Zeigen, was ist

Bild aus Boris Golzios „Die Geschichte von Francine R. – Widerstand und Deportation“ (Avant-Verlag)

Pontain L’Ecluse. Ein Ort mitten in Frankreich, nicht gerade der Nabel der Welt, aber ein herrlicher Ort, seine Kindheit zu verbringen, in den Feldern und am Ortsrand, zwischen Schule und Elternhaus, damals zu Beginn der 40er Jahre. Und so ist es auch für die 13-jährigen Freunde François und Eusèbe – bis zu dem Tag, an dem die deutschen Truppen ins Dorf einmarschieren. François und Eusèbe hassen sie: „Die sollen nur nicht glauben, sie seien die großen Sieger.“ Sie beginnen also kleine Aktionen, Flugblätter mit der Kinderdruckerei gefertigt, Sabotageakte, deren Folgen sie gar nicht abschätzen können. Kurz darauf schließt sich ihnen auch Lisa an. Angeblich ist sie aus Belgien geflohen, aber die Sache ist natürlich komplizierter. Aus den anfänglichen Abenteuern der kleinen Dreierbande wird immer mehr Ernst. Man kommt mit der Résistance der Erwachsenen in Kontakt. Aber auch mit dem Wirken der Kollaborateure. Und bald gibt es die ersten Todesopfer, als sich die Deutschen mit „Repressionen“ an den Menschen rächen, die sich ihnen widersetzen. Repressionen, das heißt willkürliche Erschießungen. Heranwachsen im Widerstand, das heißt auch, nächste Verwandte zu verlieren oder durch unachtsame Worte die engsten Freunde zu gefährden.

Benoît Ers (Zeichner). Vincent Dugomier (Autor): „Die Kinder der Résistance 1: Erste Aktionen“.

Aus dem Französischen von Mathias Althaler. Bahoe Books, Wien 2020/2021. Je 60 Seiten. Je 16 Euro

Dies alles ist erst der Anfang einer auf sechs Bände angelegten Saga von den „Kindern der Résistance“, geschrieben von Dugomier (das ist der Szenarist Vincent Lodewick) und gezeichnet von ERS (das ist Benoît Ers), beide aus Belgien stammend und „alte Hasen“ und als Team im Umfeld der Zeitschrift „Spirou“ erprobt. Ihr Erzählstil entspricht denn auch der Comic-Kunst dieser Schule der realistisch-humoristischen Abenteuergeschichten à la „Spirou und Fantasio“, das heißt in einer liebevollen Nähe zu den Figuren (mit all ihren kleinen Schwächen), einer fundamentalen Ablehnung von Autorität und Anmaßung und einer schönen Genauigkeit in den Details. Nur eben, dass es diesmal nicht um fantastische Abenteuer- und Alltagsgeschichten geht, sondern um die wirkliche Geschichte von Besatzung und Widerstand. Jedem der sechs Bände ist ein historisch-dokumentarischer Appendix beigegeben, der das Wissen um diese Zeit vertieft. Vor allem aber geht es darum, jungen Menschen in Erinnerung zu rufen, was faschistische Besetzung und der Mut zum Widerstand bedeutet haben.

Matteo Mastragostino (Autor), Alessandro Ranghiasci (Zeichner): „Primo Levi“.
Aus dem Italienischen von Georg Fingerlos. Bahoe Books, Wien 2019. 128 Seiten. 19 Euro

Als Pendant und Begleitung lässt sich der Band „Primo Levi“ verstehen, geschrieben von Matteo Mastragostino und gezeichnet von Alessandro Ranghiasci. Wo uns Dugomier und Ers durch eine stimmungsvolle Kolorierung in ein Kinder-Idyll hineinziehen, das auf so brutale und immer wieder verräterische Weise gestört wird, ist man hier mit geradezu schroffen, expressiven Schwarz-Weiß-Zeichnungen konfrontiert, die das Leben, Überleben, Sterben in einem Konzentrationslager wiedergeben, wie es Primo Levi in seinen Büchern geschildert hat. In der Rahmenhandlung tritt er in einer Schulklasse auf, um Zeugnis abzulegen: „Wenn Verstehen unmöglich ist, dann ist Wissen notwendig, denn was geschehen ist, könnte zurückkehren.“ In dieser Rahmenhandlung wird erkennbar, wie aus anfänglicher Ignoranz oder falschen Erwartungen (als müsste ein Résistance-Kämpfer einem Action-Helden gleichen) erst über die Erzählung das allmähliche Verstehen, ein wenig auch das Entsetzen bei den jungen Zuhörern wächst.

Seit dem weltweiten Erfolg von Art Spiegelmans „Maus“ wird die Graphic Novel, das Medium Comic, als Mittel von Reflexion, Erinnerung und Aufklärung über die Zeit des Nationalsozialismus und die Verbrechen, die in seinem Namen geschehen sind, weitgehend akzeptiert. Viele Arbeiten, die danach in diesem Medium entstanden, richteten sich an Erwachsene, die ein gewisses Hintergrundwissen mitbringen oder mit komplexeren Gestaltungsformen fertig werden. Aber in den letzten Jahren haben sich die Autor*innen besonders mit den Möglichkeiten beschäftigt, die jüngsten Leserinnen und Leser zu erreichen. Dazu gehören etwa Comic-Biografien wie die von Sophie Scholl oder Hannah Arendt. Eine besondere Form wählt die grafische Biografie von „Charlotte Salomon“, die Geschichte der jungen jüdischen Künstlerin, die von den Nazis ermordet wurde und ein künstlerisches Tagebuch hinterlassen hat, das die Zeit zwischen 1940 und 1942 auf 1.325 Seiten umfasst, bis sie nach Auschwitz kam und dort am ersten Tag umgebracht wurde. In ihrem Tagebuch verband Charlotte Salomon Zeichnungen, Gouachen, Texte und Dokumente. Die Comic-Künstler nun nutzen die Techniken der Verfasserin und übertragen sie in ihr Medium, und was schon selbst eine Form von „grafischer Erzählung“ hatte, verwandelt nun auch das Medium, das seine klassischen Anordnungen (Bild nach Bild und Bild an Text) überschreitet. Besser kann man den Respekt vor seinem Gegenstand und die große Trauer kaum ausdrücken: Mehr als die Literatur und der Film kann uns das Medium der grafischen Erzählung zum Mit-Leiden und andersherum auch zum Mit-Kämpfen verführen.

Boris Golzio: „Die Geschichte von Francine R. – Widerstand und Deportation“.
Aus dem Französischen von Cartsen Hinz. Avant-Verlag, Berlin 2021. 136 Seiten. 24 Euro

Was dies anbelangt, ist der große Comic-Roman „Die Geschichte von Francine R. – Widerstand und Deportation“ von Boris Golzio als Meisterwerk zu empfehlen. Es ist gewissermaßen eine Übertragung von „oral history“ ins Medium der grafischen Erzählung und gibt dementsprechend in der ersten Person die Geschichte einer tapferen Frau wieder, der Arbeiterin Francine, die wegen ihrer Verbindung zum Widerstand von der Gestapo verhaftet wird. Auch ihre Geschichten sind voller Abenteuer und Schrecken und verweisen auf Einzelheiten des historischen Hintergrunds. Doch wird hier nicht aus der Perspektive des nachträglichen Wissens erzählt; der Autor hält sich streng an die Regel, nur das wiederzugeben, was Francine selber mitteilt. Zusammen mit den stimmungsvoll stilisierten Bildern, die immer wieder eine Vogelperspektive einnehmen, um etwa das furchtbare System des Konzentrationslagers Ravensbrück zu zeigen, ergibt dies eine sehr eigene Form der Erfahrung. Man erkennt beim Lesen nach und nach das System der Unmenschlichkeit und der Entwürdigung – und nichts davon wird ausgespart.

Philippe Collin (Autor), Sébastien Goethals (Zeichner): „Die Reise des Marcel Grob“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 192 Seiten. 29,80 Euro

Sozusagen auf die andere Seite wechselt die Perspektive in „Die Reise des Marcel Grob“ von Philippe Collin und Sébastien Goethals, die (wahre) Geschichte des Elsässers, der in die Waffen-SS eingetreten war und bei den „Repressalien“ von Marzabotto mitgemacht hat. Dort war er im Alter von 17 Jahren an der Erschießung von 770 unschuldigen Zivilisten beteiligt. Bis kurz vor seinem Tod hat er über die Teilnahme geschwiegen, bis er endlich seinen Enkeln davon erzählte. Das Werk konzentriert sich auf die psychische Belastung des Jungen, der dem Druck auf sich selbst und der Bedrohung der Familie nicht standhielt. Und in dem Verhör des alten Mannes, das den Rahmen abgibt, kommt die Frage auf: Wie hättet ihr euch verhalten?

Graphic Novels oder Comics sind ein probates Mittel der Aufklärung und der Erinnerungskultur, wenn sie artistisches Können und Bewusstsein miteinander verbinden. Diese Arbeit von Erinnerung und Widerstand für ein junges Lesepublikum ist umso wichtiger, als die extreme Rechte derzeit auch das Medium Comic als Propaganda-Instrument entdeckt und rechtspopulistische Politiker die Schrecken des Faschismus öffentlich als „Fliegenschiss“ bezeichnen dürfen. In den besten Beispielen aber geht es nicht nur darum, das Medium Comic zu „benutzen“, als vielmehr alle seine Möglichkeiten und seine ästhetische Offenheit an diesem Thema zu erproben. Die Comics verändern die Erinnerungskultur, gewiss, aber die Erinnerung an Faschismus und Widerstand verändert auch das Medium Comic. Bei den erwähnten Beispielen – und es gibt noch eine Reihe weiterer guter (und auch ein paar nicht so gute) – spielt das Erwachsenwerden mit der Erinnerung und mit dem Bewusstwerden eine wichtige Rolle neben der Information und neben der Trauer. Kaum irgendwo als in Comics zum Thema Faschismus und Widerstand kann man so genau erkennen, wie eng Ästhetik und Ethik miteinander verbunden sind.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Freitag 14/2021

Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände), Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände), Liebe und Sex im 21. Jahrhundert. Streifzüge durch die populäre Kultur. Ende August erscheint von ihm „Coronakontrolle. Nach der Krise, vor der Katastrophe“ bei Bahoe Books.