„Viele Erwachsene können sich in jugendliches Denken nicht mehr hineinversetzen“

Der Jugendcomic „Völlig meschugge?!“ behandelt die Themen Mobbing und vor allem Antisemitismus an der Schule und entstand nach einem Drehbuch von Andreas Steinhöfel, Klaus Döring und Adrian Bickenbach. Das ZDF hat aus dem Stoff eine gleichnamige sechsteilige TV-Serie für den KiKa gemacht, die immer noch in der Mediathek zu sehen ist. Aus den Drehbüchern haben der Erich-Kästner-Preisträger Andreas Steinhöfel („Rico und Oskar“) und die Berliner Illustratorin Melanie Garanin, die 2020 mit „Nils“ debütierte, eine lebensnah erzählte Graphic Novel für Jugendliche gemacht. Gewalt zwischen Jugendlichen, antisemitische Vorurteile, überforderte Lehrer*innen und Eltern – all das packen Garanin und Steinhöfel in eine zeitlose Freundschaftsgeschichte. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Carlsen Verlags.

Lieber Andreas, bei vielen Autor*innen und Künstler*innen haben die ersten Corona-Jahre, inkl. der Lockdown-Monate, für einen Kreativitätsschub gesorgt. Wie war das bei dir? Wie hast du die Lockdown-Phase verbracht?

Andreas Steinhöfel: Hier auf dem Land war es gut auszuhalten. Ich wohne direkt am Wald und konnte mich jederzeit, begleitet von meinem Hund, in die Büsche schlagen. Die Atmosphäre insgesamt war natürlich trotzdem übel. Am meisten nervt mich, wie unüberlegt Kinder von uns Erwachsenen häufig in Angst versetzt wurden und immer noch werden. Darüber würde ich gerne etwas schreiben, aber da käme vermutlich nur depressives Zeugs bei raus. Für die Kids sollte es lieber etwas Ablenkendes, Lustiges ein, aber dafür bin ich nicht in passender Stimmung.

Könntest du uns erzählen, wie es zu der Idee von „Völlig meschugge?!“ kam? Was hat dich dazu veranlasst, eine Geschichte über Ausgrenzung und Mobbing und speziell Antisemitismus an Schulen zu schreiben?

Vor einigen Jahren haben mein Firmenpartner Klaus Döring und ich die TV-Serie „Dschermeni“ geschrieben und auch co-produziert, eine Story über Flüchtlingskinder. Der beauftragende Sender war seinerzeit das ZDF, und da die Serie sehr erfolgreich war, fragte man nach einer Art Fortsetzung. Wir wollten dann etwas zum – leider stets präsenten – Thema Mobbing machen, das ZDF sattelte den Antisemitismus obendrauf. Wir waren da zunächst skeptisch. Das ist ein komplexes Thema, es werden viele Fragen berührt, die politisch überkorrekte Naturen gerne ausblenden. Entsprechend kontrovers – dabei aber immer konstruktiv – gestaltete sich das inhaltliche Ringen um den Stoff zwischen der Redaktion, uns Produzenten und Autoren.

„Völlig meschugge?!“ erzählt von zwei Arten des Antisemitismus: Man hat den mit dem Nahost-Konflikt verbundenen Antisemitismus, der sich oft als Kritik an Israel tarnt. Diese Art von Antisemitismus sickert durch Hamids Bruder in die Erzählung ein und vergiftet die Freundschaft zwischen ihm und Benny. Und dann den diffuseren, westlichen Antisemitismus, der im Buch von Lennart und seiner Clique ausgeht und Juden als „das Fremde“ diffamiert und ausschließt. Könntest du uns etwas über die verschiedenen Ressentiments erzählen?

Jede Geschichte lebt vom Konflikt. Es gibt Geschichten, die von äußeren Konflikten erzählen und andere, die erzählen von inneren. Mit unserer Geschichte haben wir beides vereint: Da gibt es einerseits den historisch gewachsenen Nahost-Konflikt, dessen Wurzeln (wie bei uns von Hamid und besonders seinem Bruder Raduan) nicht mehr hinterfragt werden – die Rollen und Feindbilder sind fest verteilt, gegenseitige Vorurteile fest zementiert. Auf der anderen Seite stehen singuläre Figuren wie Jasmin oder Lennart, in deren Leben wir kurze Einblicke gestatten und wo klar ist: Die kämpfen eher mit sich selbst, projizieren aber ihre innere Konflikte auf andere Menschen, die sie als noch schwächer empfinden als sich selbst. Das ist ja der Kern jedes Mobbings – die Täter waren oder sind immer auch Opfer.

Du hast die Drehbücher zu „Völlig meschugge?!“ zusammen mit Adrian Bickenbach und Klaus Döring geschrieben. „Völlig meschugge?!“ habt ihr direkt fürs Fernsehen entwickelt, ohne Buchvorlage. War es ungewohnt für dich, direkt fürs Drehbuch und den Regisseur zu schreiben? Wie lief die Zusammenarbeit mit Klaus Döring ab?

Drehbücher schreibe ich ja schon seit 25 Jahren, ungewohnt ist daran also nichts. Die Arbeitsteilung war so: Klaus und ich haben – wie fast immer bei unseren Filmprojekten – die gesamte Story konzipiert, entwickelt und eine Pilotfolge geschrieben. Adrian haben wir dann zum Schreiben dazugeholt, weil ich mit dem fünften Band meiner Rico-und-Oskar-Reihe beschäftigt war. Die von Klaus und Adrian verfassten Bücher habe ich dann dramaturgisch – was aber nur minimal nötig war – bearbeitet und bin zuletzt dann tief in die Dialoge rein, damit sie den Steinhöfel-Ton kriegen.

Wie kam es zu der Entscheidung, aus den Drehbüchern mit Melanie Garanin eine Graphic Novel für Jugendliche zu entwickeln? Worin lag für dich der Reiz, die Geschichte noch in diesem Medium zu erzählen?

Ich weiß nicht mehr genau… Irgendwann war die Idee einfach da, einen so guten Stoff auch in Buchform anzubieten. Nur schreiben wollte ich ihn nicht; ein Drehbuch nachzuerzählen ist wenig aufregend und zudem sehr zeitaufwendig. Klaus und ich überlegten dann, die sehr visuelle Geschichte weiterhin visuell zu erzählen – also als Comic – und dabei die Möglichkeit zu nutzen, Schwerpunkte zu verschieben oder auch Dinge auszusprechen, die in der TV-Serie keinen Platz gefunden hatten. Und dann hat der Himmel mir Melanie Garanin geschickt…

„Völlig meschugge?!“ erzählt nicht nur von Freundschaft und Konflikten zwischen den elfjährigen Protagonisten, sondern auch von den Erwachsenen – den Lehrer*innen und Eltern. Und die machen oft keine gute Figur. Ihr habt für eure Geschichte auch mit Betroffenen und Expert*innen gesprochen. Was machen Erwachsene bei Mobbing-Vorfällen, speziell mit rassistischem/antisemitischem Hintergrund, falsch, und gibt es eine Botschaft an Erziehungsberechtigte, die in „Völlig meschugge?!“ steckt?

Viele Erwachsene können sich in kindliches oder jugendliches Denken und Fühlen nicht mehr hineinversetzen. Sie erwarten vom Kind, dass es einen Konflikt auf erwachsene – in der Regel also sehr rationale – Art und Weise löst. Aber junge Menschen erleben Konflikte höchst emotional und extrem subjektiv, Appelle an die Vernunft fallen da selten auf fruchtbaren Boden. Hinzu kommt, dass manche Erwachsene – aus eigener Hilflosigkeit – sich für Probleme lediglich Symbollösungen ausdenken. Da soll es dann halt, wie von uns in „Völlig meschugge?!“ angerissen, die Klassenfahrt in ein ehemaliges Konzentrationslager richten. Super Idee – aus der einen emotionalen Überforderung in eine weitere, neue, die zum eigentlichen Konflikt der Schüler keinerlei Bezug hat.

Hast du für die Zukunft noch weitere Comicprojekte vor? Auf was dürfen wir uns noch freuen?

Tatsächlich wäre da was… Vor Jahren habe ich eine sehr komplexe Fantasy-Story angefangen, einige hundert Seiten weit, die ich aber vermutlich nie zu Ende schreiben werde. Die Geschichte ist fertig entwickelt und würde sich visuell auch großartig machen. Allerdings habe ich bei Melanie gesehen, wie abartig hoch das Arbeitspensum für eine Graphic Novel ist. Aber gut – vielleicht findet sich ja trotzdem ein Irrer, der Lust darauf hat.

Liebe Melanie, 2020 ist bei Carlsen dein erster Comic erschienen, „Nils“ – eine aufwühlende Erzählung, in der du den Tod deines jüngsten Sohnes aufarbeitest. Warum hast du dich für das Comicmedium entschieden, um diese so persönliche und schmerzhafte Geschichte zu erzählen?

Melanie Garanin: Es ist nicht so, dass ich einen Comic zeichnen wollte und dann „Nils“ gemacht habe, sondern andersrum: Ich wollte die Geschichte erzählen und keine Erzählform eignete sich dafür besser als die des Comics, der Graphic Novel. Vielleicht wäre ich sonst nie beim Comic gelandet. Ich hatte keine bestimmte Zielgruppe im Hinterkopf. Sehr unbescheiden möchte ich sagen, es ist ein Kunstwerk, denn ich habe es vor allem gezeichnet, weil ich es ganz dringend wollte. Die Möglichkeiten und Wege, die sich daraufhin für mich ergeben haben, sind ein großes Geschenk.

Wie ist es zu der Zusammenarbeit mit Andreas Steinhöfel gekommen? Kanntest du ihn schon von früheren Projekten?

Meine Lektorin, mit der ich Nils“ gemacht habe, fragte mich, ob ich Lust hätte, das Buch zu zeichnen. Gerade fertig mit meinem ersten war das eine gute Idee, fanden wir beide. Noch einen Comic, diesmal ganz anders. Eine gute Chance, direkt weiterzuarbeiten, ohne in dieses After-Work-Loch zu fallen. Andreas Steinhöfel habe ich persönlich erst dann kennengelernt.

Was hat dich an „Völlig meschugge?!“ angesprochen?

Ich habe keinen einzigen erhobenen Zeigefinger in der Geschichte gefunden.

Wie gingst du dabei vor, aus den Drehbüchern von Andreas, Klaus Döring und Adrian Bickenbach ein Comicszenario zu entwerfen? Welche Rolle spielte Andreas bei der Adaption?

Andreas schlug vor, für den Comic die Erzählperspektive zu wechseln, sodass wir nicht aus der Sicht Hamids, sondern aus Charlys Blick auf das Ganze gucken. Er markierte die Stellen, an denen er gern den Text für sie ändern und erweitern wollte. Ich bin eigentlich Szene für Szene durchgegangen und habe geschaut, wie ich die in möglichst wenige Seiten gepackt kriege.

Schön war, dass ich gerade zu Beginn auch Einblick in die Produktion der Serie bekam. Fotos von Drehorten und so. Gerade bei der Schule und dem Skaterpark habe ich mich etwas daran orientieren können. Außerdem durfte ich das Casting mitverfolgen. Wer wen spielt. Und daran die Charaktere entwerfen.

Wie lief die Zusammenarbeit mit Andreas ab? Hattest du freie Hand in der Adaption oder hat Andreas an der Geschichte mitgeschrieben? Wie sah es mit der kreativen Freiheit bei der grafischen Neu-Interpretation der Figuren aus?

Von Anfang an haben mir alle gesagt: Mach, wie du willst. Ein Glück! Am Anfang haben wir natürlich ein bisschen besprochen, der Text war ja in Drehbuchform schon da, ich habe da eigentlich nichts hinzu geschrieben und gebe zu, ich habe im intensiven Zeichenprozess einfach mein Ding gemacht. Ohne viel nachdenken. Andreas musste sich dann wohl oder übel zum Schluss mit seinem Text an meinen Bildern orientieren. Wir hatten auch nicht viel Zeit… Glücklicherweise ist er ja ein Meister seines Fachs. Die Freiheit, die ich hatte und das Vertrauen, dass das schon gut werden wird, waren der Schlüssel, dass dieses Buch überhaupt fertig wurde. Beste Zusammenarbeit, wenn es harmoniert, ohne dass es Arbeit ist.

In der Comicversion wird die elfjährige Charlie zur Protagonistin und Erzählerin. Warum hast du dich entschieden, im Comic Charlie diese zentrale Rolle zuzuweisen?

Wie gesagt war das Andreas Idee. Mir kam die sehr gelegen, denn ich kann mich am besten in Charly reinversetzen. Nicht nur, weil sie ein Mädchen ist oder Vegetarierin oder wegen der gelben Gummistiefel…

Hamid, neben Charlie und Benny, der Dritte im Freundschaftsbunde, ist ein begnadeter Zeichner und dokumentiert (nicht unähnlich zu dir und deinem Blog) den Alltag in Manga-Zeichnungen. Für den Manga-Part hast du dir Hilfe von dem bekannten Berliner Zeichner David Fülecki geholt.

Ich habe versucht, im Mangastil zu zeichnen, ehrlich! Und bin kläglich gescheitert. Mir sind eine Tonne Steine vom Herzen gefallen, als klar war, dass David die Mangas zeichnen wird. Beziehungsweise vorzeichnen wird, denn ich habe sie ganz am Ende dann doch noch eiskalt abgepaust, damit sie sich ins Buch einfügen.

Meine Lektorin möchte nicht, dass ich das sage, aber es wirkte seltsam, dass der von mir gezeichnete Hamid besser zeichnet als ich. So musste ich Davids perfekten Mangas meine Schludrigkeit verpassen. Ich werde ihm ewig dankbar sein und alle Leser auch, dass ihnen meine Mangakünste erspart blieben.

Arbeitest du schon an deinem nächsten Comicprojekt?

Oh, nein. Für das nächste Comicprojekt nehme ich mir ein bisschen Zeit. Aber ich habe einen kleinen, sehr sehr feinen Stapel Projekte auf dem Schreibtisch, der mich die nächste Zeit gut beschäftigen wird. Alles nur vom Feinsten, ich freue mich sehr drauf!

Andreas Steinhöfel (Autor), Melanie Garanin (Zeichnerin): „Völlig meschugge?!“. Carlsen Verlag, Hamburg 2022. 288 Seiten. 20 Euro