Kenneth Anger, sondern eine illusionslose Sicht auf die Hinterhöfe der Traumfabrik, wo Pragmatismus die wichtigste Währung ist. Abermals kann man Reprodukt nur danken, dass dieser fantastische Zeichner und Autor endlich ins Deutsche übertragen wird.

Sammy Harkham: Blood of the Virgin • Reprodukt, Berlin 2023 • 296 Seiten • Hardcover • € 39,00

Émile Bravo: Julius‘ fantastische Abenteuer Band 1

Im Bereich des Jugendcomics gibt der französische Zeichner Émile Bravo den Ton an. Augenscheinlich am Stil Franquins geschult, stechen seine Werke aus dem Gros der zeitgenössischen Veröffentlichungen des boomenden Kinder- und Jugend-Segments wie Perlen auf dem Meeresgrund hervor. Schnurrige Dialoge, ein argwöhnischer Blick auf die Erwachsenen und tiefes Misstrauen gegenüber Autoritäten sind die tragenden Säulen seiner bei Reprodukt erneut startenden Reihe „Julius fantastische Abenteuer“, die zwischen 2014 und 2016 zuerst sechsbändig bei Carlsen erschien und damals noch „Pauls fantastische Abenteuer“ hieß. Nun ist der Titel näher am Original, die Präsentation weitaus liebevoller und aus Softcover wurde Hardcover. Der Auftakt ist ein vorzügliches Weltraumabenteuer. Julius wird in seinem Elternhaus von zwei Männern der Weltraumbehörde rekrutiert, und bevor sich die Frage klärt, wieso die Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen ist, sitzt er schon mit einer mehr oder minder kompetenten Crew im Raumschiff Richtung Alpha Centauri. Schon bald suchen Außerirdische Kontakt zu den Expeditionsreisenden, und wie sich von diesen Kommunikationsversuchen zur ersten Begegnung vorgearbeitet wird, hat man selten so lustig im Comic gelesen.

Émile Bravo: Julius‘ fantastische Abenteuer. Band 1: Sprung in die Zukunft • Reprodukt, Berlin 2023 • 56 Seiten • Hardcover • € 18,00

Benjamin Flao: Auf dem Wasser Band 1

Präapokalyptische Bilder mahnen in immer kürzeren Abständen, dass der Klimawandel die Zukunft bereits im Griff hält, und das erfüllt auch die postapokalyptischen Erzählungen mit einer neuen Dringlichkeit. Der in Frankreich lebende Comiczeichner Benjamin Flao wählt für seine Serie „Auf dem Wasser“ einen ähnlichen Topos wie sein italienischer Kollege Gipi in „Die Welt der Söhne“: die steigenden Meeresspiegel. Wo Gipi allerdings materialistisch die menschliche Brutalität im Auge des Weltuntergangs beschreibt, reichert Flao sein Setting um phantastische Elemente an, indem er seinen Protagonist*innen – die sich auf Hausbooten buchstäblich über Wasser halten, gleichwohl auch staatlich verordnete Wohngebiete zu Land existieren – einen telepathisch begabten Hund zur Seite stellt, der ab und an metaphysisch herumfirlefanzt und dem Szenario einiges von dem Schrecken nimmt, den die schmutzigen Zeichnungen so mühselig aufgebaut haben. Aber die Reise hat ja erst begonnen, es bleibt noch genügend Raum für Kohärenz.

Benjamin Flao: Auf dem Wasser. Erster Teil • Schreiber & Leser, Hamburg 2023 • 160 Seiten • Hardcover • € 29,80

Kate Beaton: Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden

Von den postapokalyptischen Bildern, die „Auf dem Wasser“ auffährt, setzt „Ducks“ nur einen Schritt zurück zu den heutigen Ursachen, die zu diesen Bildern führen werden. Die kanadische Comickünstlerin Kate Beaton hat in ihren Webcomics bislang dem Humor gefrönt, „Obacht! Lumpenpack“ und „Zur Seite, Kerl!“ (beide bei Zwerchfell) sind zwei herausragende Sammlungen ihrer spöttischen Betrachtungen der mitunter putativen Heroen der Literatur- und Zeitgeschichte. „Ducks“ betritt völlig neues Terrain, Beaton geht zurück ins Jahr 2005, als sie mit 21 zum Abstottern ihres Studiumkredits zwei Jahre lang auf den Ölsandfeldern Westkanadas in der Werkzeugausgabe mehrerer Camps arbeitete. Das 450 Seiten starke Meisterstück, dessen Qualitäten selbst Obama auf seinen Social-Media-Kanälen überschwänglich lobte, gleichwohl er – trau, schau, wem – noch 2013 die USA zum weltgrößten Energielieferanten ausbauen lassen wollte, massiv das Fracking propagierte und alle Warnungen der Klimaforschung ignorierend zahlreiche Ölfelder und Bohrinseln genehmigte, ist eine radikale Abrechnung mit der Ölindustrie. Raubbau an der Natur und am Körper der Arbeiter*innen, Diskriminierung und der brutale Umgang auch untereinander, Machtausübung und Hierachien im Arbeitsverhältnis und die Gefahren und Folgen des Frackings – Beaton führt durch diesen vor der Öffentlichkeit abgeschotteten Kosmos der Ressourcenvernichtung mit präzisem Sensor fürs Detail.

Kate Beaton: Ducks. Zwei Jahre in den Ölsanden • Reprodukt/Zwerchfell, Berlin/Stuttgart 2023 • 448 Seiten • Hardcover • € 39,80

Tillie Walden: Clementine Band 1

Tillie Walden zeichnet schneller als ihr Schatten und versteht es, jedes Genre mit feministischem Bauplan neu zusammenzusetzen. Ob Science-Fiction-Story („Auf einem Sonnenstrahl“), autobiographische Graphic Novel („Pirouetten“) oder lyncheskes Road Movie („West, West, Texas“), stets werden Themen und Motive überraschend aufgemöbelt. Nun ist also der Horror an der Reihe. Robert Kirkmans „The Walking Dead“ ist als Comicserie zwar beendet, das Franchise hat sich über die Jahre indes zu einem multimedialem Universum entwickelt. Die Titelfigur Clementine stammt aus dem Telltale-Game, und Walden erzählt in diesem Spin-off-Auftakt (das drei Bände umfassen wird), wie sie sich als einbeinige 17-Jährige zusammen mit vier weiteren Jugendlichen zurückgezogen auf einem nur mit einem Sessellift zugänglichen Berg gegen die Zumutungen der Postapokalypse zu erwehren versucht. Das mag (noch) nicht der ganz große Wurf sein, mit denen man sonst von Walden versorgt wird, aber im Zombie-Subgenre mit originären Ideen zu reüssieren, ist mittlerweile auch keine leichte Aufgabe.

Tillie Walden: Clementine Band 1 • Cross Cult, Ludwigsburg 2023 • 256 Seiten • Hardcover • € 26,00

Diego Agrimbau, Juan Manuel Tumburus: Mit leeren Augen

Auch Puppenhorror scheint erschöpfend abgegrast, aber das Künstlerduo Diego Agrimbau und Juan Manuel Tumburus will in seiem Oneshot „Mit leeren Augen“ nicht den Eindruck erwecken, das Rad neu zu erfinden. Psychopatische Kinder, mörderische Puppen im opulenten frankobelgisch-naturalistischen Stil, dazu ein „Ab 18“-Sticker auf dem Cover, der die Erwartungen auf eine Splatter-Oper stimmt. Tatsächlich sieht man hier nichts, was nicht bereits die EC-Comics in den 1950ern durchexerziert hätten, das aber mit vergleichbarer Unbekümmertheit. Schauplatz ist ein altes Landhaus mitten im Wald, in dem sich eine Gruppe Kinder von verirrten Soldaten ernährt, so diese aus Zufall ihre Wege kreuzen. Ein boshafter Spaß, der dadurch besticht, dem Spiel mit der Drastik keine epischen Absichten vorauszuschicken. Stattdessen münden die offenkundigen Kriegstraumata der Kinderfiguren in einem blutigen Inferno.

Diego Agrimbau, Juan Manuel Tumburus: Mit leeren Augen • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 80 Seiten • Hardcover • € 19,80

Hubert, Vincent Mallié: Tenebrae. Zweites Buch

2020 starb der französische Szenarist Hubert mit gerade mal 49 Jahren, darum ist auch das Abschlussalbum seiner zweibändigen Serie „Tenebrae“, ein posthum veröffentlichtes Werk, ein bitterer Genuss, veranschaulicht die Erzählung doch abermals, wie eigenwillig und genial er seine Plots entwickelte. Sah man sich im ersten Band noch mit einem nahezu konventionellen Fantasy-Märchen konfrontiert, folgt nun die inhaltliche Wende, ohne das Leitmotiv zu suspendieren. Denn jetzt stecken die verfluchte Königstochter Islen und der gefallene Ritter Azhur mitten im Paaralltag ihres selbstgewählten Exils, und der Reiz der jungen Liebe weicht schnell der Drangsal des Überlebens unter ärmlichen Bedingungen. Und dann schleichen sich auch Zweifel in Islens Glauben an Azhurs Aufrichtigkeit, und es stellt sich bald die Frage, ob sie womöglich Opfer seiner ziemlich männlich attribuierten Manipulationsversuche geworden ist und sich nun in einer neuen Abhängigkeit befindet. Oder trübt die missliche Lage einfach nur den Blick auf das gemeinsame Glück? Diese Ambivalenz macht aus „Tenebrae“ fast schon ein feministisches Traktat. Kein Topos, mit dem man im Fantasy-Comic üblicherweise verwöhnt würde.

Hubert, Vincent Mallié: Tenebrae. Zweites Buch • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 80 Seiten • Hardcover • € 19,80

Neil Gaiman, Colleen Doran: Ohne Furcht und Tadel

Dass Neil Gaiman und die US-amerikanische Comiczeichnerin Colleen Doran künstlerisch hervorragend miteinander harmonieren, haben sie bereits mehrfach gezeigt: Die Schneewittchen-Groteske „Snow Glass Apples“ liegt in deutscher Übersetzung vor, „Die Trollbrücke“ wird im September folgen. In „Ohne Furcht und Tadel“ aquarelliert sie eine komödiantische Kurzgeschichte Gaimans aufs Papier, in der Sir Galahads ewige Suche nach dem Heiligen Gral endlich ein Ende zu nehmen scheint. Der befindet sich allerdings im Besitz der rüstigen britischen Dame Mrs. Whitaker, die ihn zufällig in einem Oxfam-Shop entdeckt und auf ihrem Kaminsims platziert hat. Da soll er auch bleiben, es hilft kein Betteln und kein Flehen, und auch das Schwert Balmung, das Galahad zutiefst ergriffen überreichen will, lässt die Witwe kalt. Für Galahad heißt es darum erst mal: Gartenarbeit, Einkäufe reintragen, den Müll rausbringen. Care-Arbeit statt Schlachten schlagen, eine herrlich prosaische Devise, um der Artussage mit all ihrem Schwulst die Flausen auszutreiben. Im ausführlichen Anhang findet sich auch ein Nachwort von Colleen Doran, dem sich eindrücklich entnehmen lässt, wie viel Arbeit in dem vermeintlich kompakten Werk steckt und welch mühsame Folgen eine zu frühe ästhetische Entscheidung im Entstehungsprozess zeitigen kann.

Neil Gaiman, Colleen Doran: Ohne Furcht und Tadel • Splitter Verlag, Bielefeld 2023 • 80 Seiten • Hardcover • € 19,80

Christian Godard, Julio Ribera: Der Vagabund der Unendlichkeit – Integral Band 1

An Gesamtausgaben mangelt es im deutschsprachigen Comicmarkt nicht, und manchmal reibt man sich perplex die Augen, was alles in dieser Welle aus Marketinggründen zum Klassiker erklärt wird. „Der Vagabund der Unendlichkeit“ hingegen ist psychedelischer 70er-Science-Fiction-Irrsinn, wie er heutzutage wohl als ausgestorben gelten kann. Eine Space Opera auf Pilzen, die vom Leipziger Kleinverlag Kult Comics in acht Sammelbänden ediert wird. Das ist nicht nur mutig, sondern auch geboten, weil die hiesige Publikationsgeschichte der frankobelgischen Serie ziemlich chaotische Wege nahm: Es gab Alben beim Condor Verlag und Volksverlag, bei Arboris und schließlich bei Feest, munter in chaotischer Reihenfolge publiziert. Nun erscheinen Axle Munshines kosmische Reisen erstmals in korrekter Reihenfolge und um kundige Dossiers ergänzt. Bestimmt hat auch Wenzel Storch seinen Spaß daran.

Christian Godard, Julio Ribera: Der Vagabund der Unendlichkeit – Integral Band 1 • Kult Comics, Leipzig 2023 • 232 Seiten • Hardcover • € 39,00

Pure Fruit #27

Immer eine Empfehlung ist das Kieler Comicmagazins „Pure Fruit“. Das Thema der neuen Ausgabe lautet „Künstliche Intelligenz“, an dem sich die Künstler*innen Eva Muggenthaler, Brösel, Kim Schmidt, David von Bassewitz, Jens Rassmus, Lara Swiontek, Volker Sponholz, Gregor Hinz und Tim Eckhorst mal gewitzt, mal unbeeindruckt, mal finster abarbeiten. Das Heft findet man kostenlos in Cafés, Kneipen, Kinos, Buchhandlungen in Kiel und Umgebung, deutschlandweit in vielen Comicshops oder online unter diesem Link.

Diese Beiträge erschienen zuerst in der monatlichen Comic-Kolumne auf: DieZukunft.de

Sven Jachmann schreibt als freier Autor über Comic, Film, Literatur mit den Schwerpunkten Politik und Phantastik, ist Herausgeber der Magazine Comic.de und Filmgazette.de sowie Redakteur beim Splitter Verlag. Seit 2006 Beiträge u. a. in Konkret, Tagesspiegel, Potsdamer Neueste Nachrichten, ND, Taz, Jungle World, Titanic, DieZukunft.de, Das Viertel, Testcard, Der Schnitt, Pony Magazin, kino-zeit.de. Essays für zahlreiche Comic-Editionen und DVD-Mediabooks.