Nirgendwo ist die Lust an Spott und Überzeichnung größer als bei unseren französischen Nachbarn. Warum eigentlich?
Als der Comic „Reisen zu den Roma“ 2010 in Frankreich erschien, war Nicolas Sarkozys „nationaler Krieg gegen die Kriminalität“ in vollem Gange. Unzählige Roma wurden aus Frankreich nach Rumänien und Bulgarien abgeschoben. Plötzlich waren Fotos wie jene, mit denen Alain Keler über zehn Jahre hinweg die Lebensverhältnisse von Roma in Europa dokumentiert hatte und von denen er in der ganzen Zeit kein einziges an die Presse hatte verkaufen können, in allen Medien. Und nicht nur das. Das Desinteresse des Mainstreams hatte den Fotografen inspiriert, gemeinsam mit dem Comiczeichner Emmanuel Guibert die bildgewaltige Anklage des französischen und gesamteuropäischen Umgangs mit den Roma zu publizieren. Ein Zwittermedium, irgendwo zwischen Foto- und Comicreportage.
Dass ein Fotograf den Umweg über einen Comic wählt, um die Aufmerksamkeit auf ein politisches Thema zu lenken, mag das deutsche Publikum verwundern, in Frankreich jedoch ist das gezeichnete Bild eine Form, die von Lesern, Medien und Politik als Intervention in gesellschaftliche Debatten verstanden wird. Prominente Zeichner wie Joann Sfar oder Riad Sattouf eckten als Comic-Kolumnisten bei Charlie Hebdo immer wieder politisch an, die mit der autobiografischen Arbeit „Persepolis“ bekannt gewordene Marjane Satrapi mischte sich in außenpolitische Fragen ein, und die mit unzähligen Preisen ausgezeichnete Claire Bretécher ist seit vielen Jahrzehnten wichtige Stimme feministischer Debatten – Comic-Zeichner sind selbstverständlicher Teil der politischen Kultur des Landes.Spott und Kritik sind in unserem Nachbarland ein hohes Gut. Ein solch hohes Gut, dass der Comicstar Joann Sfar, der von seiner „Die Katze des Rabbiners“ in Frankreich Millionen verkauft hat, den Wiederabdruck der Mohammed-Karikaturen 2006 in Charlie Hebdo vehement verteidigt und sogar einen Comic über die daraus folgende juristische Auseinandersetzung gezeichnet hat, obwohl er die Karikaturen für sich genommen noch nicht einmal gelungen fand. Jedoch: Dass gezeichnete Kritik auch beleidigen darf, seien es religiöse Gefühle oder politische Akteure, dafür tritt nicht nur Joann Sfar ein.
Scheinheilige Kleinbürger
Auch der Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar 2015 hat nicht dazu geführt, dass so eine vehemente Kritik nicht mehr geäußert wird, oder dass sich die Redaktion zurückgenommen hätte. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Immer wieder hat die Repression von Meinungsfreiheit nur umso stärker die Federn der Zeichner herausgefordert, wie die zahlreichen Gerichtsprozesse um Comiczeitschriften wie Métal Hurlant oder Hara-Kiri – aus der später Charlie Hebdo hervorging – seit den 1970er Jahren belegen.
Die Lust daran, mittels Zeichnungen, Überzeichnungen und dem Spiel mit Klischees und Stereotypen Kritik an Religion, Staat, Politik oder Medien zu üben, findet ihren Ursprung in der französischen Tradition der politischen Karikatur. Honoré Damuier, der 1879 verstorbene Begründer des gezeichneten politisch-satirischen Witzes, entlarvte die Scheinheiligkeit des Kleinbürgertums ebenso wie die Schattenseiten des postrevolutionären Frankreich, und auch die Bildzyklen des ebenfalls im 19. Jahrhundert arbeitenden Gustave Doré über Armut und die Ränder der Gesellschaft können als Vorläufer der gesellschaftskritischen Bildgeschichten gelesen werden. Es waren die Anfänge der Suche nach einer obrigkeitskritischen Bildsprache. Sie fand im 20. Jahrhundert ihren Widerhall unter anderem in den seit 1959 immer noch unbesiegbaren Galliern, die gegen ihre römischen Besatzer kämpfen, oder in den anarchischen Arbeitsverweigerungen des franko-belgischen Gaston.Die Früchte dieser politischen Früherziehung zeigten sich in den nachfolgenden Zeichner-Generationen, die immer tiefer in gesellschaftlichen Wunden bohrten, Tabuthemen wie die Kolonialzeit, den Algerienkrieg oder die französische Kollaboration mit den deutschen Besatzern zu Papier brachte. Einer der prägendsten Zeichner des Landes, der 1946 geborene Jacques Tardi, hat der revolutionären Tradition der Franzosen einige Alben gewidmet und in „Die Macht des Volkes“ eindrücklich Aufstieg und Fall der Pariser Kommune, des blutig niedergeschlagenen sozialistischen Experiments von 1871, nachgezeichnet.
Kämpfe zwischen den verschiedenen politischen Kräften spielten im französischen Comic immer wieder eine Rolle, mit einer klaren Sympathie der Zeichner für die Randständigen, die Verlierer der Geschichte. Etwa wenn Baru im autobiografisch angehauchten „Die Sputnik-Jahre“ die Lebenswelt von Kindern in einem kleinen Industriestädtchen in den Fünfzigern abbildet, in die immer wieder die Welt der Erwachsenen eindringt, wo die Konflikte der Kinder als Stellvertreter für die gesellschaftlichen Kämpfe erscheinen, denen sich die Arbeiterfamilien zu stellen haben. Und für einen kleinen Moment werden aus den Verlierern der Geschichte die Sieger: Das Finale von „Die Sputnik-Jahre“ ist die erfolgreiche Vertreibung der angerückten Polizei während eines von der Kommunistischen Partei organisierten Streiks im Stahlwerk, bei der die Kinder ihren Vätern zur Seite stehen.Den Aufstand proben
Meist aber sind es die aussichtslosen Kämpfe, die Ohnmacht statt der Macht des Volkes, das Ausgeliefertsein den gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber, die von den Zeichnern aufgezeigt und angeprangert werden. Ihnen ist bewusst, dass sie mit den Comics an den realen Verhältnissen nur wenig ändern können, doch bewirkt dies nicht den Rückzug in die Gebiete der unpolitischen leichten Unterhaltung. Im Gegenteil, die Mittel des Comics im Erproben des Aufstands, im Erheben des Wortes gegen die Mächtigen scheinen noch lange nicht erschöpft.
„Quai D’Orsay. Hinter den Kulissen der Macht“ (2012) von Zeichner Christophe Blain und dem unter Pseudonym schreibenden ehemaligen Politikberater Abel Lanzac stellt einen der zahlreichen Höhepunkte dieser Form des Comics der letzten Jahre dar. Das Gespann deckt die gefährliche Verbindung von Narzissmus und Macht am Beispiel eines zu Wutausbrüchen neigenden Außenministers auf. Der Comic, eine beißende Satire auf den Politikbetrieb, in dem reale Personen wie Dominique de Villepin oder Nicolas Sarkozy leicht zu entschlüsseln waren, avancierte in Frankreich zum Bestseller.
Dieser Text erschien zuerst in: Freitag 23/2016
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.