Betrunkene Feen und mysteriöse Roadtrips

Ob zum Geburtstag oder vor Weihnachten, irgendwann stellt sich die eine Frage: Was soll man dem Nachwuchs bloß schenken? Es folgt eine kleine Zusammenstellung empfehlenswerter Comics für junge Leser*innen ab 14 Jahren.

Tillie Walden (Autorin und Zeichnerin): „West, West Texas“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara König. Reprodukt, Berlin 2019. 320 Seiten. 29 Euro. Empfohlen ab 14 Jahren

Von Katzen und Träumen

Kurzer Blick über den Tellerrand: Im Film steht kaum ein Genre so sehr für die Suche nach Freiheit und der eigenen Identität wie das Roadmovie. Kein Wunder also, dass der literarische Roadtrip längst seine Nische gefunden hat – auch im Comic. Eine solche gezeichnete Fahrt, die in diesem Fall Coming-of-Age und Coming-out in einem ist, hat Tillie Walden mit „West, West Texas“ 2019 vorgelegt. Die Erwartungen an eine der jüngsten „Eisner“-Gewinnerin sind spätestens seit „Pirouetten“ (Reprodukt) hoch. Und mit „West, West Texas“ kann Walden sie auch alle erfüllen. Stilistisch bleibt sich die junge Amerikanerin treu: feiner Strich, wenige Farben und flächige Kolorierung prägen die über 300 Seiten des Comicromans. Nur dieses Mal sind es ein paar mehr Farbtöne, die Beas und Lous gemeinsame Reise atmosphärisch in Szene setzen. Die junge Bea reißt von zuhause aus. Mitten im Nirgendwo trifft sie auf Lou, die Bea dazu einlädt, ihre Großeltern zu besuchen. Zusammen fahren sie einmal quer durch Texas. Doch als sie eine streunende Katze aufgabeln, verändert sich nicht nur die Landschaft, sie werden auch verfolgt. Es ist der Beginn eines mysteriösen Roadtrips, der die beiden jungen Frauen mit ihrer Vergangenheit und Zukunft konfrontiert. Klingt phantastisch, ist es auch. „West, West Texas“ ist einer der besten Comics 2019, den sich niemand entgehen lassen sollte. Einfach lesenswert!

Peter Mennigen (Autor); Ingo Römling, Regina Haselhorst, Simone Grünewald,
Roberta Ingranata (Zeichner*innen): „Malcolm Max: Emmeline & Miranda Finch“.
Splitter Verlag, Bielefeld 2019. 72 Seiten. 17 Euro. Empfohlen ab 14 Jahren

Von Mädchen und Mördern

Vier Künstler*innen, vier Geschichten über zwei Mädchen im viktorianischen London. Mit „Malcolm Max. Die Fälle von Emmeline & Miranda Finch“ bekommen die heimlichen Stars der Serie ihr eigenes Spin-Off. Und tatsächlich: Weder Dämonenjäger Malcolm noch Vampirhexe Charisma spielen in den von Serienschöpfer Peter Mennigen getexteten Kurzcomics eine Rolle. Dafür zeigt das Finch‘sche Geschwisterduo, was es von ihrem Nachbarn Sherlock Holmes so alles gelernt hat. Thematisch bewegt sich Mennigen weiter im Grenzbereich des Okkulten. Die zwölfjährige Emmeline und ihre vier Jahre jüngere Schwester Miranda halten stets Augen und Ohren offen und beobachten ihre Umgebung. Dabei fallen den beiden so allerhand seltsame Gestalten auf: ein kopfloser Reiter, ein mehrfacher Frauenmörder, ein gar nicht so untoter Vampir und eine Gruppe von sehr menschlichen Kanalratten. Neugier und Schläue sorgen dafür, dass die Schwestern sich zwar in allerlei Schwierigkeiten hineinmanövrieren, dabei aber nie den Kopf verlieren. Und natürlich finden die zwei Hobbydetektivinnen sehr schnell heraus, welche menschlichen Abgründe sich hinter dem scheinbar Übernatürlichen verbergen. Für den Band haben Mennigen und Römling eine illustre und bekannte Schar von Künstlerinnen gewinnen können. Regina Haselhorst („Mädchencomics“, Zwerchfell), Roberta Ingranata (u. a. „Witchblade“, Image Comics) und Simone Grünewald („Deponia“-Reihe, Daedalic Entertainment) durften die Abenteuer der Mädchen in ihrem jeweils eigenen Stil illustrieren. Das ist nicht nur schön anzuschauen, sondern schreit auch geradezu nach einer Fortsetzung. „Malcolm Max. Die Fälle von Emmeline & Miranda Finch“ ist auf jeden Fall eine bezaubernde Ergänzung zur Steampunk-Hauptreihe – und zeigt einmal mehr, dass die Kleinsten oft die Größten sind.

Frauke Berger (Zeichnerin), Boris Koch (Autor): „Die Schöne und die Biester. Splitter Verlag, 2020. 72 Seiten. 17 Euro. Empfohlen für Fans skurriler Märchen

Betrunkene Fee, gefangene Tauben

Welche Zutaten braucht ein Märchen? Einen Helden, einen Schurken, einen Konflikt – und eine gute Fee mit einer ebenso guten Prophezeiung. Die Fee in Boris Kochs und Frauke Bergers Kunstmärchen „Die Schöne und die Biester“ ist allerdings sternhagelvoll als sie das Orakel spielt, und wirklich erbaulich ist die Botschaft auch nicht. Zur Geburt von König Siegbarts lang erwartetem Thronerben prophezeit sie, dass dessen Herrschaft endet, sobald eine Taube dem Prinzen drei Mal auf den Kopf… Na, Sie wissen schon. Siegbart mit seinen Allüren, die Heinrich VIII. gefallen hätten, auch wenn hier die Ex-Ehefrauen nur verbannt und nicht geköpft werden, fällt die einzig richtige Entscheidung: Alle Tauben gehören hinter Gitter oder getötet. Jahre später ist es an der jungen Bäckerstochter Hänfling, dem Treiben des Königs und der Rebellen im Untergrund ein Ende zu setzen. Heldin, Schurke, Konflikt, gute Fee, alles da und dennoch ist „Die Schöne und die Biester“ eben „kein Märchen“, wie der Untertitel verrät, sondern ein vergnüglicher Taubenflug durch die Märchenklischees. Für Boris Koch („Dornenthron“, Knaur) ist es nach seinem Kurzausflug ins „Die Toten“-Universum sein erstes längeres Comicabenteuer, für Frauke Berger nach ihrem Debüt „Grün“ (Splitter Verlag) die erste Zusammenarbeit mit einem Genre-Autor. Eine gelungene Kreativleistung, bei der es Berger mit ihrem feinen Strich und den gedeckten Farben schafft, eine wahrlich skurrile Märchenwelt zu erschaffen. Für Fans ebensolcher Märchen ein großes, wenn auch eher kurzweiliges Vergnügen.

Regis Hautière (Autor), Adrián (Zeichner): „Die Waise von Perdida“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 112 Seiten. 22 Euro. Empfohlen ab 14 Jahren

Höllischer Planet

Stefan Wul zählt zu den bekanntesten französischen Science-Fiction-Autoren. Hierzulande sind die Bücher des gelernten Zahnarztes jedoch nur selten übersetzt worden. Dafür dürfte die Wahrscheinlichkeit hoch sein, dass Phantasten die Zeichentrickfilme „Der wilde Planet“ (1973) und „Herrscher der Zeit“ (1982) kennen. Letzterer basiert auf dem Roman „L’Orphelin de Perdide“ (1958), „Die Waise von Perdida“. Wie auch andere von Wuls Erzählungen, etwa die Postapokalypse „Niourk“ (All Verlag), wurde auch die Geschichte des Waisenkindes als Comic adaptiert. Dafür verantwortlich waren in diesem Fall Szenarist Regis Hautière („Aquablue“, „Conan der Cimmerier: Aus den Katakomben“, beide Splitter) und Zeichner Adrián („Wakfu Heroes“, Ankama). Inhaltlich orientieren sich die beiden nahe an Wuls Roman: Der Schmuggler Max möchte schleunigst zurück nach Perdida reisen, um Claudi, den Sohn seiner Freunde, zu retten. Damit Claudi eine Chance hat zu überleben, erhielt er von seiner Mutter eine Art interstellaren Kommunikator in Form eines Eis, mit dem er sich mit Max unterhalten kann. Doch auf dem Weg zurück nach Perdida müssen Max und die Passagiere auf seinem Raumschiff mehr als nur ein abenteuerliches Manöver fliegen. Wer auf ein SF-Abenteuer im Stil von „Herrscher der Zeit“ und Moebius gehofft hat, wird nun enttäuscht sein. Adriáns Interpretation ist knallbunt und definitiv ein Kind unserer Zeit. Doch das Erscheinungsbild täuscht: „Die Waise von Perdida“ ist – genauso wie die Verfilmung aus den 1980ern – alles andere als kindgerecht und daher nur etwas für ältere Teenager, die die Wendung am Ende auch verstehen. Davon abgesehen hat Wuls Geschichte vom Guten und Bösen im Menschen bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Eine Interpretation, die eines Klassikers durchaus würdig ist.

Diese Beiträge erschienen zuerst in den Ausgaben 78, 79 und 81 der „phantastisch!“. „phantastisch!“ – das Magazin für Science Fiction, Fantasy & Wissenschaft erscheint alle drei Monate im Atlantis Verlag.

Sonja Stöhr schreibt seit rund zehn Jahren über phantastische Literatur. Ganz besonders angetan haben es ihr Geschichten für große und kleine Leser. Beiträge von ihr erscheinen regelmäßig in der „phantastisch!“ und auf diezukunft.de.