Die kanadische Provinz birgt düstere Geheimnisse: Streifenpolizist Don und Nori leben als Paar in einem abgeschiedenen Haus zusammen mit Dons Mutter, die so rasch bei einem Brand ums Leben kommt, dass wir ihren Namen gar nicht erst vermissen. Und das ist nicht das einzige Unglück innerhalb von etwa 24 Stunden, die Mikolajzak und Klein auf den ersten 32 Seiten erzählen. Wir erleben
– 1 versuchte Vergewaltigung
– 1 Brandstiftung mit Todesfolge
– 1 Unfall mit Kopfverletzung
– 1 Suizidversuch (gescheitert)
– 1 Prügelei mit disziplinarischen Folgen für Don
– 1 Tötung in Notwehr
– 2 PKW-Unfälle mit Totalschaden
Auf zwei Doppelseiten könnte man nun den Eindruck erlangen, Thailand wäre ein paradiesischer Ort, wie es auch die vier Schicksalsgefährten im Dialog diskutieren: „Ein Leben im Paradies.“ – „Gott hat Adam und Eva aus dem Paradies geworfen.“ – „Klar hat er das, Nori. Aber ich bin nicht Adam. Ich heiße Tony und Mel hier ist heißer als Eva je war.“ Der Dialog ist nicht gerade ein poetisches Highlight, und warum hier überhaupt auf die Vorstellung von Adam und Eva zurückgegriffen wird, bleibt ein Geheimnis. Christliche Vorstellungen von einem Paradies spielen in „Paradies“ kaum eine Rolle – ganz anders als der animistische Glaube in Thailand.
Zwar sind etwa 94 % der thailändischen Bevölkerung Buddhisten, dennoch ist der Glaube an eine sehr aktive Geisterwelt weit verbreitet. Als es in den 1950er Jahren bei einem Hotelbau in Bangkok zu einer Serie von Unglücksfällen kam, errichtete man kurzerhand einen Schrein zur Besänftigung der Geister, der noch heute im Alltag vieler Einheimischer (wie auch Touristen) eine große Rolle spielt, den „Eriwan-Schrein“. Vor vielen Häusern sieht man die San Phra Phum, die thailändischen Geisterschreine – und diesen finden wir auch in „Paradies“, ebenso wie einen Geisterbaum, der mit einer bunten Scherpe umwickelt ist.
Das gemeinsam angemietete Haus des Doppelpärchens steht unter keinen guten Vorzeichen, Michael Mikolajzak und Holger Klein zelebrieren ein Feuerwerk von Gruselmotiven, dass einem schwindelig wird. Sie zitieren das ganze motivische Horrorrepertoire von Poltergeistern, Werwölfen, Formwandlern und urzeitlichen Echsen (inklusive einer nicht-paradiesischen Würgeschlange), aber im Kern geht alles um Noris Trauma. Und am Ende wird alles schlecht. Und blutig. Und endet in einer gekachelten Zelle.Der Werbegrafiker Holger Klein hat seinen vierten Comic zeichnerisch begleitet. Nach „Kann denn Liebe Sünde sein?“ (Carlsen 1992, Autor: Thomas Kühn) hatte er dem Medium für lange Zeit den Rücken gekehrt, ist aber seit 2017 wieder künstlerisch aktiv. Zusammen mit Michael Mikolajzak hat er 2017 „Blutspur“ und nun „Paradies“ (beide Kult Comics) vorgelegt. Hatten sich die beiden mit „Blutspur“ noch auf Vampirhorror in Schwarzweiß fokussiert, bluten die Figuren in „Paradies“ nun in Farbe. Manche der düsteren Illustrationen sind außerordentlich sehenswert, auch wenn die Männer fast nur anhand ihrer Hosen zu unterscheiden sind.
Das eigentliche Problem von „Paradies“ ist die überladene Story. Hatte Michael Mikolajzak noch vor wenigen Monaten eine so begeisternde Adaption von E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ (Kult Comics, Zeichner: Jacek Piotrowski, Besprechung auf Comicgate) verfasst, ist ihm hier einiges aus den Fugen geraten. In der Konzeption eines Kammerspiels mit vier Akteuren mit so gegenläufigen Absichten sowie dem thailändischen Setting und dem regionalen Aberglauben lag einiges Potential für eine gute Horrorgeschichte – in der Umsetzung scheitert „Paradies“ leider an dem zu ambitionierten Versuch, sämtliche gängigen Horrormotive unter einen Hut zu bringen.
Als „horror vacui“ (dt. Angst vor der Leere) beschreibt man in der Ästhetik das Phänomen, dass Künstler sich bemühen, leere Flächen zu vermeiden und etwa mit Ornamenten zu füllen. Diese Angst scheint Mikolajzak und Klein bei der Arbeit an diesem Comic befallen zu haben. Das Tohuwabohu auf den ersten Seiten des Comics kann stellvertretend für den Rest der Handlung stehen, die gnadenlos mit Pentagrammen, Vollmonden und unheilvoll in Szene gesetzten Bluttropfen derart überfrachtet ist, dass es einem als Leser gruselt. Wirklich gruselt. Es befällt einen geradezu der Gedanke, darin könnte der wirkliche Horror dieses Comics begründet liegen: die Furcht vor der Überfülle, die auf der nächsten Doppelseite auf einen lauert: „horror abundatiae“ (dt. Angst vor der Fülle).
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.