Das Herz auf der Zunge, die Därme über der Hose

Weil es am Ende des Corona-Jahres erschien, droht ein Comic-Kleinod zwischen den Lockdown-News und steigenden Fallzahlen unterzugehen: Mit „Little Bird“ von Darcy van Poelgeest, Ian Bertram und Matt Hollingsworth wurde von Cross Cult kürzlich ein anspruchsvoll erzähltes und visuell begeisterndes Meisterwerk veröffentlicht, das in keiner Jahresbestenliste fehlen sollte.

Darcy van Poelgeest (Autor), Ian Bertram (Zeichner), Matt Hollingsworth (Kolorist): „Little Bird – Buch Eins: Der Kampf um Elder’s Hope“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Peter Schadt. Cross Cult, Ludwigsburg 2020. 208 Seiten. 35 Euro

In einer Jahrtausende entfernten Zukunft haben katholische Fundamentalisten die „Vereinten Nationen von Amerika“ unter ihre rigide Herrschaft gebracht, und nur ein paar kanadische Widerständler stellen sich dem säbelrasselnden Regime entgegen. Gut und Böse sind auf der moralischen Landkarte schnell verortet: In „Elders Hope“ versammeln sich die kanadischen Rebellen zum letzten Gefecht, während sich im „New Vatican“, dem ideologischen Zentrum des katholisch-amerikanischen Hoheitsgebietes, die Kräfte des Üblen versammeln. Dieser Vatikan ist wirklich nicht mehr das, was er einmal war…

Der Bösewicht der Geschichte, nach seiner Funktion „Bischof“ genannt, wird nach seinem erfolgreichen Feldzug gegen die Rebellen zum Sprachrohr des christlichen Glaubens und bemüht sich, als „Stellvertreter Christi“ seine Schäfchen im rechten Glauben zu unterweisen – und zwar ebenso effektiv wie pandemiekonform via Massenmedien. Die Gesellschaft leidet nicht nur an blindem Gehorsam, gewaltvoller Unterdrückung und herrschaftlicher Doppelmoral, sondern auch an einer sich ausbreitenden Krankheit, die der Bischof weder mit medizinischen Menschenversuchen noch mit Stoßgebeten zu heilen vermag. Auch sein Sohn Gabriel ist infiziert.

In den nördlichen Rocky Mountains begegnen wir der jugendlichen Titelheldin Little Bird, die einen verheerenden Angriff der christlichen Kreuzritter überlebt und sich nun auf eine Mission begibt: „Wir hatten einen Plan. Befreie die Axt. Rette die Menschen. Befreie den Norden. Rette die Welt.“ Weiter nichts.

Dass sich hinter der „Axt“ ihr Großvater verbirgt, der nomen est omen eine überdimensionierte Doppelaxt mit sich führt, erfahren wir zusammen mit der Protagonistin erst an späterer Stelle. Gemeinsam mit der Axt zieht Little Bird nun in den Kampf gegen die militärisch überlegenen Truppen des barbarischen Futuro-Papstes. So weit das Setting.

Das Zyklische dieser Welt visualisiert Bertram mit Kreisen, Kugeln, Schleifen – und vielleicht auch mit einem Moebiusband. (Cross Cult)

Für Science-Fiction-Fans klingt das eher konventionell, und für eine regelrechte Dystopie wird der Schreckensstaat weder in der Erzählgegenwart hinreichend differenziert ausgeleuchtet, noch in seiner Entstehung reflektiert. Die Komplexität des Comics resultiert aber nicht aus dem schlichten Setting (Gut – Böse – Showdown), sondern aus der erzählerischen Entfaltung im Detail. Vieles bleibt zunächst im Dunkeln, und so ersteht eine Welt vor unseren Augen, die in ihrer Fremdheit so irritierend daherkommt wie etwa die Science-Fiction-Welten von Moebius und Alejandro Jodorowsky („Der Incal“).

Auch grafisch liegt dieser Vergleich nicht fern: Dank der begnadeten Gestaltungskraft des amerikanischen Zeichners Ian Bertram („Bowery Boys“, „House of Penance“) erinnern die grotesk überzeichneten Figuren an Moebius sowie die blutbesudelten Körper an die Gestalten aus der Feder von Geof Darrow („Hard Boiled“) oder Rafael Grampá („Batman – Das Goldene Kind“). „Little Bird“ wie ein visueller Hybrid, wie er schöner kaum sein könnte. Dies liegt nicht zuletzt an der einfühlsamen Kolorierung von Matt Hollingsworth, der die Kälte, die Hitze und die Trostlosigkeit dieser Welt in treffende Farben verwandelt. Zu Recht wurden beide Künstler, Bertram und Hollingsworth, 2020 für Eisner Awards nominiert.

Die San Diego Comic Con, auf der traditionell mit den Eisner Awards die wichtigsten Branchenpreise verliehen werden, musste in diesem Jahr pandemiebedingt ausfallen, aber die Veranstalter haben improvisiert und die Verleihung im Juli 2020 digital durchgeführt. „Little Birds“ wurde als „Best Limited Series“ ausgezeichnet und setzte sich dabei etwa gegen „Ascender“ und „Sentient“ von Jeff Lemire durch. So viel vorweg: Auch den beiden visuellen Künstlern hätte man den Preis gegönnt.

Die Panelordnung vollzieht die Schläge der Kontrahenten nach: Wie ein tödlicher Hieb durchtrennt das Gutter die Körper der Kämpfenden. (Cross Cult)

Was das Szenario auszeichnet, ist die besondere Erzählweise von Poelgeest, der zwar mit „Little Bird“ sein Comic-Debüt vorgelegt hat, als filmischer Erzähler aber schon einige Preise gewonnen hat. „Mein Name ist Little Bird, und dies ist die Geschichte meines Lebens. Und meines Todes.“ Dass Little Birds Stimme uns trotzdem durch den gesamten Band hindurch begleitet, erklärt sich durch eine Mutation, die ihrer Familie, wenn nicht Unsterblichkeit, so doch zumindest eine Art „Wiederauferstehungskraft“ verleiht. Dies macht sie für den päpstlichen Potentaten umso gefährlicher, zumal dieser das „Auferstehen“ als Alleinstellungsmerkmal seiner Religion erachtet.

Die Welt, so binär sie auf der Horizontalen aufgebaut ist, wird von einem zyklischen Zeitverständnis beherrscht. Alles kehrt wieder: Die Menschen, die Verbrechen, sogar die Bilder wiederholen sich. Bertram setzt dieses Weltbild visuell um, indem er eine über Generationen gepflegte Uhr zum Leitmotiv erhebt oder die Jahreszeiten prominent in Szene setzt. Das herabfallende Herbstlaub fungiert als Symbol der Vergänglichkeit, aber auch als Indiz des Zyklischen.

Alles kehrt wieder, aber es ist auch alles miteinander verbunden. Bertram gelingt es, das Hybride als Norm dieser verrückten Welt zu etablieren: Menschliches und Mechanisches treffen in den modifizierten Cyborgs aufeinander. Innen und Außen werden ununterscheidbar, wenn die Menschen nicht nur ihr Herz (bildhaft) auf der Zunge oder ihre Därme (buchstäblich) über der Hose tragen. Und als Poelgeest und Bertram auch Traum und Wirklichkeit sowie Leben und Tod ihre feste Bedeutung nehmen, sind zentrale kulturell wirksame Oppositionen außer Kraft gesetzt. Hiermit provoziert das Künstlertrio durchaus und öffnet die Lektüre für religiöse, mythische oder symbolische Lesarten, die den Comic vielleicht manchmal überfordern: Ob manche Erzählelemente wie die Schnee-Eule Oki sich nicht letztlich als lose Fäden irgendwo im Nichts verlieren, wird vielleicht der zweite Band zeigen.

Die fünfteilige Serie erschien zwischen März und Juli 2019 bei Image Comics und wurde Ende Oktober von Cross Cult veröffentlicht, übersetzt von Peter Schadt. Mit „Precious Metal“ ist ein sechsteiliges Prequel geplant, das 2021 bei Image Comics und hoffentlich bald auch bei Cross Cult erscheinen wird. Dass der nächste Comic ein Schritt zurück sein wird, ist natürlich passend. Vielleicht wird dieser Kreis sich schließen.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Während die Protagonistin das Bewusstsein verliert, droht auch die Leseordnung zu schwinden: Die schmaler werdenden Spread Panels zersplittern…

… und setzen sich wieder zusammen, als Little Bird wieder zu sich kommt.