Es ist wahr: Herkömmliche Pornografie schert sich selten um die Orte ihrer Inszenierung. Abgesehen davon, dass Pornografie meist von Männern für Männer gemacht wird, die sich „für gynäkologische Details“ interessieren, ist der Ort der pornografischen Handlung auch deshalb uninteressant, weil es selten um etwas geht, das dem Wort „Handlung“ im literarischen oder filmdramaturgischen Sinn gerecht würde. Reinstecken und Abspritzen, meist ins Gesicht der Frau. Darauf kommt es an.
Präziser gesagt, geht es beim Konfektionsporno um eine häufig macht- und unterwerfungsgesättigte, stets kompromisslos verkürzte Darstellung von Lust. Eine Lust, schreibt Svenja Flasspöhler in ihrem Buch „Der Wille zur Lust“, die anhand utopischer, erschöpfungsfreier Lustmaschinenkörper inszeniert wird und die es ausschließlich auf die Erregung des Konsumenten abgesehen hat. Dass dieser seine Erregung möglichst aufwandfrei ausagieren möchte, versteht sich von selbst. Eine interessante Geschichte mit detailverliebtem Setting stört ihn dabei nicht unbedingt – aber braucht es sie wirklich?
Orgien im Berghotel
Kommt darauf an, was man will. Vermutlich. Womit wir bei Melinda Gebbies und Alan Moores „Lost Girls“ wären. Im Mittelpunkt dieses explizit pornografischen Dreibänders steht das aquarellartig zart mit Buntstiften gezeichnete, recht fantasievolle Treiben in einem Hotel in den österreichischen Bergen unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Drei Frauen unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters treffen dort zufällig aufeinander: die resolute ungefähr sechzigjährige Alice aus der Oberschicht, Wendy, eine anfangs gehemmte junge Frau, und Dorothy, die jüngste – ein Lebenslust versprühendes Landei. Sie werden zu Sexgefährtinnen in diesem Mikrokosmos, der allemal mehr an Thomas Manns „Zauberberg“ erinnert als an Marquis de Sades zugemauertes Schloss in „Die 120 Tage von Sodom“. Betont lustvolle Beinahebeichten erlebter Vergangenheit wechseln mit erotischen Erlebnissen der Gegenwart. Wann immer sich die Möglichkeit für Sex bietet, lässt man ihr orgiastisch freien Lauf, weitere Hotelgäste und Angestellte eingeschlossen – wir haben es schließlich mit einem Porno zu tun.Gemessen am medialen Furor handelt es sich bei „Lost Girls“ um ein Comicereignis. Ein phänomenaler Hype ist um dieses Werk entbrannt, den es ohne die Person des englischen Comicautors Alan Moore nicht geben würde: Moore, dessen Arbeiten in Kooperation mit wechselnden ZeichnerInnen entstehen, ist seit den achtziger Jahren ein Garant für intelligent erzählte, auf moralische Fragen insistierende, meist ideologiekritische (Super-)Heldencomics. Seine ProtagonistInnen haben gern diesen ambivalenten Antiheldentouch; die fiktiven Welten ihrer Abenteuer sind historisch und soziologisch gut ausgearbeitet. Gewaltszenarien erscheinen bei Moore detailliert, doch selten reißerisch. Legendär sind Comics wie „Watchmen“, „V for Vendetta“ und „From Hell“. Kurz, Moore ist ein Großer unter den Guten.
Ars Erotica
Nun verteufelt heute in der öffentlichen Diskussion außer Alice Schwarzer zwar niemand mehr die Pornografie, als heikles Schmuddelgenre gilt sie aber immer noch. Dass sich Moore ihrer angenommen hat, ist durchaus eine Schlagzeile wert. Interessant auch, dass sich die Arbeit an „Lost Girls“ achtzehn Jahre hinzog. Und noch interessanter: Moore hat sie mit einer Frau realisiert, mit Melinda Gebbie eben, einer Künstlerin, die bereits in den siebziger Jahren in San Francisco feministische Comics zeichnete.
Vom heteromännlich konnotierten Konfektionsporno der Gegenwart unterscheidet sich „Lost Girls“ in zahlreichen strukturellen und inhaltlichen Aspekten. Die Bände erzählen Geschichten mal behutsam, mal plötzlich erwachender Sexualität und somit in mancher Hinsicht auch von ihrer Unterdrückung in der Vergangenheit. Homosexualität, insbesondere in ihrer lesbischen Variante, ist eine Spielart unter anderen. Sie kommen alle zu ihrem Recht – strenge, an sozialen Normen ausgerichtete Orientierungen werden von den Beteiligten mit lockerem Selbstverständnis außer Kraft gesetzt.Die fröhlich erregt gezeichneten Gesichter symbolisieren den Spaß am Sex; fragwürdige Machtkonstellationen und Gewaltaspekte spielen kaum eine Rolle. Erfreulich auch, dass das (fortgeschrittene) Alter in diesem Utopia sozialer Abgeschiedenheit kein Thema ist. So man will, kann man in „Lost Girls“ jene Ars Erotica durchschimmern sehen, die Michel Foucault in seinem Buch „Der Wille zum Wissen“ im von einer „scientia sexualis“-verseuchten Abendland so vermisste; auch Foucaults Bild von durcheinanderpurzelnden, „Rad schlagenden Körpern“ ergibt hier einen lebendigen Sinn. So weit, so bunt, so erfreulich anders. Dass auch „Lost Girls“ einer sehr vorhersehbaren Logik der Steigerung folgt, ist nun mal das Schicksal aller Pornografie.
Aber Gebbie und Moore wollen mehr. Sie wollen Pornografie von der genretypischen Trivialität befreien. Und setzen deshalb auf Sexszenen flankierende oder in geeignete Szenen eingebaute Zitate aus der Hochkultur: Vorhang auf für Egon Schiele, Igor Strawinsky, Guillaume Apollinaire, Oscar Wilde und viele andere. Bei den drei Protagonistinnen handelt es sich um in die Erzählgegenwart geholte, entsprechend gealterte Variationen literarischer Märchenfiguren: Alice aus „Alice im Wunderland“, Wendy Darling aus „Peter Pan“ und Dorothy Gale aus „Der Zauberer von Oz“. Die einander erzählten Kindheits- und Jugenderinnerungen sind pornografisch aufgepeppte Kommentare zu den Originalgeschichten.
Man kann sie interessant finden – all diese Anspielungen, prätentiös sind sie allerdings auch. Und tragen sehr viel weniger aus, als Moore und Gebbie lieb sein dürfte. Denn das Genre, in dem der mitlaufende literarische Text oder Subtext situiert wurde, heißt Pornografie. Mit ihrer detailfreudig inszenierten Drastik kopulierender Körper, einer Drastik mit offensichtlich zeitlosem Erregungspotenzial, stellt sie alle nichtpornografischen Handlungen mit der Kraft eines genitalen Bulldozers in den Schatten. Man erfreut sich an den Geschichten, dem detailverliebten Setting – fragt aber eigentlich die ganze Zeit: Wann kommt die nächste, noch geilere Sexszene? Dann drückt man sich die Nase platt.
Dieser Text erschien zuerst in: WOZ 32/2008
Michael Saager ist Publizist und Redakteur. Zahlreiche kulturjournalistische Texte u. a. in KONKRET, Jungle World, Taz, ND, Fluter, WOZ und Intro.