Sinn blockiert – „Androiden 6: Die Deserteure“

Alles ist gut. Dieses Mantra kann man sich derzeit, während man an der Supermarktkasse durch eine Plastikscheibe zu Menschen mit Mundschutz sprechen muss, nicht oft genug sagen. Alles ist gut. Das Gute an der Science-Fiction-Vision, die Autor Christophe Bec und Zeichner Erion Campanella Ardisha im sechsten Band der „Androiden“-Serie („Die Deserteure“) entwerfen, ist, dass es die Erde im Jahr 2217 noch gibt. Weihnachten auch. Alles ist gut. Beinahe.

In der Rahmenhandlung begleiten wir eine vierköpfige Familie beim fröhlichen Weihnachtsshopping. Die Kinder fahren auf das militaristische Spielzeug ab, den Eltern gefällt es, dass ein Teil des Verkaufserlöses in die militärische Fließbandproduktion geht. Während die Kinder den seelenlosen Versprechungen einer auf Wachstum kalibrierten Konsumindustrie erliegen, gefallen die Eltern sich als Retter der Menschheit. Alles ist gut. Denn während die Kleinfamilie zwischen den Regalen vor Freude im Kaufrausch tobt, wütet auf einem anderen Planeten ein Krieg um das Überleben der Menschheit (so sehen das die Menschen) oder um das Überleben der telepathischen Riesenmantas … ja, genau: Riesenmantas.

Machen wir es kurz: Das Weltall ist klein, und irgendwo kommt es zu Ärger – viel ausführlicher erzählt Bec es übrigens auch nicht –, sodass Menschen und Alien-Mantas sich irgendwo zum Raufen treffen, um auszufechten, wer der Chabo und wer der Babo ist. Um den Kampf ausgeglichener zu gestalten, schicken die Menschen Androiden ins Feld. Alles wird gut.

Christophe Bec (Autor), Erion Campanella Ardisha (Zeichner): „Androiden 6 – Die Deserteure“.
Aus dem Französischen von Swantje Baumgart. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 56 Seiten. 16 Euro

Um die Schlagkraft der Armee zu erhöhen, lassen die Menschen künstliche Krieger von der Leine und ermöglichen ihnen, sich unabhängig von den Befehlshabern zu entwickeln: Sie erfahren Autonomie per Update und Reboot. Zwei der Roboter beschließen daraufhin, sich unerlaubterweise von der Truppe zu entfernen, um nicht länger als Kanonenfutter gegen die mächtigen Mantas zu dienen.

Die beiden Androiden bleiben so gesichts- wie seelenlos. Vielleicht auch, weil Bec ihnen zwar die Urteilskraft von Menschen, aber die Sprachbegabung eines 90er-Jahre-Navigationssystems verleiht: „Spalte ist eng und tief! – Ziel blockiert. – Windgeschwindigkeit … 233 km/h. Manta in 325 M.“ Weder taugt das irgendwie der Lektürefreude noch verleiht es den Figuren das, was sie ja eigentlich auszeichnen soll: Persönlichkeit. Und als die beiden sich in eine pseudophilosophische Pseudounterhaltung vertiefen, wird es fast noch schlimmer: „Woher kommen wir? Aus dem Nichts? – Wenn wir aus dem Nichts kommen … wie ist es dann möglich, dass du da bist?!“ Immerhin beschränkt Bec diesen Versuch, dem flachen Geschehen Tiefe zu verleihen, auf gerade einmal eine Seite, bevor die beiden Deserteure wieder den Charme von Kaffeevollautomaten zurückerlangen. Warum sie eigentlich desertierten? Das bleibt ein Rätsel.

Christophe Bec ist auf der erzählerischen Langstrecke überaus erfolgreich: Seine vielbändigen SF-Serien „Prometheus“ (19 Alben) und „Carthago“ (9 Alben) sind in Frankreich wie Deutschland außerordentlich beliebt. Seine Fähigkeit, durch Andeutungen und dubiose Verschwörungszusammenhänge Spannung aufzubauen, macht seine Comics zu umsatzstarken Pageturnern, wenngleich die Geschichten einigermaßen austauschbar bleiben. Auf der narrativen Sprintstrecke aber hinkt er hinterher: Der interplanetare Konflikt in „Die Deserteure“ wird rasch zur Nebensache, und Bec kann sich auch nicht entscheiden, ob die Jagd der Menschen auf die abtrünnigen Androiden zum neuen Kernkonflikt werden soll oder deren Entwicklung – wenn sie eine hätten. Leider haben weder die Menschen, die Androiden noch die Mantas erkennbare Motive und Sehnsüchte oder werden in irgendeiner Form als Individuen erkennbar.

Die detailfreudigen Zeichnungen von Erion Campanella Ardisha fokussieren auf die Figuren, manche Szenerie überrascht hingegen, wenn Landschaftsteile wie Fremdkörper in einer sehr plastischen Umgebung wirken. Da sind die Eislandschaften in Becs Serie „Siberia 56“, die Alexis Sentenac zeichnet, schon eindrucksvoller. Überhaupt leben Becs Storys von Überwältigungen: monumentale Landschaften, gigantische Verschwörungen und tiefreichende Mysterien. In „Die Deserteure“ gelingt ihm das nicht. Im Rahmen dieser sonst sehr erfreulichen Science-Fiction-Serie, die seit 2017 bei Splitter erscheint, ist dieser Band der vermutlich schwächste. Die Alben sind unabhängig voneinander und stammen von verschiedenen Autoren: Wer einen Blick in den zweiten („Glücklich wie Odysseus“) oder fünften Band („Synn“) wirft, wird einen besseren Eindruck der Reihe erhalten. Alles wird gut.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Androiden Band 6“ (Splitter Verlag)