„Ich habe viel Wert darauf gelegt, meine Figuren ordentlich schauspielern zu lassen“

„Bei mir zuhause“ ist autobiografische Slice-of-Life-Erzählung über Liebeskummer, Fressflashs, Philosophie und Psychedelika – es geht ums Banale und ums große Ganze, um Hedonismus und politisches Aufbegehren, um Achselhaare und AfD. Vor allem aber steht das Konzept „Zuhause“ im Mittelpunkt. Zuhause, das ist Paulinas Dachgeschosswohnung in Darmstadt, aus deren Fenster sie das Leben beobachtet. Zuhause, das ist ihr soziales Miteinander, das sich verformt und sich ihr entzieht, je mehr sie danach strebt. Zuhause, das ist ein flüchtiges Gespräch zwischen zwei Fremden, das wochenlang nachhallen kann. Zuhause, das ist diese komische Land, in dem sie wohnt, das oft hässlich und abweisend sein kann. Zuhause ist der eigene Körper, mit dem man ständig im Clinsch zu stehen scheint. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Jaja Verlags.

Liebe Paulina, Glückwunsch zu deiner neuen Veröffentlichung und vielen Dank, dass du ein bisschen von deiner Zeit für unser Gespräch abknapst. Kannst du uns eingangs etwas über dich und deinen Einstand als Comiczeichnerin erzählen? Wie bist du auf das Comicmedium gekommen, was macht für dich den Reiz des Comics aus?

Herzlichen Dank und sehr gerne! Zum Comicmachen bin ich 2008 während meines Kommunikationsdesignstudiums über Scott McClouds Bücher gekommen und habe es seither zu meinem primären künstlerischen Ausdrucksmittel erkoren. Es ist einfach bestens dafür geeignet, ein dringendes Bedürfnis von mir zu stillen, nämlich Gott zu spielen. Dieses Bedürfnis reicht zurück in meine frühe Kindheit, in der ich zwar auch schon gezeichnet, aber noch lieber als alles andere mit Barbies selbstausgedachte Geschichten aufgeführt habe. Diese Leidenschaft fand ein jähes Ende, als meine damalige beste Freundin eines Tages befand, mit Puppen spielen sei was für Babys, was mich so sehr beschämte, dass ich damit aufhörte. Im Comic fand ich dann Jahre später eine unvergleichlich zufriedenstellende Erfüllung dieses Drangs, mir einen Reim auf die Welt zu machen, indem ich selbst eine schaffe, in der alles nach meiner Pfeife tanzt.

In deine zweite Comicveröffentlichung, „The Right Here Right Now Thing“, hast du eine Szene eingebaut, in der die Protagonistin Partei für den Comic ergreift und einem jungen Mann mit Ressentiments gegen Comics, aber wenig Auskenne über das Potential des Comics erzählt. Ist das eine Situation, die du als Zeichnerin noch oft erlebst? Oder hast du eher den Eindruck, dass sich die Sicht auf Comics als Kunstform in der Gesellschaft und der Kulturindustrie zum Besseren wandelt?

Mir scheint, dass Comics im Vergleich zu Malerei oder bildloser Literatur zwar immer noch als minderwertiger wahrgenommen werden, aber zumindest haben viele inzwischen mal über ein paar Ecken davon gehört, dass es noch mehr als Micky Maus, Asterix und Batman gibt. Was mich jedoch immer einen Tick mehr auf die Palme bringt als das Ressentiment, dass Comics oberflächliche Unterhaltung für schlichte Gemüter sind, ist, dass Leute, wenn sie erfahren, dass ich zeichne, automatisch davon ausgehen, dass ich Kinderbücher illustriere. Daher rührt auch ein gewisser Trotz, der mich befeuert, mit besonderem Elan Erwachsenenthemen wie Sex, Drogen und Politik zu behandeln.

Du bist eine Autorin, die in ihren Comics sehr stark ans eigene Leben angelehnt erzählt. Kannst du uns etwas über deinen Schreibprozess verraten? Bist du immer auf der Suche nach Geschichten in deinem Alltag? Oder ist das ein unterbewusster Prozess? Und welche Rolle spielt dabei das Verhältnis zwischen Fiktion(alisieren) und wirklich Erlebtem? Bist du mit den Jahren „autobiografischer“ in deinem Erzählen geworden?

Das wichtigste Element meines Schreibprozesses ist das Tagebuchschreiben. Es ist das Grundlagenforschungslabor, in dem mein Stoff entsteht. Es hilft mir, das diffuse Gedankenbündel hinter meinen Augen vor meine Augen zu holen. Sobald es mir in Wort und Bild gegenübersteht, kann ich mich damit auseinandersetzen, es modulieren, hier und da zurechtzupfen, über Zeit hinweg Muster erkennen und schließlich den uninteressanten Kram wegkürzen.

Ich bin in der Tat von Buch zu Buch „persönlicher” geworden und führe diese Entwicklung auch in meinem aktuellen Projekt fort, in dem ich meine Tagebücher seit 2017 transkribiere, in literarische Form bringe und gedenke, daraus mein erstes reines Buchstabenbuch zu machen.

Ich sehe das schon ein bisschen wie eine Mutprobe, es mit der Ehrlichkeit so weit zu treiben, wie es nur geht. Der Kampf mit meiner Schamhaftigkeit und der Sorge um meinen Ruf, der selbstverständlich damit einhergeht, begreife ich als notwendige Phase, um künstlerisch zu reifen und in meiner Menschwerdung voranzukommen. Endstation Narrenfreiheit.

Paulina Stulin (Autorin und Zeichnerin): „Bei mir zuhause“.
Jaja Verlag, Berlin 2020. 612 Seiten. 35 Euro

Zeichnerisch wirkst du in deinem neuen Buch freier und wilder als in „The Right Here Right Now Thing“, der Strich ist loser, die Farben satter, vor allem in den Stadtimpressionen, die als Zäsuren zwischen die Erzählblöcke eingebaut sind. Du arbeitest digital, oder? Kannst du uns etwas über deinen Zeichenstil hier erzählen? Welchen Reiz wolltest du bei deinen Leser*innen auslösen?

Das Zeichnen ohne Outlines habe ich mir schon bei meinem letzten Comic bei Jennifer Daniels abgeguckt. Es hat so was unmittelbares, den Blick willkommen heißendes und kommt der tatsächlichen visuellen Wahrnehmung näher, in der wir Dinge ja auch nicht durch Linien, sondern durch kontrastierende Flächen voneinander abgegrenzt sehen.

Die Wahl dieses dynamischeren Zeichenstils hat sich an meinem Bedürfnis orientiert, Eindrücke und Lebensgefühle, wie der Emo-Kater an einem grauen Sonntagnachmittag, die Aufbruchsstimmung beim Beginn einer Reise oder das holde Funkeln, das sich über alles legt, wenn man verliebt ist, stärker als zuvor ganzheitlich und lebensnah wiederzugeben.

Großen Einfluss hat auf mich die „New Barbizon School” ausgeübt, das ist eine Gruppe von Maler:innen aus Tel Aviv und St. Petersburg, die den Impressionismus auf eine zeitgenössische Weise wiederbeleben, was zu außerordentlich schönen und angenehm irritierenden Seherfahrungen führt, wenn man z. B. in Laptoplicht getauchte Gesichter oder High-Tech-Baustellen in einer Maltechnik dargestellt sieht, die man gewohnheitsmäßig mit Seerosen verbindet.

Ich habe in „Bei mir zuhause“ auch bewusst mehr als zuvor abstrakte Elemente einfließen lassen, um z. B. mein subjektives Empfinden, wie es sich anfühlt, eine Vollnarkose zu bekommen, eindringlicher nachspürbar zu machen. Zudem habe ich beinahe gänzlich auf Fotovorlagen verzichtet, um mich dazu zu triezen, Orte genau so zu zeichnen, wie sie in meiner Erinnerung geblieben sind. Und vor allem, um eigene Bilder zu schaffen, keine Second-Hand-Erfahrung wiederzugeben.

Seite aus „Bei mir zuhause“ (Jaja Verlag)

„Bei mir zuhause“ ist sicherlich ein absolutes Ausnahmebuch – eine intensive, emotionale Reise durch die Innenwelt einer jungen Frau auf über 600 farbigen Seiten. Wie kam es überhaupt zu diesem Projekt? War das von Anfang an als Buch in dieser Länge geplant? Oder hat sich das organisch über die Entstehungszeit so entwickelt? Was hattest du dir für den Comic vorgenommen, als du mit den ersten Zeichnungen losgelegt hast? Und hat sich das jetzt für dich erfüllt?

Dem Anfang ging, wie bei jedem meiner Projekte, zweierlei voraus: erstens eine durch meine Vorbilder geweckte Motivation, etwas zu kreieren, das andere auf eine Weise berührt, wie deren Werke mich berührt haben, und zweitens eine Vision.

Ich saß im Spätsommer 2014 auf meinem Balkon, sinnierte über dies und das und blätterte plötzlich vor meinem inneren Auge ein Buch durch. Es strotzte vor Farben und zeichnete sich durch ein rhythmisches Wechselspiel zwischen text- und bildlastigen Passagen aus, sodass man sich nach einem Teil intensiver Laberei in wortlosem Schweifen in Atmosphären ausruhen konnte, bis man wieder Lust auf Text bekam. Wie auf einer Reise mit einer guten Freundin. Diese Vision galt es von da an umzusetzen, und so öffnete ich im Januar 2015 ein Textdokument mit dem sehr konkreten Vorhaben, ein richtig dickes Ding zu drehen.

Es zeichnete sich relativ früh ab, dass es Tagebuchcharakter annehmen würde, was dazu führte, dass ich einen besonderen Jägerblick auf meinen Alltag entwickelte. Interessante Erlebnisse freuten mich dementsprechend in zweierlei Hinsicht: weil sie mich in meiner Persönlichkeitsentwicklung voranbrachten und weil sie gute Beute zum künstlerischen Verwursten waren. Sehr trostreich in vieler Hinsicht, dieser Blick, da er mich befähigte, auch über unangenehme Erfahrungen dankbar zu sein, denn bei allem Ungemach waren sie ja zumindest „gutes Material”.

2017 kam dann ein großer Umbruch. Mir wurde klar, dass ich ewig brauchen würde, wenn ich in dem Tempo weitermache, und so entschloss ich mich zu einem neuen Ernst der Sache gegenüber. Ich begann, mein Leben so umzuorganisieren, dass ich so viel Zeit und Energie wie möglich ins Schreiben und Zeichnen einfließen lassen konnte, was in einer sehr strikten Tagesplanung und weitgehendem Pausieren meines sozialen Lebens abseits meiner Lohnarbeit mündete. Der Begriff „Kunstkloster” trifft es ganz gut. Die Arbeit am Comic war für drei Jahre der absolute Mittelpunkt meines Lebens, der Götze, dem ich jeden Tag, mal stoisch, mal quengelig, aber immer ergeben diente.

Doppelseite aus „Bei mir zuhause“ (Jaja Verlag)

Dass es seitenstark werden würde, war schon in der Vision vorgesehen, aber der Umfang ist dann noch mal in ungeahnte Dimensionen ausgeartet. Ich erinnere mich noch sehr lebendig an einen Moment Ende 2018, in dem ich das stetig länger werdende Dokument begutachtete, in dem meine Skizzen versammelt waren, und gut darüber staunte, dass es über die Zeit auf 560 Seiten angewachsen war. Da merkte ich plötzlich, dass das ja gar nicht 560 Seiten, sondern 560 Doppelseiten, also insgesamt 1120 Seiten waren, und ich verschluckte mich fast angesichts dieser absurd hohe Zahl. Von da an wurde rigoros gekürzt und zurechtgestutzt, bis nur noch das übrig blieb, was nun zwischen zwei Buchdeckeln gelandet ist.

Und ja, meine Vision hat sich genau so erfüllt, wie ich mir das vorgestellt habe. In dem Moment, als mir meine Verlegerin ein Video vom durchgeblätterten Buch schickte, legte sich der größte Seelenfrieden überhaupt über mich und ich war einfach nur glücklich und baff darüber, dass meine Spinnerei von vor ein paar Jahren wirklich geworden ist.

Im Zentrum von all den Geschichten, die du in „Bei mir zuhause“ sammelst, steht tatsächlich dein Zuhause, deine Wohnung in Darmstadt, in der du schon seit Jahren lebst. Das Buch ist eine spannende Kontemplation all der Bedeutungsebenen des Wortes „Zuhause“, von der Suche nach einem Fixpunkt im Leben, davon, wie wir Wohnungen, Städte, soziale Bindungen mit Bedeutung aufladen, um uns selbst Halt zu geben. Warum hat dich dieses Thema so umgetrieben?

Rückblickend würde ich sagen, dass der Wunsch mich mit dem Thema Zuhause zu beschäftigen, aus einem Gefühl der Verlorenheit geboren wurde. Die ist mit Vollendung dieses Projekts zwar spürbar weniger geworden, aber die Ursehnsucht nach einem Zustand der absoluten Geborgenheit, nach einem Paradies, in dem man sich sicher fühlt und in dem nichts fremd ist, ist natürlich geblieben und wird wohl nie ganz verschwinden.

Von dem Moment an, als es feststand, kam mir das Thema überall entgegen: in Liedzeilen, philosophischen Metaphern, Redewendungen usw., so wie wenn man überall schwangere Frauen sieht, wenn man vermutet, selbst schwanger zu sein. Ich habe mich nun 5 Jahre damit auseinandergesetzt und meine, gerade mal begonnen zu haben, dessen Tragweite zu erfassen. Interessant ist ja auch, wie es im Zuge der Pandemie für uns alle noch mal eine neue Bedeutung gewonnen hat.

Doppelseite aus „Bei mir zuhause“ (Jaja Verlag)

Eine meiner Lieblingsinterpretationen ist die des „ozeanischen Gefühls”, indem man sich sozusagen im ganzen Universum heimisch fühlt. Diese spezielle Weise des Zuhauseseins darzustellen, war Ziel der Episode, in der mich nachts nacktbadend auf MDMA gezeichnet habe.

Außerdem gewann ich durch intensive Hermann Schmitz-Lektüre, die meinen Arbeitsprozess maßgeblich beeinflusste, eine neue Sicht auf meinen Leib und würde inzwischen ihn als meine erste Adresse angeben.

Bisweilen hat mich „Bei mir Zuhause“ an die Filme von Richard Linklater erinnert, der sich in seinen oft improvisierten Dialogen die Zeit nimmt, ein zwischenmenschliches Gespräch in all seinen Facetten, Widersprüchen und vor allem seiner ganzen Dauer festzuhalten und es nicht nur auf seine Essenz einzudampfen. Du nimmst dir auch viel Zeit für deine Figuren, lässt sie seitenlange Gespräche führen, zeigst, wie sich Argumente bilden oder verpuffen, wie Gespräche entgleisen, Worte versagen… Wie gehst du vor, wenn du solche Szenen entwirfst, was ist dir dabei wichtig?

Freut mich sehr, dass du dich an Richard Linklater erinnert fühlst. Er ist mir in der Tat eine große Inspiration und seine Art, Unterhaltungen zu inszenieren, war eine große Offenbarung für mich. Dass sich jemand traut, Gespräche so darzustellen, wie sie wirklich sind, mit all ihren angefangenen Sätzen, Ausuferungen und nicht-linearen Verläufen, das hat mich umgehauen. So ungehetzt und trotzdem nicht langweilig. Genau wie du sagst, verwendet er Dialoge nicht als bloßes Informationsvehikel, in denen auf möglichst effiziente Weise kommuniziert wird, was nötig ist, um den nächsten Plotpoint zu verstehen. Er versteht sie eher als einen Spaziergang, bei dem der Weg das Ziel ist.

In einem Interview habe ich übrigens aufgeschnappt, dass Linklaters Dialoge gar nicht improvisiert, sondern sie bewusst so geschrieben und gespielt werden, dass sie wie aus dem Leben gegriffen wirken. Das war auch mein Anspruch bei dem Buch: Es soll sich „wie in echt” anfühlen, dieser Anschein ist aber natürlich bis ins feinste Detail geplant.

Lange Gespräche visuell reizvoll darzustellen, war ein eine Herausforderung für sich. Um ein monotones Hin und Her sprechender Köpfe zu vermeiden, war es mir wichtig, gerade bei den textreichen Parts spannungsvolle Seitenkompositionen zu schaffen.

Doppelseite aus „Bei mir zuhause“ (Jaja Verlag)

Die Paulina aus deinem Comic ist ein Mensch, der ständig mit sich selbst im Zwiegespräch ist, an sich arbeitet, sich oft im Spiegel ansieht und sich selbst analysiert. Sind das Eigenschaften, die du mit deiner Protagonistin teilst? Und ist das autobiografische Comiczeichnen für dich auch eine Art der Selbstauseinandersetzung? Hilft dir das Erzählen und das Zeichnen, dich und deine Welt besser zu verstehen?

Ein großes und eindeutiges Ja zu allem. Reflexion ist eines meiner Hauptthemen und zieht sich sowohl durch mein ganzes Leben als auch durch den Comic. Im Grunde ist alles, was ich neben dem Notwendigen treibe, ein Versuch, das Chaos, das ich bin, zu verstehen. Seit ich denken kann, erschüttert mich mindestens einmal am Tag die schiere Tatsache meiner Existenz, von den Umständen, in die sie eingebettet ist und ihren rätselhaften Spielregeln ganz zu schweigen. Kunstmachen und -konsumieren hat sich für mich als die hilfreichste Technik erwiesen, mit dieser Fassungslosigkeit klarzukommen. Wie ich mich auch schon im Comic sagen lasse: „Kunst ist das einzig echte im Leben.”

Ein anderer Beweggrund, mich kritisch und selbstkritisch mit mir und meiner unmittelbaren Umgebung auseinanderzusetzen, war, dass ich den Anspruch hatte, anhand meiner höchstpersönlichen Erfahrung zu illustrieren, wie es sich anfühlt, in die neoliberale Ära in Mitteleuropa hineingeboren worden zu sein. Permanenter Leistungsdruck, krampfhaftes Besondersseinwollen, Durchoptimierung aller Lebensbereiche, so was. Bin schon sehr gespannt, mit welchem Blick Leser:innen in zehn Jahren auf die Normalität, die ich in dem Buch abbilde, blicken werden.

Ich hatte beim Lesen dein Eindruck, dass dir menschliche Mimik sehr wichtig ist. Du arbeitest nicht mit feinen Konturen und trotzdem haben deine Figuren eine Myriade an unterschiedlichen Gesichtsausdrücken, man könnte deine Gesprächsszenen fast ohne die Textebene verstehen, einfach anhand der Mimik deiner Figuren. Wie schwierig ist es, in Zeichnungen Emotionen einzufangen?

Gefühle in Gesichter zu meißeln, erfordert tatsächlich einen aufmerksamen Blick für das Spiel der Mundwinkel, Augenbrauen, Hände und Körpersprache insgesamt. Ich habe, wie du sehr richtig beobachtet hast, viel Wert darauf gelegt, meine Figuren ordentlich schauspielern zu lassen.

Eines meiner wichtigsten Hilfsmittel dafür war der Handspiegel neben meinem Grafiktablett, in den ich so lange Grimassen schnitt, bis ich eine fand, die das ausstrahlte, was ich sagen wollte. Oft war es auch notwendig, dass ich mich probeweise in verschiedene Posen begab, um herauszufinden, welche Körperhaltung dem Inhalt am stimmigsten Ausdruck verleiht. Wenn ich sie dann gefunden hatte, versuchte ich mir bestmöglich einzuprägen, wie sie sich anfühlt, eilte zum Grafiktablett zurück und zeichnete die Figur aus diesem motorischen Gedächtnis. Und wohlgemerkt musste ich ja nicht nur eine Rolle spielen, sondern mein gesamtes Personal, was von mir z. B. abverlangte, mich in Streitgesprächen abwechselnd in meine Position und die meines Gegners hineinzuversetzen. Das ganze Buch ist also ein riesiges Selbstportrait.

Seite aus „Bei mir zuhause“ (Jaja Verlag)