Der in Berlin lebende israelische Komponist Itay Dvori arbeitet seit einigen Jahren daran, die Grenzen zwischen den beiden künstlerischen Welten der Musik und des Comics einzureißen. Sein Rezept: Comic-Konzerte. „Die zum Teil komponierten und zum Teil improvisierten Vertonungen verknüpfen sich mit den gleichzeitig projizierten Bildern und Texten der Comics und Graphic Novels für den Zuschauer und Zuhörer zu einem synästhetischen Erlebnis“, erklärt er das Konzept auf seiner Webseite. Im Interview mit Jonas Engelmann beschreibt er diese Herangehensweise, das Verhältnis von Bild und Musik und die eigenen Vorbilder.
Jonas Engelmann: „Ragtime ist komponierte Musik und Comics sind komponierte Kunst“, hat der amerikanische Comiczeichner-Star Chris Ware das Verhältnis von Comic und Musik einmal zu beschreiben versucht. Beide setzen ihr Einzelelemente, Noten bzw. Panels, in ein zeitliches Verhältnis. Wie sehen Sie dieses Verhältnis von Musik und Comic, haben Sie eine eigene Definition dieser Verbindung?Itay Dvori: Die Definition von Chris Ware sieht die Parallele zwischen Comic und Musik in einer originellen Art und Weise, wobei man dazu anmerken muss: Eine Partitur oder Notation ist nicht die Musik selbst, die die Zuhörer erleben, sondern deren Anweisung für die Musiker, die sie spielen – wie ein Rezept für den Koch bestimmt ist und nicht für die Esser. Und es gibt dazu ja auch Musik, die nicht notiert ist, also die keine Musikliteratur ist, die interpretiert wird, z. B. improvisierte Musik. In Comics sind aber die Panels die Kunst, die die Leser selbst direkt erleben. Deshalb finde ich, dass diese Definition (oder Vergleich) von Ware zwar äußerlich treffend scheint, aber nur teilweise im wesentlichen Sinn richtig ist. Es wäre dazu auch interessant ihn zu fragen, warum er nur Ragtime als passend für den Vergleich erwähnt.
Für mich ist ein Comic wie ein Film mit großen Lücken, ähnlich wie ein Storyboard. Man ergänzt die Lücken in der Vorstellung. Das macht den Comic zu Literatur, weil nicht alles gezeigt wird. Man muss sich das, was in den Leerstellen passiert – also zwischen Bild A und B – selbst vorstellen. Auch die Stimme der Akteure und die Geräusche muss man sich vorstellen – ein Rauschen des Meeres oder der Lärm der Stadt. Das macht den Comic für viele sehr attraktiv, denn man kann in eine Welt abtauchen, und trotzdem hat man eine Steuerungskraft: Man selbst bestimmt das Tempo, die Lautstärke, die Artikulation. Die Filme, die dann entstehen, sind je nach Leser unterschiedlich.
Ich habe momentan keine eigene Definition zu der Relation zwischen Musik und Comic, aber ich wage es, Wares Definition zu präzisieren: Musikpartituren (Musikliteratur) sind zeitgebundene Kunstwerke, die von Musikern interpretiert werden, während die Zuhörer sie nur erleben. Comics sind stille sequenzielle Kunstwerke, die von Lesern durch Vorstellungskraft interpretiert und gleichzeitig erlebt werden, und dadurch zu einer sehr persönliche Zeitkunst werden.Wenn ich meine Ausführungen jetzt noch einmal lese, sehe ich, dass sie zwar ausführlich sind, aber noch löcheriger und mit Abstand weniger elegant als die von Ware! Man kann immer weiter präzisieren, aber es werden immer mehr Probleme auftauchen, je mehr Vergleiche man anstellt. Definitionen sind gefährlich!
Begleitet in Ihren Konzerten die Musik die Bilder oder illustrieren die Bilder die Musik? Oder wie würden Sie dieses Wechselverhältnis beschreiben?
Das würde ich ganz einfach so beschreiben: Ich vertone die Bilder! Vor allem aber die Leerstellen zwischen ihnen. Es ist für mich in diesem Sinne nicht anders, als einen Text zu vertonen. Es ist eine Art von kompositorischer Interpretation, in meinen Konzerten oft auch improvisatorisch. Meine Musik versucht, nicht untermalend zu sein, sondern wird in Augenhöhe mit den Bildern positioniert. Es ist keine Lesung mit Musik, sondern ein Konzert. Aber die Verhältnisse ändern sich ständig, auch innerhalb eines Stückes. In manchen Momenten dominiert die Musik, dann begleitet sie, dann führt sie wieder. Sie versucht, die Prozesse, die im Hirn des Lesers passieren, zu unterstützen, eine abstrakte Live-Animation der Bilder zu sein. Aber ich darf das Timing des Bildwechsel ja selbst bestimmen. Insofern habe ich mehr Freiheit als ein Filmkomponist oder Stummfilm-Pianist und die Musik hat mehr Präsenz als bei einer Comic-Lesung.
Das war bei mir zu zwei sehr unterschiedlichen Zeitpunkten, weit voneinander entfernt.
Schon als Kind war ich ein leidenschaftlicher Comic-Leser. Als ich ungefähr neun war, hat mir ein Freund ein lustiges, ein wenig satirisches israelisches Comicbuch von Dudu Geva und Kobi Niv gezeigt, und diese Kunstform hat mein Herz sofort erobert! Ich habe ziemlich schnell selbst angefangen, Comic zu zeichnen, ziemlich imitierend, allerdings bin ich in dem Bereich nicht besonders talentiert. Ich glaube, dass die Geschichte bei mir stärker gewirkt hat als die Zeichnungen… In der 5. Klasse publizierte ich auf dem schwarzen Brett in unserer Klasse eine Comicreihe über eine Detektivkatze, immerhin hatte ich viele „Follower“, sogar ein paar Mädchen fanden das toll…
Ich las damals sehr viel Comic, interessanterweise nicht viele Superheldencomic, eher lustige Sachen – Garfield, danach MAD, Raw. Später auch Werke wie „Maus“. Die Liebe zum Comic kam übrigens früher als die Liebe zur Musik. Irgendwann kam die Musik in mein Leben und ein paar Jahre später nahm das Interesse an Comics bei mir ab.
Viele Jahre Später, erst nach meinem Studium, als sich schon Berufsmusiker im Theater war – Dirigent und Korrepetitor – entdeckte ich die Comics wieder – fast per Zufall, in einem Comic-Laden in Hamburg! Diesmal waren es schon zum Teil Graphic Novels, die ich las, und der Schwerpunkt waren Europäer. Joann Sfar war z. B. einer, der mich stark geprägt hat. Dann kam mir auch die Idee, Musik zu Comics zu kreieren. Ich kann mich nicht an einen bestimmten Moment erinnern – vielleicht weil diese Idee eigentlich schon viel früher bei mir „gekeimt“ hat. Als ich meine Stelle im Theater gekündigt hatte, hatte ich plötzlich viel Zeit und ich begann damit zu experimentierten. Das war im Jahr 2011. Die erste Vertonung war eine Szene aus „Pascin“ von Joann Sfar. Aber es hat noch drei Jahre gedauert, bis ich diese Skizze jemandem gezeigt habe. Es hat diese Zeit gebraucht, bis sich bestimmte Prozesse – musikalische und persönliche – in mir vollzogen hatten, und ich dieses Projekt konkretisieren und realisieren konnte.
Etwas vom Thema weg: Im Werk von Joann Sfar spielt Musik eine wichtige Rolle, in „Klezmer“ ist sie nicht nur imaginärer Fluchtpunkt der Protagonisten aus der antisemitischen Realität, sondern auch Gegenmittel: Die Musik verleiht den Musikern tatsächlich die Kraft, zu schweben, zu Luftmenschen zu werden, und die Musiker erheben sich von der Bühne. Kann Musik, Kunst, solche eine Kraft entwickeln, ein Gegenmittel zu Ausgrenzung und Anfeindung zu sein? Und wie muss sie dafür beschaffen sein?Ja, sicherlich. Es gibt viele Beispiele dafür. Nicht nur in Klezmer, auch im Jazz, Blues und anderen Stilen. Es sind Musikstile, die von der Geografie und der Zeit sowie den sozialen Zusammenhängen von Kampf und Unterdrückung nicht zu trennen sind.
Wie muss sie dafür beschaffen sein? Da bin ich nicht sicher, ob ich in der Lage bin, das zu beantworten, ohne davor sehr viel zu forschen, mir darüber Gedanken zu machen und mich mit dem Thema auseinanderzusetzen… Ich denke aber, so eine Musik sollte mit einer bestimmten – geheimnisvollen, unerklärlichen – Qualität beschaffen sein, die von ihren Zuhörern zugleich als tief und traurig sowie als lebensfreudig und leidenschaftlich empfunden wird. Sie soll ihnen Raum geben, ihre Schwierigkeiten im Leben nachzuspüren, aber zugleich Hoffnung verleihen und sie beflügeln…
Ich kann mich mit dem, was Sie im Bezug zu Klezmermusik schreiben – Luftmenschen, die die Kraft haben, zu schweben, sich zu erheben etc., sehr stark identifizieren. Ich muss dann an persönliche Gespräche denken, die ich mit dem Klarinettist und legendären Klezmer-Musiker Giora Feidman führen durfte.
Apropos „Klezmer“ von Sfar, mich hat in seinem ersten Band eine bestimmte Szene besonders beeindruckt – auch exemplarisch dafür, wie man Musik im Comic „zeichnen“ kann. Es ist eine Szene, ziemlich am Anfang des Buches, in der der Klarinettist, der gerade seine Kumpels verloren hat, weil sie von der anderen örtlichen Klezmerband erschossen wurden, in eine Party dieses Dorfes gerät und zeigt, dass er allein viel bessere Musik machen kann als die ganze Combo, die dort spielt. Sfar zeichnet diese Musik-Konkurrenz mit einer solchen Kraft und einem Schwung, einer Bewegung, dass man die Musik förmlich sehen kann, es ist kongenial. Ich erinnere mich, dass ich beim Lesen hin und weg war!
Weitere Infos über das Comic-Konzert unter www.itaydvori.com
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.