Die Welt in hundert Jahren – „Paris 2119“

1910 veröffentlichte der deutsche Journalist Arthur Brehmer eine Sammlung von Visionen seiner Zeitgenossen, wie die Welt in gerade-so-nicht-erreichbarer Zukunft aussehen werde: „Die Welt in hundert Jahren“. Zeppeline schwirren durch die Luft, Frieden überall, Handys prägen Leben der Zukünftigen und Erdbeeren sind so groß wie Orangen. Zep und Dominique Bertail haben dieses Experiment nun im Comic wiederholt, weitaus weniger kühn, das kann man vorwegnehmen.

Statt Hunden führt man Gürteltiere oder Ameisenbären an der Leine, per Gesichtserkennung sorgt der Staat für die dystopie-obligatorische Überwachungsstimmung (passend zu Gerd Conradts aktueller Dokumentation „Face it!“) und – dies ist der Kern der Geschichte – jede Überwindung räumlicher Distanz wird nicht mehr mit Bus und Bahn bewältigt, sondern mit Transcore, einem Teleportationssystem, das ganz anders funktioniert, als alle denken.

Zep (Autor), Dominique Bertaail (Zeichner): „Paris 2119“.
Schreiber & Leser, Hamburg 2019. 88 Seiten. 19,80 Euro

Die Erzählung folgt dem lederjackentragenden James-Dean-Lookalike Tristan Keys, den seine Partnerin Chloé einen Romantiker nennt, weil er mit moderner Technologie nichts anfangen kann und stattdessen Literatur und den öffentlichen Nahverkehr liebt – ein Exot in jeder Hinsicht. Durch einen sehr zufälligen Zufall kommt er dahinter, dass die vermeintlichen Teleportationen gar keine sind, sondern die Personen in den Transcorekammern kopiert und die Originale beseitigt werden. Wurde die Technologie einst eingeführt, um klimaneutrales Reisen für alle zu ermöglichen, hat sie nun ein totalitäres Regime unfreiwilliger Identitätsaufgabe installiert, in dem das Reisen keinen Wert mehr für sich darstellt. Tristan hat gegen die Macht des globalen Megakonzerns natürlich keinerlei Chance und muss hinnehmen, dass Chloés Gedächtnis bei einer erneuten „Teleportation“ teilgelöscht wird.

Der Schweizer Zep (Philippe Chapuis, „Titeuf“) erzählt den Plot sehr schnörkellos, damit aber auch etwas vorhersehbar und reichlich konstruiert. Es kommt etwas arg bemüht daher, dass der Konzernleiter von Transcore, Cornelius Copper, ein alter Freund von Tristan ist („Das ist ja ewig her!“) und Tristan ihm deshalb ganz offenherzig anvertraut, was dessen Firma hinter seinem Rücken treibt. Natürlich ist dieses Gespräch ein Schuss in den berühmten Ofen, weil Cornelius bestens Bescheid weiß, und nun geht der Ärger erst richtig los – das hätte man sicher mit mehr Subtilität erzählen können.

Die Pointe der duplizierenden Technologie erinnert an den Twist in Christopher Nolans „The Prestige“ (2006), der wiederum auf dem Roman „Das Kabinett das Magiers“ von Christopher Priest beruht. Davon abgesehen marschiert die Handlung sehr rasch voran und beschränkt die Ausgestaltung der zukünftigen Welt, ein Kernelement guter Science Fiction, auf wenige Seiten zu Beginn. Visionär ist diese Dystopie eigentlich nicht, wenngleich die Reisetechnologie als direkte Reaktion auf den Klimawandel beschrieben wird und damit nicht dichter an unseren aktuellen Debatten dran sein könnte.

Man hätte aber mehr daraus machen können, wie Konzerne (nicht Staaten oder Individuen) die Gesellschaft prägen und mit ihrer Technologie zugleich ein spezifisches Menschenbild befördern. Die Zeichnungen von Dominique Bertail, der zuvor zusammen mit Thierry Smolderen die fünfbändige Serie „Ghost Money“ verfasst hat, kleiden die Story in schöne Bilder, die den Comic zu keinem Leseerlebnis machen, aber doch zu einem Blickfang. Wer aber visionäre Zukunftsvisionen sucht, ist bei Brehmers Buch von 1910 sicherlich besser aufgehoben.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

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