„Die Ähnlichkeiten der Anliegen und der Kämpfe waren frappierend“

Die Comicanthologie „Movements and Moments“ erzählt von den Kämpfen indigener Feminist*innen aus dem globalen Süden: für Dekolonisierung und Umweltschutz genauso wie für ihr Recht auf Bildung und sexuelle Selbstbestimmung. Initiert wurde das Projekt vom Goethe Institut Jakarta, das 2020 einen Aufruf in verschiedensten Ländern des globalen Südens gestartet hat. Aus über 200 Einreichungen wurden 16 Geschichten ausgewählt, davon sind zehn im besagten Buch und alle 16 online zu finden. Indigene Künstlerinnen und Aktivistinnen aus Chile, Peru, Ecuador, Bolivien, Brasilien, Thailand, Vietnam, Nepal und Indien bis zu den Philippinen sind hier zusammengekommen, um aus ihrem Alltag, ihrer Geschichte, ihrer Kultur zu erzählen. Die Künstlerinnen stellen dabei diverse Bewegungen vor: etwa die anarchistischen Chola-Gewerkschafterinnen im Peru der 1920er, den brasilianischen Kampf für die Rechte indigener LGBTQIA+-Personen von den Anfängen der Kolonialisierung bis heute oder die Pflege bedrohter musikalischer Traditionen im vietnamesischen Hochland. In allen Geschichten spielen Themen wie der Kampf gegen die Zerstörung der Natur, z. B. durch die Errichtung von Wasserkraftwerken, für Bildung und für die Rechte aller sexueller und geschlechtlicher Identitäten eine zentrale Rolle. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit Herausgeberin Sonja Eismann mit freundlicher Genehmigung des Jaja Verlags.

Liebe Sonja, die forschst und schreibst als Journalistin seit vielen Jahren zu Feminismus und Populärkultur. Welchen Stellenwert nimmt der Comic für deine Arbeit ein? Was bedeutet dir das Medium und wie bist Comicleserin geworden?

Comics nehmen einen riesigen Stellenwert in meinem Leben ein – ob im beruflichen oder privaten Bereich. Denn seit mir während meines Studienaufenthalts an der University of California in Santa Cruz ob der Vielfalt der alternativen Comicszene fast die Augen aus dem Kopf gefallen sind und seit ich durch „Persepolis“ das Format der autobiografischen, politisch engagierten Graphic Novel entdeckt habe, bin ich in das Medium verliebt. Ich habe sogar während meiner Studienzeit in Wien mit einem guten Freund ein eigenes DIY-Comic-Fanzine gegründet. Denn obwohl ich mit Comics wie Asterix oder auch – via meiner Mutter – Claire Bretécher aufgewachsen bin, saß ich als Studentin der Vergleichenden Literaturwissenschaft lange Zeit dem populären Irrtum auf, Comics seien keine „legitime“ Literatur. Doch der Reichtum vor allem der nordamerikanischen Indie-Szene wie auch die beeindruckende französischsprachige Bande-Dessinée-Kultur haben mich zum Glück eines Besseren belehrt. Viele dieser Comics waren für mich in zweierlei Hinsicht eine Entdeckung: auf der subkulturellen Ebene, weil abseits von institutionalisierter Literatur großartige Werke geschaffen wurden, wie auch auf der politischen, da viele der von mir verschlungenen Comics explizit oder implizit feministische Inhalte hatten, die durch ihre Form und Zugänglichkeit für mich – und viele andere – relevante Themen auf popkulturell niedrigschwellige Weise ansprachen.

Gibt es eine traditionelle Verbindung zwischen Comic und feministischen Bewegungen? Auf welche kulturgeschichtlichen Wurzeln bezieht sich der feministische Comic?

Frauen haben von Anfang an eine wichtige Rolle im Comicgeschehen gespielt, als Schöpferinnen wie auch als Leserinnen, wurden aber, wie in so vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen, oft übersehen oder marginalisiert. Warum ich als Kind bzw. Jugendliche kein großer Fan von Comics war, hatte auch mit meiner frühen feministischen Sozialisation zu tun. Die weiblichen Rollen, die damals für mich in Mainstreamcomics sichtbar wurden, erschienen mir nicht attraktiv: Es gab auf der einen Seite das sogenannte „Schlumpfine-Problem“, dass also alle Rollen männlich besetzt sind und es nur diese eine, hoch stereotypisierte Sonderposition für die eine weibliche Figur gibt. Auf der anderen Seite befand sich die Sexualisierung von Superheldinnen, die in erster Linie dafür geschaffen sind, sexy auszusehen und von männlichen Protagonisten gerettet – oder wahlweise auch getötet und in den Kühlschrank gestopft zu werden, was der „Women in Regrigerators“-Trope (und später auch -Website), die sich auf eine Folge der Green-Lantern-Serie bezieht, den Namen gab. Daher gibt es in quasi negativer Weise eine Verbindung zwischen Feminismus und Comics, indem auf diese Sexismen hingewiesen wird, aber es gab natürlich immer schon eine wunderbare Vielfalt an spielerischen bis politischen Comics von und für Feminist*innen. Der Bechdel-Test aus Alison Bechdels Comicserie „Dykes to watch out for“ hat es bis in den Alltagsgebrauch und sogar bis in manche Institutionen geschafft! Heute gibt es eine so große Bandbreite an Comics mit feministischen Inhalten – teilweise mit riesigem Erfolg wie z. B. Pénélope Bagieus „Unerschrocken“ oder die Werke von Liv Strömquist –, dass die Auswahl für Interessierte riesig ist. Nachdem ich früher oft lange und in kleinen DIY-Comicstores nach feministisch relevanten Comics suchen musste, können Leser*innen heute auf einen riesigen Fundus zugreifen, der beständig wächst. Eine tolle Entwicklung!

Die Anthologie „Movements and Moments“ geht auf ein Netzwerkprojekt des Goethe-Instituts Indonesien zurück zum Thema Feminismus und Popkultur. Kannst du uns über die Anfänge des Unterfangens erzählen? Wie und wann schälte sich daraus dieses globale Comicprojekt hervor? Welche Rolle nahmst du dabei ein?

Im Jahr 2018 habe ich gemeinsam mit Anna-Maria Strauß, damals Leiterin des Kulturprogramms beim GI Jakarta, eine Studien- und Netzwerkreise von südostasiatischen, australischen und neuseeländischen Feminist*innen nach Berlin organisiert, zum Themeneschwerpunkt „Popkultur und Feminismus“. Das war ein extrem bereichernder Austausch, und im Februar 2019 gab es ein Nachfolgetreffen mit fast allen der Mitreisenden in Jakarta, um an die gemeinsam erarbeiteten Themen anzuknüpfen. Dabei stellte sich schnell heraus, dass es vor allem im südostasiatischen Raum an feministischen Archiven fehlt. So entstand die Idee, die Geschichten der feministischen Bewegungen zu dokumentieren, und zwar in der niedrigschwelligen Form von Comics, um so möglichst viele Personen zu erreichen. Anna-Maria Strauß erarbeitete gemeinsam mit mir einen Antrag auf Fördergelder, die glücklicherweise bewilligt wurden. Ich war im weitesten Sinne als Projektkoordinatorin tätig, gemeinsam mit Maya, Mitarbeitern des GI Jakarta im Kulturbereich, und dem Nachfolger von Anna Maria Strauß, Ingo Schöningh. Die beiden Mentorinnen stießen später zum Projekt dazu, nachdem wir die Wünsche der Teilnehmer*innen für eine optimale Projektbegleitung erfragt hatten. Sie begleiteten die Teilnehmer*innen durch den Prozess und gaben Feedback und Ratschläge zur Skript- und Storyboardentwicklung.

Wann und warum wurde in der Planung der Fokus auf den indigene Perspektiven und Künstlerinnen gelegt?

Zunächst gab es wie gesagt nur die Idee, feministische Bewegungen des globalen Südens zu dokumentieren, um sie vor dem Vergessen zu bewahren und ihnen mehr Sichtbarkeit zu verleihen. Uns wurde aber bald klar, dass das Projekt einen schärferen Fokus benötigte, denn es wäre wirklich vermessen gewesen, mit einem einzigen Projekt die Vielfältigkeit feministischer Bewegungen des gesamten globalen Südens abbilden zu wollen! Auch jetzt ist es noch unrealistisch, aber wir hoffen, damit zumindest den Anfang einer größeren Aufmerksamkeit für die indigenen Feminismen geschaffen zu haben. Denn diese sind unserer Meinung nach mit ihrem Fokus auf Ökologie, Bildung, LGBTIQA+-Rechte, Arbeitsbedingungen sowie der Weitergabe matrilinearer Traditionen wegweisend für die gesamte feministische Bewegung derzeit.

Was kannst du uns über das Auswahlverfahren berichten? Wie kamt ihr auf die im Buch versammelten Künstlerinnen? Was hat euch an den ausgewählten Arbeiten überzeugt?

Es gab einen Open Call mit 218 Einsendungen von 325 Personen aus 42 Ländern. Natürlich stand für uns die künstlerische Qualität im Vordergrund, was aber nicht bedeutet, dass wir nur etablierten Comic Artists Vorrang gegeben haben, sondern auch im Comic unerfahrenen Illustrator*innen, die uns durch ihnen originären, innovativen Stil überzeugt haben. Aber mindestens ebenso wichtig war die Relevanz der erzählten Geschichte bzw. der Bewegung oder Person. Wir haben darauf geachtet, nicht nur die „größten“ Bewegungen zu bedenken oder nur jene, die bereits bekannt sind, sondern eine Mischung aus ikonisch verehrten Figuren wie Dolores Cacuango aus Ecuador und weitgehend unbekannten Aktivist*innen wie Millaray Huichalaf aus Chile zu finden. Selbstverständlich war es uns auch ein Anliegen, möglichst alle Regionen des globalen Südens zu berücksichtigen, was leider im Fall des afrikanischen Kontinents nicht geklappt hat. Die Geschichte aus diesem Kontinent musste aus politischen Gründen, konkret aus Angst vor Repressionen und Inhaftierung im Falle einer Veröffentlichung, während des Prozesses von den Autorinnen zurückgezogen werden.

Im Vorwort schreibst du, dass einer der Gründe für das „Movements“-Projekt war, dass feministischen Bewegungen oft eine Archivierungsmöglichkeit fehlt. Selbst erfolgreiche Kampagnen geraten irgendwann in Vergessenheit, wenn niemand sie historisch bewahrt. Das scheint auch ein Kernelement vieler indigener Kämpfe zu sein – die eigene Geschichte bewahren. In vielen der Comic-Geschichten in „Movements“ geht es um den persönliche oder kollektiven Erhalt der eigenen Geschichte. Wie wichtig ist historische Arbeit für indigene (feministische) Bewegungen? Vor welche Herausforderungen sind sie dabei gestellt?

Genau, es geht ihnen wie vielen sozialen Bewegungen, die vor dem Problem stehen, in institutionalisierten Geschichtsschreibungen mit ihren Kämpfen schlicht nicht vorzukommen. Indigene Gemeinschaften des globalen Südens trifft dieses Problem ungleich härter, denn ihre Geschichte ist nicht nur durch die Gewalt der Kolonialisierung dethematisiert oder gar ausgelöscht worden, sondern sie werden auch innerhalb postkolonialer Gesellschaften nach wie vor marginalisiert – und lehnen sich nun immer stärker dagegen auf. Zudem sind sie so stark wie wohl keine andere gesellschaftliche Gruppe von protokolonialen Ausbeutungsformen betroffen, wie die Geschichten, die die Kämpfe gegen Staudämme, die z. B. norwegischen Unternehmen gehören, in unseren Band eindrucksvoll darlegen.

Die Beiträge im Buch stammen aus dem globalen Süden, aber von zwei unterschiedlichen Erdteilen – aus Lateinamerika und Asien. Viele der Erfahrungen, die die Künstlerinnen in ihren Geschichten beschreiben, scheinen auf beiden Kontinenten dieselben zu sein, die Verdrängung, die Armut, die Gewalt, aber auch die Selbstorganisation, der Kampf um die eigene Kultur. Was verbindet all diese Geschichten?

Ja, die Ähnlichkeit der Anliegen und Kämpfe war für uns alle im Projekt frappierend, wenn auch nicht überraschend. Denn die Auswirkungen des Kolonialismus und der fortdauernden Ausbeutung durch Länder des Nordens ähneln sich in deprimierender Weise, wie auch Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts, mangelnde Bildungschancen, Arbeitsausbeutung oder Diskriminierung aufgrund sexueller Identitäten oder Orientierungen. Die Geschichten verbindet der unbedingte Wille, diese Zustände nicht länger hinzunehmen und an eine lange Tradition von Kämpfen dagegen anzuknüpfen bzw. diese erst sichtbar zu machen.

Es gibt viele politische Geschichten in „Movements“, wie die von Vanessa Peñuela und Cesar Vargas über die Gewerkschaftsarbeit der Cholas in Bolivien, aber auch Erzählungen über Musik, Tanz und die Kunst des Geschichtenerzählens. Ist darunter eine Geschichte, die dich besonders berührt und überrascht hat?

Mich hat vor allem berührt, mit welchem unglaublichen Engagement die Teilnehmer*innen das Projekt angegangen sind – und wie wichtig ihnen der ethische Umgang mit dem Wissen und den Traditionen der von ihnen porträtierten Gemeinschaften war, egal, ob sie ihnen selbst angehören oder nicht. Der Mut der anarchistischen Cholas hat mich unglaublich beeindruckt, zumal mir dieses Kapitel bolivianischer Geschichte bis dahin unbekannt war, aber auch das Schicksal von Shanti aus Nepal, die sich trotz entsetzlich schwieriger Lebensumstände zu einer erfolgreichen Autorin und Community-Bildnerin entwickelt hat, hat mich sehr berührt. Aber es fühlt sich wirklich falsch an, hier einzelne Geschichten herauszupicken, denn jede ist einzigartig – nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch – und jede hat mir die Augen für Bewegungen und Protagonist*innen geöffnent, von den ich vorher viel zu wenig wusste.

Sonja Eismann, Maya und Ingo Schöningh (Hg.): „Movements and Moments. Indigene Feminismen“. Jaja Verlag, Berlin 2022. 316 Seiten. 27 Euro