„Da sitzt das Scheusal wieder“

Das Konzerthaus Berlin, der legendäre, von Karl Friedrich Schinkel entworfene Kulturtempel am Gendarmenmarkt, feiert am 26. Mai diesen Jahres seinen 200. Geburtstag. Der Berliner Comickünstler und Illustrator Felix Pestemer, der mit seinem detaillierten, hyperrealistischen Strich schon die Alte Nationalgalerie Berlin in Comicbilder bannen durfte, erweckt in „Alles bleibt anders“ das Konzerthaus in markanten Episoden und Zeichnungen zum Leben. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags.

Lieber Felix, magst du uns eingangs ein bisschen über dich erzählen? Wie kamst du zum Comic und was macht für dich als Künstler den Reiz des Comicmediums aus?

Durch Zufall. Mit Beginn des Kunststudiums hatte ich das Zeichnen erst mal ad acta gelegt, weil ich „avantgardistische“ Kunst machen wollte: Objekt-Installation, Aktionen, Konzeptkunst… immer am Zahn der Zeit und stets im Abgleich mit der (Uni-)Szene. Doch über die Jahre wurde der Drang zum Zeichnen und zum Geschichtenerzählen immer stärker. Beim Erasmus-Austausch in Barcelona schrieb ich mich für die Illustrationsklasse ein, während ich parallel noch am Dokumentarfilm „Karlsquell“ für meine Absolventenprüfung an der UdK Berlin über die manuelle Reproduktion eines Discounter-Dosenbiers arbeitete.

Das Illustrations-Studium habe ich nie abgeschlossen, lieferte aber als Master-Arbeit fürs Kunststudium eine aufwändig illustrierte Zecken-Fabel ab (unveröffentlicht). Abgesehen von der Meisterschüler-Prüfung habe ich diese Arbeit später nur noch ein Mal gezeigt: bei der Bewerbung für ein DAAD-Stipendium in Mexiko, wo ich vorhatte, eine Serie von narrativen Zeichnungen über den Totenkult zu schaffen, die nach Vorbild der mexikanischen Muralisten ganz ohne Text auskommen sollte. Die Blätter, die später dort entstanden, enthielten mit der Zeit immer mehr Panels und sequentielle Darstellungen. Sicher liebäugelte ich damals schon damit, das Ganze in Buchform zu bringen, dachte dabei jedoch nach wie vor an den Kunst-Kontext. Dass sie fünf Jahre später Teil der Graphic Novel „Der Staub der Ahnen“ werden würden, war für mich zu dieser Zeit noch undenkbar. Aber ich hatte auf autodidaktische Weise den riesigen Werkzeugkoffer entdeckt, den das Medium Comic fürs Geschichtenerzählen bereithält.

Dein neues Buch ist der Comic/Bildband „Alles bleibt anders“, der zum 200. Geburtstag des Konzerthauses Berlin entsteht. Wie ist das Projekt zustandegekommen? Wie gut kanntest du das Konzerthaus vorher? Was hat dich an dem Unterfangen interessiert?

Felix Pestemer: „Alles bleibt anders. Das Konzerthaus Berlin und seine Geschichte(n)“.
Avant-Verlag, Berlin 2021. 88 Seiten. 25 Euro

Das Konzerthaus Berlin wandte sich 2019 mit der Idee an den Avant Verlag, ein illustriertes Buch über die 200-jährigen Geschichte des Hauses zu machen. Ich hatte mit Avant-Verlag und den Staatlichen Museen erst im Sommer 2019 eine Graphic Novel über die Alte Nationalgalerie gemacht. Da gab es schon zahlreiche inhaltliche Parallelen. Aber auch die Arbeitsweise mit historischen Quellen ein halb-dokumentarisches, halb-fiktionales Werk zu schaffen, war durchaus vergleichbar mit dem neuen Vorhaben. Insofern ist „Alles bleibt anders“ ein Folgeprojekt. Aber es war auch anders: Die Vorstellungen meiner späteren Auftraggeber*innen über das Endprodukt waren weniger konkret, sodass am Ende ein spannender Mix aus Comic-Geschichten, erzählerischen Illustrationen mit kurzen Texten und historischen Stadtpanoramen entstehen konnte. Ich ging mit ähnlich unkonkreten Vorstellungen ins erste Vortreffen. Das Konzerthaus kannte ich natürlich, wusste aber reichlich wenig darüber. Hier durfte ich schnell feststellen, dass mir die Protagonisten lagen und wenigstens 90 % der zwei Jahrhunderte Spaß versprachen, weil sie das von mir geliebte fiktionale Erzählen vor historischem Hintergrund erlaubten.

Vor dem Konzerthaus-Teil hatte ich zwar Muffensausen. Schließlich ist die jüngere Geschichte viel besser dokumentiert – einige Mitarbeiter der ersten Tage arbeiten noch heute dort –, gleichzeitig hatten die jüngsten Beiträge repräsentativen Charakter. Diese Aufgaben hob ich mir fürs Finale auf, wo sie dann bereits an Schrecken verloren hatten.

Du sprachst es ja schon an: Dein letztes Buch war eine Comicerzählung über die Alte Nationalgalerie Berlin. Jetzt durftest du als „Hofzeichner“ für eine weitere renommierte Kulturinstitution Berlins den Pinsel schwingen. Was meinst du, warum Hochkultur jetzt immer mehr den Comic für sich entdeckt? Und was bedeutet es für dich als Comiczeichner für so altehrwürdige Häuser bzw. Auftraggeber zu arbeiten?

Die Begriffe Hofzeichner und Hochkultur kommen nicht von ungefähr: In beiden Fällen geht es den Institutionen im weitesten Sinne darum „gefährdetes Kulturgut“ zu bewahren – ob klassische Musik oder Malerei. Sowohl beim Konzerthaus als auch der Alten Nationalgalerie ist das Publikum in die Jahre gekommen. Was nicht „gesampelt“ wird, droht eines Tages in Vergessenheit zu geraten. Eine Möglichkeit dem entgegenzuwirken und einen niederschwelligen Einstieg für alle zu bieten, ist sicher so ein Comic mit reich illustrierten Anekdoten. Für mich als Künstler geht es darum, aus einer riesigen Menge von Material eine (durchaus subjektive) Quintessenz herauszufiltern, mit der sich unterhaltende als auch informative Geschichten erzählen lassen.

Seite aus „Alles bleibt anders“ (Avant-Verlag)

Bevor wir in die Geschichte des Konzerthauses Berlin eintauchen, erleben wir erst mal seine Zerstörung. Deine erste Comicepisode ist aus der Sicht von E.T.A. Hoffmann erzählt, der 1817 kurz vor der Aufführung seiner Oper „Undine“ am Königlichen Nationaltheater Zeuge der Brandkatastrophe wird, bei der das Nationaltheater komplett vernichtet wird. Kannst du uns ein bisschen über den „Vorgänger“ des Konzerthauses erzählen? Warum wolltest du den Band mit seiner Zerstörung beginnen?

Das Nationaltheater von Langhans war ein gigantischer Kasten für ein großes Publikum: Hier fand Populärkultur statt. Dass es nach gerade einmal 15 Jahren in wenigen Stunden niederbrannte, bietet für sich genommen schon Stoff für Verschwörungstheorien oder eine eigene Graphic Novel. Nicht nur Goethe wollte die Hochkultur vorm Pöbel bewahren, auch Friedrich Wilhelm III. und Schinkel hatten durchaus ambivalente Rollen in diesem „Stück“. Den tragischen Helden spielte E.T.A. Hoffmann, der Jahrzehnte an seiner Oper „Undine“ gefrickelt hatte und seinen endlich real gewordenen Traum von einer Karriere als Musiker und Komponist in Flammen aufgehen sah. In einem Brief an einen Freund beschrieb er mit viel Galgenhumor, wie die gesamte Perückenkammer des Nationaltheaters buchstäblich „in die Luft“ ging. Neben meiner Verehrung für Hoffmann war es vor allem dieses Bild, die Metapher der brennenden, wie Fesselballone in den Himmel steigenden Perücken aus den Zeiten des Barock und Rokoko, das mich dazu bewog, das Buch mit der Zerstörung des Nationaltheaters zu beginnen.

Eine weitere Brücke zwischen „Im Auge des Betrachters“ und „Alles bleibt anders“ ist der Architekt, Maler und Bühnenbildner Karl Friedrich Schinkel, dem du dich deinem „Alte Nationalgalerie“-Buch prominent widmest. Er durfte für König Friedrich III. nach der Zerstörung des Nationaltheaters das Konzerthaus Berlin bauen. Was fasziniert dich so an Schinkel?

Mein Vorwissen über Schinkel, die Preußenzeit und die Berliner Stadtgeschichte, das ich mir beim Comic-Projekt für die Alte Nationalgalerie angeeignet hatte, hat mir immens bei der Arbeit an „Alles bleibt anders“ geholfen. Schon bei „Im Auge des Betrachters“ tauchte Schinkel mit seinen zahlreichen Talenten an mehreren Stellen und in unterschiedlicher Funktion auf. Im Konzerthaus-Comic verbrennt sein Bühnenbild für „Undine“ mit dem Nationaltheater, auf dessen Grundmauern er dafür dann das Schauspielhaus und spätere Konzerthaus errichten darf. (Bei der Eröffnungsfeier wurde dann freilich wieder ein Bühnenbild nach seinem Entwurf gezeigt.)

Seite aus „Alles bleibt anders“ (Avant-Verlag)

Schinkel prägte die klassizistische Bauweise wie kein anderer. Beim Neubau des Theaters musste er Ansprüchen und Wünschen von Friedrich Wilhelm III. Genüge leisten, die andere Architekten vielleicht für unvereinbar befunden hätten. Er vereinte da Stil mit komplexer Bauplanung. Manfred Prasser, der Architekt beim Wiederaufbau, bezeichnete die Arbeit seines Teams wohl nicht von ungefähr als „schinkeln“.

Herrlich ist auch dein Exkurs in die Theaterkritiker-Jahre von Theodor Fontane. Wie hast du die Verrisse ausgesucht? Und was ist deine liebste Schmähkritik?

Die Comic-Story persifliert den Status, den sich Fontane über Jahrzehnte als Theaterkritiker erarbeitete. Er selbst fasste das so zusammen: „Da sitzt das Scheusal wieder, habe ich oft in den Gesichtern gelesen.“ Beim gesamten Buch hatte ich die Unterstützung von zwei Historiker*innen, die mir Recherche-Ergebnisse zuarbeiteten. In diesem Fall hat auch der Aufbau-Verlag geholfen, der erst 2019 Fontanes über 700 gesammelte Kritiken und parallel ein handliches Best-Of veröffentlichte, dem die Ausschnitte im Comic größtenteils entnommen sind. Auf der letzten Doppelseite des Comics ging es mir darum, die „Verrissenen“ passend zur Kritik darzustellen. Mein Favorit: Adalbert Matkowskys „Einmuschelungen“ im Schoß der Kurfürstin in Kleists „Prinz von Homburg“.

Neben den fiktionalisierten Comic-Passagen hast du für das Buch prächtige Illustrationen gezeichnet, die wichtige Jahreszahlen und Ereignisse bebildern. Es war sicherlich nicht einfach, sich grafische Kompositionen auszudenken, die trotz des gleichen Settings immer wieder dynamisch und aussagekräftig wirken. Wie bist du da vorgegangen?

„Alles bleibt anders“ – das wird am deutlichsten an den sechs doppelseitigen Gendarmenmarkt-Panoramen, die durch die Darstellung des immer gleichen Bildausschnitts (mit Schauspielhaus bzw. Konzerthaus rechts und Deutschem Dom links) besonderen Fokus auf die Unterschiede in den Bildern lenken. Ich habe versucht bei diesen Zeichnungen fiktionale Szenen vor historischem Hintergrund einzufrieren. Ereignisse, involvierte Personen, Requisiten und Zustand des Platzes habe ich sorgfältig und in einem Umfang recherchiert, dass ich die Einzelillustrationen möglichst dicht und erzählerisch ausstaffieren konnte.

Beeindruckt hat mich auch die Episode um Hermann Göring und Gustaf Gründgens in voller Mephisto-Montur. Was kannst du uns über diese Passage erzählen? Warum hast du sie für dein Buch ausgesucht?

Seite aus „Alles bleibt anders“ (Avant-Verlag)

Dass Gustaf Gründgens als Mephisto im Buch auftauchen musste, stand für uns alle außer Frage. Tatsächlich war der Dialog mit Göring einer der ersten Texte, die ich für „Alles bleibt anders“ geschrieben habe. Hier war es mir wichtig über die gesamte Story hinweg die Ambivalenz des Schauspielers und späteren Intendanten und vor allem die Spannung zwischen den beiden Figuren aufrechtzuhalten. Ein Urteil über seine Rolle im Nationalsozialismus (wie z. B. in Klaus Manns Roman „Mephisto“) wollte ich bewusst vermeiden. Gründgens passive Haltung im Comic soll sowohl als Ausweichmanöver oder als Karriere-Poker mit Rückversicherung interpretiert werden können.

Mich würde auch die Recherchearbeit, die in deinem Buch steckt, interessieren. Vor allem das Kapitel „Schinkel 2.0“, in dem du zeigst, wie in den 1980ern unter der Leitung des Architekten Manfred Prasser die DDR das Konzerthaus historisch und modern zugleich aufbauen lässt, wirkt fast wie ein Dokumentarfilm. Wie hast du für die vielen Details (Stichwort: „Pegasus‘ Pobacke“) recherchiert?

Es gibt einen tollen Dokumentarfilm vom Wiederaufbau: „Schinkel neu komponiert“. Hier werden die meisten der im Comic dargestellten Gewerke und alten Techniken in Ausschnitten gezeigt und die leitenden Künstler plaudern aus dem Nähkästchen. Für das Comickapitel „Schinkel 2.0“ habe ich mir den Kunstgriff erlaubt, das alles unter dem Dach des Konzerthauses zu vereinen. So kann man Handwerkern und Künstlern quasi bei einem Rundgang durchs Haus bei der Arbeit über die Schultern schauen. Die Figuren und Dialoge sind frei erfunden. Dennoch verdeutlicht „Pegasus’ Pobacke“ etwas Wichtiges: Das Wiederaufbau-Team konnte sich seiner Aufgabe nur stellen, indem es sich alles neu aneignete – und eben nicht im Angesicht von Tiecks kupfergetriebenem Pegasus vor Ehrfurcht erstarrte.

Das Konzerthaus Berlin hat das Pech, den 200. Geburtstag im zweiten Covid-Jahr zu feiern. Die meisten der geplanten Konzerte und Aktionen fallen ins Wasser. Wie waren die letzten 12 Monate für dich als Comiczeichner?

Das exakt 200-jährige Jubiläum von der Eröffnung am 26. Mai 1821 wird (wenn überhaupt) in einem viel kleineren Rahmen stattfinden, die geplante Gala in der ursprünglichen Form fällt in der Tat ins Wasser. Zu hoffen bleibt, dass am Ende des Jubiläumsjahres das eine oder andere nachgeholt werden kann (vielleicht auch eine Buchpräsentation von „Alles bleibt anders“ inkl. Ausstellung der Originalzeichnungen).

Das Konzerthaus Berlin ist übrigens erst Ende 2019 mit dem Projekt an mich und den Avant Verlag herangetreten. Das war sportlich gedacht. Und rückblickend kann ich sogar sagen, dass ich das Buch in seiner jetzigen Ausführung ohne Covid nicht pünktlich fertig bekommen hätte. Normalerweise machen Workshops und Seminare die Hälfte meiner Tätigkeit aus. Das ist alles flachgefallen. Die so gewonnene Zeit konnte ich wahrlich gut gebrauchen!

Weißt du schon, was dein nächstes Projekt wird?

Ich interessiere mich für die Entstehung von Mythen und Legenden. In diesem Zusammenhang will ich mich mal an einer frühmittelalterlichen Abenteuergeschichte versuchen, die, von fantastischen Elementen und unglaubwürdigem Pomp befreit, dennoch das Zeug dazu hat, in Jahrtausenden des Hörensagens und der mündlichen Überlieferung zum Mythos oder zur Legende geworden zu sein.

Seite aus „Alles bleibt anders“ (Avant-Verlag)